Vor drei Jahren lernte ich Walter Dietz kennen. Er hatte eine Hirnblutung erlitten
und kämpfte noch mit Einschränkungen in Sprache und Motorik. Zu der Zeit stellte mir
mein Chef auch die Neurologische Musiktherapeutin Simone Willig vor (Neurologische Musiktherapie). Sie erzählte uns von ihrer Arbeit und dass sie an einer Zusammenarbeit interessiert
sei. Ich hatte gleich das Gefühl, diese Art der Behandlung könnte Walter Dietz Spaß
machen und ihn seinen Therapiezielen näher bringen. Er hörte schon immer gerne Musik
und schien dafür offen zu sein. Und so wurde die Musik Teil der ergotherapeutischen
Behandlung. Konkret bedeutet das, dass an einem von zwei Behandlungsterminen pro Woche
Musiktherapeutin Simone Willig im Hausbesuch dabei ist.
Zu Beginn der ambulanten Reha war aktives Bewegen des rechten Armes und der Schulter
nicht möglich. In der Ergotherapie formulierten wir als Anfangsziele die Bewegungsanbahnung
und Lockerung der Spastik. Im weiteren Verlauf schlossen sich die Steigerung der Kraft
und das Vergrößern des Bewegungsausmaßes an. Außerdem war es Walter Dietz immer wichtig,
mit der Hand etwas greifen zu können. Deshalb stehen neben dem Faustschluss auch die
gezielte motorische Steuerung einzelner Finger auf dem Programm.
Spiegeltherapie mit musikalischer Begleitung
Spiegeltherapie mit musikalischer Begleitung
Die gemeinsame Therapie beginnt in der Regel mit vibroakustischen Instrumenten, zum
Beispiel mit einer Sansula (Abb. 1). Musiktherapeutin Simone Willig legt die Sansula an der Schulter an und schlägt
die Klangzungen aus Metall mit dem Daumen an. Über den Resonanzkörper überträgt sich
die Schwingung auf den Körper des Patienten. Um sich dem Atemrhythmus von Walter Dietz
anzupassen, improvisiert die Musiktherapeutin. „Das tut gut“, kommentiert Walter Dietz.
Das merkt man auch an seinem gesenkten Muskeltonus. Über die Sensoren in den Knochen
und Gelenken sowie über die Rezeptoren der Haut nimmt er die Vibrationen wahr. Die
Wahrnehmung akustischer Reize erfolgt auf basalen Stufen der neurophysiologischen
Informationsverarbeitung (die Verarbeitung findet im intakten Hirnstamm statt), bedarf
also nicht notwendigerweise komplexer Fähigkeiten des Gehirns. Walter Dietz entspannt
sichtlich, und durch den verminderten Tonus und die verbesserte Tiefensensibilität
kann nun der aktive Teil der Therapie kommen.
Abb. 1 Musiktherapeutin Simone Willig senkt bei Walter Dietz den Muskeltonus mithilfe der
Sansula. Das Instrument wirkt über Klang und Vibration beruhigend.
(Abb.: J. Plechinger)
Seien Sie live dabei!
Erleben Sie Sonja Schickel und Simone Willig bei ihrer Arbeit! Ein Video, produziert
von Joerg Plechinger, zeigt die Therapie von Walter Dietz:
http://bit.ly/youtube_walter
. Und bei der gemeinsamen Therapie mit der kleinen Lisa sind Sie unter
http://vimeo.com/71154155
mit dabei!
Jetzt beginne ich mit der Spiegeltherapie, Simone Willig begleitet uns dabei (Abb. 2). Dazu positioniere ich den Spiegel mittig vor Walter Dietz und übe mit ihm das Öffnen
und Schließen der Faust – in Supination, Pronation und aufgestellter Hand. Die Musiktherapeutin
begleitet uns auf dem Akkordeon. Dabei steigt die Tonfolge beim Öffnen der Hand an
und sinkt beim Schließen wieder.
Abb. 2 Simone Willig begleitet das Öffnen und Schließen der Hand während der Spiegeltherapie
auf dem Akkordeon. Angepasst an den Rhythmus von Walter Dietz unterstützt sie so Bewegung
und Entspannung.
(Abb.: J. Plechinger)
Sie nutzt rhythmische, melodische, harmonische und dynamischakustische Elemente der
Musik als zeitliche, räumliche oder kraftbezogene Anker für die Bewegungsausführung.
Die Bewegung stellt sie musikalisch mit dem Akkordeon dar – individuell im Tempo des
Patienten. Das Ansteigen der Tonhöhe, die Steigerung der Lautstärke und das Initiieren
von Bewegung durch einen musikalischen Auftakt beim Öffnen der Hand wirkt wie eine
akustische Schablone, die es Herrn Dietz erleichtert, die Bewegungen zu trainieren.
