Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Der wohl größte Beitrag der hippokratischen Ärzteschule für unsere heutige gesundheitliche
Versorgung war die Grundlegung einer empirisch-rationalen Medizin. Der Gedanke, durch
aufmerksame Beobachtung einer ausreichend großen Zahl von Krankheitsverläufen eine
Voraussage auch für andere Patienten machen zu können, war durchaus revolutionär.
Er mündete in den hippokratischen Dreiklang von Diagnose, Prognose und Therapie. In
dieser Reihenfolge? Die hippokratische Prognose war als Vorhersage des wahrscheinlichen
Krankheitsverlaufs zentraler Bestandteil der ärztlichen Kunst. Sie stand als Grundlage
der Therapie vor allem vor, nicht nach der Therapieentscheidung [1]. In Abwandlung der bekannten Formulierung des Schweizer Internisten Otto Naegeli
„Vor die Therapie setzten die Diagnose die unsterblichen Götter“ [2] ließe sich also auch sagen „Vor die Therapie setzten die Prognose die unsterblichen Götter“. Beides in Analogie zum Vers des altgriechischen Philosophen
Hesiod: Vor das Gedeihen jedoch haben die ewigen Götter den Schweiß gesetzt [3].
Neben die Prognose ist in der Moderne leise ein weiterer Begriff getreten: Die Prädiktion. Der feine Unterschied zwischen Prädiktion und Prognose verdient Aufmerksamkeit:
Während Prognose eine Vorausschau über den wahrscheinlichen Verlauf einer bestehenden
Krankheit geben will, auch unter Berücksichtigung von therapeutischen Optionen, setzt
die Prädiktion schon beim gesunden Menschen an. Sie ist im Rahmen von Lebensversicherungen
und Dienstfähigkeitsbeurteilungen bereits bekanntes Gedankengut. Dabei steht, neben
der Prognose bestehender Krankheiten, die Beurteilung von individuellen Risikofaktoren
wie Body Mass Index oder Blutdruck und – bei Lebensversicherungen erst ab Versicherungssummen
in größerer Höhe – auch von genetischen Merkmalen im Mittelpunkt. Sie ist Grundlage
für die Prämienfestsetzung bei Versicherungsabschluss oder die Feststellung der beruflichen
gesundheitlichen Eignung.
Welche weiteren handlungsrelevanten Konsequenzen ergeben sich aus den Vorhersagen
zu den Auswirkungen der so festgestellten persönlichen Risikofaktoren, für sich genommen
und in ihren Wechselwirkungen? Die Vorhersage der individuellen Reaktionsweise auf
Medikamente ist eine der großen Hoffnungen einer personalisierten bzw. individualisierten
Medizin: Eine nebenwirkungsärmere, weil individualisierte Pharmakotherapie, womöglich
weiterentwickelt zum gewebespezifischen Drug-Delivery-System. Eine präventive Lebensstilintervention
in Abhängigkeit von den individuell gegebenen Gesundheitsrisiken wäre ein weiterer,
ebenfalls ehrgeiziger Ansatzpunkt.
Eine solche „Personalisierte Medizin“, wie sie gegenwärtig verstanden wird, zielt
auf Differenzierung, auf den Einzelfall anvisierende Methoden. Weitgehend synonyme
Bezeichnungen sind individualisierte, stratifizierte, prädiktive oder Präzisions-Medizin.
Sie hat ihre Wurzeln in der Molekularbiologie und den damit verbundenen OMIC-Wissenschaften:
Genomics, RNAomics, Epigenomics, Proteomics. Leroy Hood, US-amerikanischer Molekularbiologe
und Mitbegründer des Instituts für Systembiologie, prägte 2004 das Konzept der P4-Medizin:
Einer prädiktiven, präventiven, personalisierten und partizipativen Medizin der Zukunft, Folge eines molekularbiologisch getriggerten Paradigmenwechsels
der modernen Medizin [4]
[5].
