Aktuelle Urol 2014; 45(05): 342-344
DOI: 10.1055/s-0034-1393911
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Blasenekstrophie – Einzeitige Korrektur: Vorteil oder nicht?

Rezensent(en):
Elke Ruchalla

Urology 2014;
83: 1139-1144
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. Oktober 2014 (online)

 

Bei dem „klassischen“ mehrzeitigen Verschluss bei Kindern mit Blasenekstrophie nach Jeffs und Gearhart erfolgt zunächst der Verschluss der Harnblase 1–2 Tage nach der Geburt, in weiteren Sitzungen folgen, abhängig von der Blasenkapazität, eine Blasenhalsrekonstruktion und ggf. die Neueinpflanzung der Ureteren; mehrfache Korrekturen können notwendig werden. Dem gegenüber steht das einzeitige Verfahren des Complete primary repair of bladder exstrophy (CPRE), wie es Grady und Mitchell 1999 vorgestellt haben. Allerdings mehren sich hier die Publikationen, dass insbesondere dieses Verfahren im Langzeitverlauf nicht unproblematisch ist.
Urology 2014; 83: 1139–1144

mit Kommentar

Die einzeitige, primäre, komplette Korrektur einer Blasenekstrophie in der Technik nach Mitchell führt zu einer neurogenen Blase mit fehlender Aktivität des Detrusors, da durch das intraoperative Vorgehen die Nervenfasern des zur Blase ziehenden Reflexbogens irreversibel geschädigt werden. Das meint Hrair-George Mesrobian vom Medical College and Children’s Hospital in Milwaukee, der seine Erfahrungen mit der Technik vorstellt.

Der Autor hat mit seinem Team insgesamt 6 Patienten nach diesem Verfahren operiert, 4 Jungen und 2 Mädchen. Über einen Nachbeobachtungszeitraum von 2–8 Jahren (im Median 5 Jahre) konnten 4 Patienten ein gewisses Ausmaß an Kontinenz erreichen (mindestens 1 h ohne unwillkürlichen Urinabgang während des Tages). Bei 3 Patienten war eine Miktion nur über die willkürliche Anspannung der Bauchmuskulatur („Bauchpresse“) möglich, bei einem war ein katheterisierbares Stoma zur Blase angelegt worden.

Bei den 3 Patienten mit willkürlicher Miktion wurden mindestens 2 Blasen-Scans durchgeführt, und in allen Fällen zeigte sich ein abgeflachtes Urinflussprofil, mit Restharnmengen zwischen 30 % und 50 % des Miktionsvolumens. Weiterhin kam es häufig zu fieberhaften Harnwegsinfekten (2–12 pro Jahr), allerdings wurden sie seltener, wenn die Kinder die Miktion über Bauchpresse beherrschen lernten.

In der Bildgebung wiesen alle Kinder einen vesikoureteralen Reflux auf, bei 4 von ihnen wurde wegen der rezidivierenden Harnwegsinfekte eine beidseitige Ureter-Neueinpflanzung vorgenommen, in 3 Fällen zusammen mit einer Blasenhalsrekonstruktion. Darunter kam es zu einer weitgehenden Rückbildung des Refluxes.

Detrusorkontraktionen bei keinem Patienten nachweisbar

Bei 5 Patienten erfolgte eine urodynamische Untersuchung, in 3 Fällen nach Blasenhalsrekonstruktion. Dabei fand sich eine Urinleckage um den Katheter bei Druckwerten zwischen 28 und 47 cm H2O, wobei nur ein Patient Drucke über 40 cm H2O erreichte. Detrusorkontraktionen konnten in keinem Fall nachgewiesen werden. Die Blasenkapazität lag zwischen 45 ml im Alter von 2 Jahren und erreichte bei einem 7-Jährigen 200 ml; entsprechend 25 % bis 70 % der alterskorrigierten Normalwerte (Median: 60 %).

Bei einer Durchsicht der Literatur fanden sich 68 Publikationen zu der einzeitigen Korrektur der Blasenekstrophie nach Mitchell, aber in keinem Fall wurde über eine Aktivität oder Hyperaktivität des Detrusors berichtet. Diese fehlende Detrusorkontraktion führt Mesrobian auf die Operationstechnik zurück, bei der die Blase, der Blasenhals und die proximale Harnröhre radikal mobilisiert und nach posterior ins Becken hinein verlegt werden. Bei dieser radikalen Mobilisierung werden nach seiner Ansicht die Fasern der Nn. perineales und des Plexus hypogastricus inferior, die die Blase, den Sphincter externus und die proximale Harnröhre versorgen, überdehnt bzw. starken Scherkräften ausgesetzt, was letztlich zur irreversiblen Zerstörung der zugehörigen Nervenzellkörper führt.

