Suchttherapie 2014; 15(02): 59-60
DOI: 10.1055/s-0034-1374582
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Migration und Sucht

Migration and Addiction
T. Hoff
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Publication Date:
07 May 2014 (online)

Liebe Leserin, lieber Leser,

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Prof. Dr. Tanja Hoff

Mit dem Themenschwerpunkt „Migration und Sucht“ möchten wir den Blick auf ein nach wie vor und dauerhaft relevantes Arbeitsfeld der Suchthilfe lenken, in dem regelmäßig eine Unterversorgung und ein erhöhter Ressourcenaufwand in Erreichbarkeit, Haltequote und Behandlung der Zielgruppe festgestellt werden. Bei unklarer epidemiologischer Ausgangslage, aber einem Anteil von 16,8% Klienten mit Migrationshintergrund in ambulanten bzw. 13,0% in stationären Einrichtungen, die an der Deutschen Suchthilfestatistik 2011 teilnahmen [1], stellt sich die Frage nach den Besonderheiten einer zumindest kultursensiblen, besser noch interkulturellen Suchthilfe.

Die Möglichkeiten und Herausforderungen einer auch organisational verstandenen Transkulturalität von Suchthilfe und Migrationsfachdiensten erläutern Frau Martina Schu (Köln) und Dietmar Czycholl (Freudenstadt) in den Ergebnissen zum BMG-Bundesmodellprogramm „transVer – transkulturelle Versorgung von Suchtkranken“. Ziele von transVer waren v. a. der Abbau von Zugangsbarrieren, die verbesserte Erreichung von Suchtkranken mit Migrationshintergrund, aber auch die Bereitstellung von zielgruppengerechten Hilfen. Eine tatsächlich nachhaltig transkulturelle Ausrichtung der Suchthilfeeinrichtungen bedarf neben den dort beschriebenen Praxisanforderungen auch eines Top-Down-Prozesses, der durch Führungskultur, Identitätsbildung und strukturelle Ermöglichung eine verbesserte Erreichbarkeit und Versorgung der Zielgruppe ­institutionell verankert.

Welche psycho- und suchttherapeutischen Aspekte in der Diagnostik und Behandlung bei Suchtkranken mit Migrationshintergrund zu beachten sind, beschreiben Eckhardt Koch, Matthias Müller und Hans-Jörg Assion (Marburg, Dortmund). Die Interkulturalität sollte dabei nicht auf die Anwendung migrationssensibler Diagnostik und Therapie begrenzt bleiben, sondern auch eine tiefergehenden Auseinandersetzung mit persönlichen kulturellen Vorstellungen und Wahrnehmungsprozessen beinhalten, die die eigene Arbeit mit Klienten mit Migrationshintergrund beeinflussen.

Daniela Ruf (Freiburg) gibt zur Zielgruppe Menschen mit Migrationshintergrund einen Überblick über Behandlungsquoten und -anforderungen im Deutschen Caritasverband e.V. und verdeutlicht damit die aktuelle Suchthilfesitua­tion vor Ort in einem großen deutschen Träger. Der hier auch behandelte lohnenswerte Ansatz der Suchtselbsthilfe bedarf weiterer Evaluation und könnte eine fruchtbare Weiterentwicklung einer migrationssensiblen Suchthilfe werden.

In der Vorbereitung des Schwerpunktheftes fiel auf, dass nur wenige laufende Studien zu kulturellen und migrationsspezifischen Einflussfaktoren der Entstehung und Behandlung von Suchterkrankungen in Deutschland zu finden waren. Leider liegt dies wohl nicht daran, dass wir wichtige Fragen hinreichend beantwortet hätten, wie z. B. nach der Prävention bei migrationsspezifischen Risikofaktoren, der Nutzung migrationsspezifischer individueller und sozialer Ressourcen oder einfach der besseren Erreichbarkeit und Behandlungserfolge bei Migrantinnen und ­Migranten.

Der insbesondere international generierte Forschungsstand zu Zusammenhängen zwischen einerseits der Akkulturation, das heißt zwischen dem „Prozess, in dem Individuen sich verändern, in dem sie einerseits durch den Kontakt mit einer anderen Kultur beeinflusst werden und andererseits Teilnehmer in einem generellen akkulturativen Wandel ihrer eigenen Kultur sind“ [2] und andererseits dem Gesundheitsverhalten von Migranten hat eine Vielzahl möglicher akkulturativer Bedingungen untersucht und belegt. Zu häufig verbleiben Untersuchungen jedoch auf einer rein korrelativen Ebene, sodass die zentralen kausalen Einflussvariablen des Gesundheitsverhaltens weiter zu klären sind. Eine ausschließliche Konzentration auf die Analyse von Migrations- und Akkulturationsvariablen vernachlässigt zudem die Bedeutung der für den Suchtmittelkonsum zusätzlichen relevanten psychologischen und sozialen Einflussfaktoren. Hier bedarf es komplexerer Untersuchungen, die z. B. die Interdependenz von identifikativer, sozialer und struktureller Akkulturation unter Einbezug weiterer relevanter Einflüsse wie z. B. familiäre und religiöse Orientierungen bei Suchterkrankungen und deren Behandlung stärker in den Blick nehmen. Eine simplifizierte Zuordnung von Klienten zur Kategorie „Migrationshintergrund“ hat keinen hinreichenden Erklärungswert, weder für Verhalten und Erleben noch für Risiken und Ressourcen in Verbindung mit einem Migrationshintergrund.