Musik als Motivationsspritze
Musik als Motivationsspritze
Um dem Patienten eine kleine Pause zu verschaffen und die Wahrnehmung auf der rechten
Seite noch einmal zu verstärken, legt Simone Willig erneut für einige Augenblicke
die Sansula an den Arm. Walter Dietz schließt entspannt die Augen: „Das ist totale
Entspannung“, grinst er. Nach der kurzen Verschnaufpause trainiert er die Kraft und
das Bewegungsausmaß der Schulter. Dabei klopfe ich mit Herrn Dietz den Boomwhacker,
ein Musikinstrument, das aus unterschiedlich langen Kunststoffröhren besteht, auf
den Tisch, und es entsteht ein tiefer Ton (Abb. 3). Auf diese Weise produziert er mit seinem betroffenen Arm Musik und kann im Takt
zu einem Lied klopfen. Durch die akustischen Signale beim Aufschlagen auf den Tisch
bekommt er die positive Rückmeldung, dass er die Bewegung korrekt ausgeführt hat und
in welchem zeitlichen und kräftemäßigen
Abb. 3 Bewegungsausmaß, Kraft, Koordination, Ausdauer und funktionale Handbewegungen trainiert
Walter Dietz mit Boomwhacker und Schellenband, das zur Klangverstärkung am bunten
Plastikstab befestigt ist. Der Patient bewegt seine Schulter in Anteversion und Retroversion
im Takt. Das fördert die Ausdauer und neuronale Vernetzung rund um Bewegungsausmaß
und Kraft.
(Abb.: J. Plechinger)
Die musikalische Unterstützung in der Therapie fand ich von der ersten Minute an gut.
Walter Dietz
Ausmaß dies geschieht. Auch hier begleitet Simone Willig auf dem Akkordeon und nimmt
den Takt und die Geschwindigkeit von Walter Dietz auf. Zu seinem Takt singen häufig
sowohl die Ehefrau als auch die im Haus lebende Oma mit.
Geht es um feinmotorische Fähigkeiten, trainieren wir gerne mit dem Rollpiano (Abb. 4). Wie ein Keyboard konzipiert, lassen sich auf dieser ausrollbaren Matte die Tasten
einzeln anspielen. Im Unterschied zum Keyboard oder Klavier benötigt man zur Erzeugung
eines Klanges jedoch weniger Kraft.
Abb. 4 Mithilfe des Rollpianos lernt Walter Dietz, seine Finger einzeln motorisch anzusteuern
und die Bewegung aktiv zu stoppen. Die Ergotherapeutin assistiert dabei nach dem Motto
„So viel wie nötig, so wenig wie möglich“.
(Abb.: J. Plechinger)
Simone Willig zeigt die Übung zunächst auf dem Piano. Walter Dietz spielt dann genau
die gleiche Tonfolge nach. Ich unterstütze die Bewegungen, wenn nötig, durch assistives
Führen. Dabei lernt der Patient, die einzelnen Finger motorisch anzusteuern und den
Bewegungsfluss bewusst zu stoppen. Herrn Dietz ist es deutlich anzusehen, dass es
ihm Spaß macht, er erhält sofort eine akustische Rückmeldung über sein Handeln – das
motiviert. Diese motivierende Wirkung zeigt sich auch im Engagement des Patienten,
Musikinstrumente mit dem betroffenen Arm zu verwenden.
In den Behandlungseinheiten, in denen die Musiktherapeutin nicht dabei ist, bemerke
ich deutliche Unterschiede: Bewegungsausmaß und Geschwindigkeit im Bewegungsablauf
sind mit musikalischer Unterstützung ausgeprägter. Auch Walter Dietz und seine Frau
haben diesen Unterschied bemerkt: „Mit Musik geht alles ein bisschen spielerischer.“
Wenn man bedenkt, dass im rechten Arm gar nichts ging, dann geht jetzt richtig viel.
Walter Dietz
Musiktherapie ist eine Selbstzahlerleistung
Musiktherapie ist eine Selbstzahlerleistung
Da Musiktherapie bisher von den Krankenkassen nicht als Therapieform bei neurologischen
Erkrankungen anerkannt ist, ist sie eine reine Selbstzahlerleistung. Es besteht die
Möglichkeit, die Rechnung bei der Kasse mit einem gemeinsamen Bericht von Ergo- und
Musiktherapeutin einzureichen, um eventuell einen Zuschuss zu beantragen. Leider geschieht
dies in den wenigsten Fällen. Die TK „bewirbt“ jedoch auf ihrer Internetseite seit
einiger Zeit die Musiktherapie als Therapieform bei neurologischen Erkrankungen, was
wir als ein positives Zeichen werten. Allerdings können sich in der aktuellen Situation
nicht alle Patienten diese unterstützende Therapie leisten.