Fazit

Die einzeitige komplette Korrektur der Blasenekstrophie (CPRE) kann zu einer Hypo- bzw. Inaktivität des Detrusors führen, die durch intraoperative Scherverletzungen der zuständigen Nervenfasern entsteht. Zukünftig sollten nervenschonende Techniken entwickelt werden, die langfristig erfolgreich sind, da viele der Betroffen heute das Erwachsenenalter erreichen.


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Kommentar

Alarmierende Daten

Das von Grady und Mitchell im Jahre 1999 vorgestellte Konzept der einzeitigen primären Blasenekstrophierekonstruktion im Neugeborenenalter (Complete primary repair of bladder exstrophy = CPRE) galt zunächst als eine besonders anatomiegerechte und damit möglicherweise auch langfristig effektivere Alternative zu den etablierten mehraktigen Verfahren. Bereits nach wenigen Jahren mehrten sich jedoch die Berichte über gravierende Komplikationen bis hin zum kompletten Penisverlust als Folge dieser Rekonstruktionstechnik.

In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2005 von Gearhart [ 1 ] werden in erster Linie Gefäßschädigungen durch die komplette Mobilisation im Bereich der proximalen Harnröhre (complete disassembly), aber auch die blasenhals- und urethranahe Weichteilmobilisation („Aggressive proximal dissection along each side of the urethra and deep incision of the intersymphyseal ligament posterior to the urethral plate allow the bladder to achieve a posterior position in the pelvis.“ [ 2 ]) für diese Komplikationen verantwortlich gemacht.

Hohe klinische Relevanz

Mesrobian greift in der vorliegenden Arbeit nun die Hypothese auf, dass die CPRE möglicherweise auch eine Detrusor-Hypoaktivität zur Folge haben kann. Dazu wurden 6 Patienten nach CPRE (4 Jungen und 2 Mädchen) im Alter zwischen 2 und 8 Jahren nachuntersucht, 5 davon einer ausführlichen urodynamischen Evaluation unterzogen. Tatsächlich konnte bei keinem dieser Patienten eine Detrusorkontraktion in irgendeiner Form nachgewiesen werden.Trotz des nur kleinen und inhomogenen Patientenklientels ist diese Arbeit nach meiner Ansicht von hoher klinischer Relevanz im Hinblick auf die Langzeitprognose von Genital- und Blasenfunktion dieser Patienten.

In den letzten 10 Jahren erschienen hervorragende Studien zur funktionellen und angewandten Anatomie des Beckenbodens beim Blasenekstrophiekomplex [ 3 ], [ 4 ]. Sie belegen, dass auch beim Vollbild der Blasenekstrophie alle Muskeln des Beckenbodens, einschließlich des Sphincter externus angelegt und vorhanden sind. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass in unmittelbarer Nähe des Blasenhalses, der Prostata und der proximalen Urethra die Gefäße und Nerven des Plexus vesicalis ein dichtes Netzwerk an feinen, diese Regionen versorgenden Ästen bildet.

Während bereits durch das complete disassembly mit vollständiger Ablösung der proximalen Urethra von den Schwellkörpern A., V. und N. dorsalis penis in diesem Areal nicht unerheblich gefährdet sind, verletzt zu werden, kann vor allem die organnahe, tiefe Inzision der intersymphysealen Ligamente auch posterior der Urethra, zur Gefäß- und Nervenläsion der feinen Äste des Plexus pelvicus führen. Duch die zusätzliche dorsokraniale Verlagerung der urethrovesikalen Einheit ist gut vorstellbar, dass dieses ausgedehnte nervale Geflecht durch Scher- und Zugverletzungen mit nicht voraussehbaren Folgen zusätzlich geschädigt werden kann.

Wie Mesrobian in dieser Arbeit ausführt, finden sich in keiner der 68 seit 1999 veröffentlichten Publikationen zu den Ergebnissen der CPRE Angaben zur postoperativen Detrusorfunktion bzw. –aktivität. Weiterhin ist mir keine Arbeit bekannt, die das (immun-)histologische Innervationsmuster der Blasenwand nach CPRE beschreibt.

Vergleichbar zu dem von Jeffs und Gearhart propagierten mehraktigen Verfahren [ 5 ] erfolgt in der von uns empfohlenen Technik die Mobilisation der Blase nicht organnah, sondern weit lateral, entlang des Periosts der aufsteigenden Schambeinäste. Zudem wird in beiden Techniken auf die extrem tiefe Inzision des Diaphragma pelvicum zur kompletten Mobilisation verzichtet. Vaskuläre und nervale Schädigungen, sowohl durch direkte präparatorische als auch indirekte Scher- und Zugverletzungen, können dadurch weitgehend vermieden werden.