Eine migrationsdifferenzierte und -sensible Suchthilfe muss sich u. a. folgenden Herausforderungen stellen:

  • Die Zuschreibung „Migrationshintergrund“ muss ausgeweitet werden auf ein Verständnis unterschiedlicher Akkulturationsstile – z. B. Assimilation, Integration, Separation und Marginalisation [3] – und dessen konsequenter Beachtung in Diagnostik, Prävention und Therapie, ggf. auch alters- und genderspezifisch.

  • Wir müssen mehr kulturspezifisches Verständnis entwickeln für verschiedene Migrationsgenerationen sowie ethnische Gruppen und deren Besonderheiten insbesondere in Prävention und Therapie. Hierzu gehört z. B. auch der Generationenwandel von Lebensstilen zwischen Migrationsgenerationen und deren Einfluss auf z. B. subjektive Krankheitstheorien, Familiendynamiken, Inanspruchnahme von Beratungs- und Therapieangeboten. Dies wird z. B. auch in dem lesenswerten Interview mit Roman Zakhalev zu Migranten aus den GUS-Staaten deutlich.

  • Eine hinreichende Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund bedarf bekanntermaßen mehr professioneller Fachkräfte mit eigenem Migrationshintergrund bzw. entsprechenden vertieften Kultur- und Sprachkenntnissen. Aber auch Zugangswege zu den vorhandenen Fachkräften müssen überdacht werden: Vorbildhaft sind sicherlich schnell verfügbare, schriftliche Wegweiser wie z. B. der „Kölner Gesundheitswegweiser für Migrantinnen und Migranten 2013“ der Kommunalen Gesundheitskonferenz Köln, AG Migration und Gesundheit. Erschreckend wird dann aber die Unterversorgung durch muttersprachliche Fachkräfte nochmals deutlich, wenn man dort z. B. die ambulante therapeutische Versorgung bei Menschen mit türkischem Migrationshintergrund als größte Migrationsgruppe sichtet: Hier finden sich neben den Fachkliniken lediglich 2 Psychiater/Neurologen, 2 ärztliche Psychotherapeuten, 4 Psychologische Psychotherapeuten für Erwachsene und 2 Suchtberatungsstellen unter der Kategorie „türkisch“.

  • Ein Migrationshintergrund wird zudem häufig – in spezifischen Konstellationen sicherlich berechtigt – als Risikofaktor einer psychischen Belastung gesehen. Ressourcen, die sich aus anderen kulturellen Erlebens- und Verhaltensstilen ergeben wie z. B. eine häufig höhere soziale und familiäre Einbindung, sollten stärker nutzbar gemacht werden.

Neben den Artikeln des Themenschwerpunkts sei besonders auf das Interview mit der neuen Drogenbeauftragten Marlene Mortler hingewiesen; ihr wünschen wir eine glückliche Hand bei der Förderung und Weiterentwicklung der Suchthilfe in Deutschland. Die Originalarbeit von Hessel et al. (Berlin, München, Hamburg) widmet sich einem solchen weiterzuentwickelnden Bereich, stellt sie doch auf Basis der PREMOS-Daten die Frage nach der Versorgungsqualität von Patienten in substitutionsgestützter Behandlung entlang der von der Bundesärztekammer formulierten Behandlungsziele.

Viel Freude und Inspiration bei der Lektüre wünscht Ihnen·

Tanja Hoff

 
  • Literatur

  • 1 Künzel J, Steppan M, Pfeiffer-Gerschel T. Klienten mit Migrationshintergrund in ambulanter und stationärer Suchtbehandlung Kurzbericht 01/2013 – Deutsche Suchthilfestatistik 2011. München: IFT Institut für Therapieforschung München; 2013. URL: http://www.suchthilfestatistik.de/cms/content/view/59/
  • 2 Berry JW. Psychology of acculturation: Understanding individuals moving between cultures. In: Brislin RW,ed. Applied crosscultural psychology. Newbury Park, CA: Sage; 1990: 232-253
  • 3 Berry JW. Acculturation and adaptation in a new society – International Migration 1992. 30 (Suppl 1) 69-85