NEUROLOGISCHE MUSIKTHERAPIE
Mit Musik geht Reha besser
Neurologische Musiktherapie (NMT) bedeutet die therapeutische Anwendung von Musik
bei kognitivem, sensorischem und motorischem Funktionstraining mit Patienten in der
Neurologie.
NMT ist eine forschungsbasierte Behandlungsmethodik. Die Behandlungstechniken basieren
auf dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand über Musikwahrnehmung und - produktion
und deren Auswirkung auf nichtmusikalische Gehirn- und Verhaltensfunktionen [1, 2].
Das Indikationsspektrum von NMT beinhaltet Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, Morbus
Parkinson und Chorea Huntington, Infantile Zerebralparese, Morbus Alzheimer, Autismus
und andere neurologische Erkrankungen, welche Kognition, Bewegung und Kommunikation
beeinträchtigen. In Deutschland trugen 2011 etwa 150 Musiktherapeuten den Titel NMT,
weltweit sind es etwa 1.000 (zum Vergleich: In Deutschland gibt es etwa 4.000 Musiktherapeuten).
Entwickelt wurde diese Technik durch Michael Thaut et al. Weiterführende Informationen
finden Sie auch unter
www.mit-musik-geht-reha-besser.de
.
Aus ergotherapeutischer Sicht profitiert Walter Dietz in mehreren Punkten von der
interdisziplinären Zusammenarbeit: Er führt eine Übung mit Musik motivierter, ausdauernder
und kraftvoller durch. In der gemeinsamen Therapie führt die Musik somit schneller
zum Therapieziel. Und die Wahrnehmung der betroffenen Körperseite wird erfahrungsgemäß
verstärkt. Der Patient erlebt, dass er Musik machen und positive Gefühle wahrnehmen
kann. Letzteres ist vielleicht sogar das Wichtigste. Musiktherapie macht unglaublich
viel Spaß – und zwar nicht nur dem Patienten. Wir lachen alle sehr viel in den Behandlungen.
Voraussetzung für eine erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit ist, dass Ergotherapeutin
und Musiktherapeutin an einem Strang ziehen. Darum steht im Fokus der Zusammenarbeit
nicht die Musik an sich, sondern stets die mit dem Patienten abgestimmte ergotherapeutische
Zielsetzung – Bewegungsanbahnung, ADL-Training, Verminderung von Apraxie etc. Die
Bewegungen, die mit Musik trainiert werden, finden sich in den formulierten ergotherapeutischen
Zielen wieder. Die Neurologische Musiktherapie (NMT) wird somit als adjuvante, begleitende
Therapie angewandt, um die Wirksamkeit der Ergotherapie zu unterstützen („Neurologische Musiktherapie“).
Zur Nachahmung empfohlen
Musik ist – wie neue Forschungsergebnisse und die S3-Leitlinie zur Behandlung nach
Schlaganfall bestätigen – Auslöser neuronaler Reorganisationsprozesse. Sie stimuliert
komplexe, kognitive, affektive und sensomotorische Prozesse im Gehirn, deren Funktion
wiederum auf nicht musikalische Therapieansätze übertragen werden kann. So verbessern
beispielsweise unscheinbare akustische Signale die Bewegungsbereitschaft des motorischen
Nervensystems.
Walter Dietz antwortet auf die Frage, wie er die Musiktherapie erlebt: „Das macht
Spaß, weil da Musik dabei ist, und Musik ist eh mein Hobby.“ Für ihn ist das genau
die richtige Form der begleitenden Therapie. Rückblickend auf die bisherige Behandlung
ziehen er und seine Frau ein positives Fazit: „Wenn man bedenkt, dass im rechten Arm
gar nichts ging, dann geht jetzt richtig viel.“
„Ein gutes Lied verkürzt den Weg“, sagt ein Sprichwort aus dem Kaukasus. Das trifft
besonders auf die Möglichkeiten im Zusammenspiel von Ergo- und Musiktherapie zu. In
der gemeinsamen Arbeit verbinden sich auf kreative und neue Weise funktionale ergo-
und musiktherapeutische Methoden mit ressourcenorientiertem, wertschätzendem therapeutischen
Kontakt. Eine Bereicherung und Eröffnung neuer Horizonte, nicht nur für die Patienten,
sondern immer wieder auch für uns. Eine Nachahmung können wir nur empfehlen!
Mit Musik geht alles ein bisschen spielerischer.
Walter Dietz