Hebamme 2014; 27(2): 80
DOI: 10.1055/s-0034-1373859
Editorial
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Können wir uns eine psychische Betreuung noch leisten?

Cordula Ahrendt
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Publikationsdatum:
08. Juli 2014 (online)

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Ein hohes Arbeitsaufkommen bei Mindestpersonalbesetzung kennzeichnet die geburtshilflichen Abteilungen Deutschlands. Es scheint inzwischen Normalität geworden zu sein, dass eine 1-zu-1-Betreuung kaum gewährleistet werden kann und die Rate der Interventionen steigt. Auch in der Freiberuflichkeit zwingen die Sicherung des Lebensunterhalts und ein regionaler Hebammenmangel dazu, ökonomisch zu arbeiten und Zeitfenster rigide einzuhalten.

Der Preis für alle ist hoch. Hebammenschülerinnen erlernen kaum noch originäre Hebammenarbeit, Hebammen arbeiten im Spagat zwischen ökonomischen Zwängen und berufsethischen Anforderungen, Gynäkologen und Geburtshelfer zwischen den Forderungen der Leitlinien und dem Selbstbestimmungsrecht der Klientinnen, Frauen erleben Schwangerschaft und Geburt eher in Sorge als in Sorglosigkeit.

Dabei wissen wir doch alle, aus Erfahrung und aus der Wissenschaft, wie wichtig die persönliche Zuwendung in einer Krisensituation ist. Dass es vor allem Vertrauen, Zuspruch und Unterstützung braucht, um guter Hoffnung zu sein oder wieder zu werden. Dass die Frau daran wächst, wenn sie an diesem Prozess nicht nur ein messbares Objekt, sondern ein in ihrer Individualität wahrgenommenes und mitbestimmendes Subjekt ist.

Also eigentlich ganz einfach – und heute doch umso schwieriger zu leisten!

Auf der Basis dieser Überlegungen haben wir unseren Schwerpunkt „Psychologie und Psychosomatik in der Geburtshilfe“ konzipiert. Kenntnisse aus der Psychologie können unsere Fremd- und Eigenbeobachtungsfähigkeiten fördern, Zusammenhänge begreifbarer werden lassen, Handwerkzeug ver- mitteln, um auch bei hoher Arbeitsdichte die Frauen und ihre Familien wertschätzend und gesundheitsfördernd zu begleiten.

Es bleibt also die Frage, was wir uns heute leisten können und wollen: Lassen wir uns ein, nehmen wir uns in einem passenden Rahmen Zeit zum Zuhören, und unterstützen die Frau, ihre eigenen Ressourcen zu aktivieren ODER folgen wir dem Zeitdruck und finden schnell eine Hebammendiagnose, packen aus unserem Hebammenkoffer die Hebammentricks und -ratschläge aus, die dankbar von den Frauen angenommen werden?

Bei der 2013 erstmals stattfindenden Fortbildung Psychosomatik für Hebammen habe ich viele engagierte Hebammen kennengelernt, die trotz und gerade wegen der zunehmenden Arbeitsdichte nach Wegen suchen, die Frauen professionell zu betreuen. Ihre mitgebrachten Fallbeispiele zeigten auch die zunehmende Komplexität in der Hebammenarbeit.

In dieser Fortbildung wurde ein Leitfaden erfolgreich genutzt (s. Beitrag Ahrendt), um Fälle aus dem Hebammenalltag zu reflektieren und Rückschlüsse für die zukünftige Arbeit zu ziehen. Frau Kannemann stellt uns in ihrer Fallanalyse die Betreuung bei einer Geburtseinleitung eindrucksvoll dar, in der sie sich eine psychologische Betreuung leisten konnte.

Prävention als wichtige Hebammenaufgabe wird in mehreren Beiträgen thematisiert. Andere Artikel unterstützen uns Hebammen dabei, die Symptome von psychischen Störungen frühzeitig zu erkennen und damit langfristigen Folgen für Mutter und Kind vorzubeugen. Zwei ehemalige Hebammenstudentinnen stellen u. a. ein neues diagnostisches Hilfsmittel vor, das noch in der Praxis erprobt werden muss.

Der Leserbrief von Andrea Mora hat mich persönlich sehr berührt. Wie sie gemeinsam mit dem geburtshilflichen Team und einer Hebammenschülerin darum ringt, der Frau IHRE Spontangeburt zu ermöglichen war für mich sehr beeindruckend und zeigt, welchen Einfluss die Einstellung der bei der Geburt Anwesenden haben kann.

Ich wünsche Ihnen allen viel Inspiration beim Lesen unserer Zeitschrift und einen wunderbaren Sommer. Vielleicht finden Sie in einem ruhigen Urlaubsmoment Zeit, darüber nachzudenken, was Sie als Hebamme im Berufsalltag leisten können und möchten.

Ihre

Cordula Ahrendt