In einer bereits 1997 publizierten Studie [ 6 ] konnten wir bei 22 Kindern nach Blasenrekonstruktion in Erlanger-Technik zeigen, dass das strukturelle Innervationsmuster der Blasenwand in diesen Fällen keine morphologischen Unterschiede zur Blasenwand gesunder altersentsprechender Kinder zeigte. Alle diese Patienten hatten in der Urodynamik eine nachweisliche, meist koordinierte Detrusoraktivität, die auch zu einer kompletten oder teilweisen Blasenentleerung führte.

Nicht zuletzt bedingt durch das zur Verfügung gestandene Patientenklientel weist Mesrobians Arbeit zahlreiche Einschränkungen auf, insbesondere das kleine und vor allem inhomogene Patientengut (zum Teil nach Antireflux-Operation und / oder zusätzlicher Blasenhalsplastik), und dass nur bei 5 Patienten urodynamische Parameter, zudem in (Teil-)Anästhesie, erhoben wurden.

Technik sollte vorerst nicht mehr angewendet werden

Aber gerade in Zusammenschau mit der von ihm exzellent dargestellten topografischen Anatomie der nervalen Strukturen bei der Blasenekstrophie sind diese Daten alarmierend. Weitere klinische Studien mit einem größeren Patientenklientel nach alleiniger CPRE ohne zusätzliche Eingriffe und standardisierter urodynamischer Diagnostik möglichst ohne Sedierung oder Anästhesie sind dringend erforderlich. Ergänzende (immun-)histologische Untersuchungen zur Innervation der Blasenwand wären sinnvoll.

Bis weitere konkretere Daten zur Innervations-Situation nach CPRE vorliegen, sollte nach meiner Ansicht im Hinblick auf die ohnehin schon bekannten Risiken des complete disassemblys, diese invasive Rekonstruktionstechnik nicht mehr angewendet werden.

Es wäre nicht das erste Mal in der Kinderurologie, dass sich eine zunächst vielversprechende innovative Technik letztendlich im Langzeitverlauf als zu invasiv und damit als ungeeignet erweist.

Prof. Dr. Wolfgang H. Rösch, Regensburg


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Prof. Dr. Wolfgang H. Rösch


ist Chefarzt der Klinik für Kinderurologie in Kooperation mit der Universität Regensburg – Klinik St. Hedwig

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  • Literatur

  • 1 Gearhart JP, Baird AD. The failed complete repair of bladder exstrophy: insights and outcomes. J Urol 2005; 174: 1669-1673
  • 2 Grady RW, Mitchell ME. Complete primary repair of exstrophy. J Urol 1999; 162: 1415-1420
  • 3 Kureel SN, Gupta A, Gupta RK. Surgical Anatomy of Urogential Diaphragm and Course of its Vessels in Exstrophy-Epispadias. Urology 2011; 78: 151-163
  • 4 Wakim A, Barber JP. Connections of the bladder plate and bladder neck with the bony pelvis in a fetus with classic bladder exstrophy. Urology 2002; 60: 142-146
  • 5 Mathews R, Gearhart JP. Exstrophy-Epispadias Complex. In: Wein AJ, Kavoussi LR, Novick AC. et al. eds. Campbell-Walsh Urology. 9th ed. Philadelphia: W. B. Saunders; 2007. 20. 79-84
  • 6 Rösch W, Christl A, Strauss B et al. Comparison of Preoperative Innervation Pattern and Postreconstructive Urodynamcis in the Exstrophy-Epispadias Complex. Urol Int 1997; 59: 6-15

  • Literatur

  • 1 Gearhart JP, Baird AD. The failed complete repair of bladder exstrophy: insights and outcomes. J Urol 2005; 174: 1669-1673
  • 2 Grady RW, Mitchell ME. Complete primary repair of exstrophy. J Urol 1999; 162: 1415-1420
  • 3 Kureel SN, Gupta A, Gupta RK. Surgical Anatomy of Urogential Diaphragm and Course of its Vessels in Exstrophy-Epispadias. Urology 2011; 78: 151-163
  • 4 Wakim A, Barber JP. Connections of the bladder plate and bladder neck with the bony pelvis in a fetus with classic bladder exstrophy. Urology 2002; 60: 142-146
  • 5 Mathews R, Gearhart JP. Exstrophy-Epispadias Complex. In: Wein AJ, Kavoussi LR, Novick AC. et al. eds. Campbell-Walsh Urology. 9th ed. Philadelphia: W. B. Saunders; 2007. 20. 79-84
  • 6 Rösch W, Christl A, Strauss B et al. Comparison of Preoperative Innervation Pattern and Postreconstructive Urodynamcis in the Exstrophy-Epispadias Complex. Urol Int 1997; 59: 6-15

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