Die Prinzipien einer solchen prädiktiven Medizin sind dabei bereits jetzt in der Versorgungspraxis
gegenwärtig: Beispiele sind genetische Untersuchungen hinsichtlich eines klinisch
asymptomatischen Carrier-Status bei auffälliger familiärer Anamnese oder auch vertraute
nicht-genetische Verfahren wie die einfache Blutdruckmessung als mögliche Risikofaktorbestimmung
für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder die Erfassung Diabetes-spezifischer Risikofaktoren.
Diese prädiktiven Verfahren sind in ihrer (sekundär-)präventiven Ausrichtung auf
die proaktive Mitwirkung der Patienten vor Ausbruch der Krankheit angewiesenen: Kernelement
der „partizipatorischen“ Medizin.
Personalisierte Medizin – nur alter Wein in neuen Schläuchen? Es bestehen durchaus
Besonderheiten der neuen, „personalisierten“ P4-Medizin. Bei vielen Analyseergebnissen
der OMIC-Analysen handelt sich um „Zitate“ aus unseren persönlichen genetischen Bauplänen
oder um epigenetische „Fußnoten“ dazu. Damit ist also nicht mehr die Rede von äußeren
Wirkursachen, wie das z. B. bei der genetischen Analyse von mikrobiologischen Krankheitserregern
der Fall wäre. Vielmehr ist die Rede von inneren Dispositionen und Suszeptibilitäten,
sogenannten Materialursachen [6]. Diese sind zunächst keine Krankheitserscheinungen, sondern lediglich Indikatoren
persönlicher biologischer, im Sinne der Gen-Umwelt-Interaktion teilweise auch biografischer
Gegebenheiten.
Die diagnostischen Optionen scheinen dabei schneller verfügbar als die therapeutischen.
Firmen wie Genetics Technology, Phenogen Sciences oder 23andMe entfalten ihre diesbezüglichen
Aktivitäten auf dem Gesundheitsmarkt. In den globalisierten Weiten des Internets sind
personalisierte Genomuntersuchungen bereits Realität. Teilweise wird ein direkt käufliches
Testangebot ohne Zugangsbeschränkung gemacht, in Form von spezifischen DNA Arrays
oder auch als vollständige Analyse des persönlichen Erbgutes („full genom sequencing“).
So bietet eine Firma für wenig Geld Gesundheitsberichte über hunderte von möglichen
Gesundheitsgefährdungen und Veranlagungen an, zusätzlich Informationen zu Verwandtschaftsverhältnissen
sowie zur wahrscheinlichen Reaktibilität auf Medikamente [7].
Diese „persönlichen“ Befunde lassen erst nach prädiktiver Interpretation „personalisierte“ diagnostische und therapeutische Aussagen zu, z. B. zu einer Arzneimitteltherapie
oder empfohlenen Lebensweise. Man sollte sich dabei vor einer medikalisierenden bzw.
pathologisierenden Sichtweise hüten, welche genetische Materialursachen einseitig
als Defekt interpretiert. Und welche womöglich eine Genotyp-Prävention an Stelle einer verhaltens- oder verhältnisorientierten
Phänotyp-Prävention setzt und damit einer Verlagerung von Gesundheit und Gesunden
zu Krankheit und Kranken Vorschub leistet [8].
Bei den schönen, teilweise schön gefärbten Zukunftshoffnungen der P4-Medizin gilt
also: Nicht jedes „P“ ist ohne Abstriche positiv zu sehen. Was ist bspw. mit den Fällen,
in welchen keine perfekte prädiktive Aussage gemacht werden kann? Die Ursachen können
in der polygenen Natur einer Erkrankung liegen oder auch in einer Variabilität der
Ausprägung von genetischen Sequenzen als Proteine. Was ist, wenn eine Prädiktion zwar
möglich ist, eine Prävention aber ausscheidet? Was ist mit Fällen, welche ähnlich
wie das oft klinisch stumme Prostatakarzinom beim Mann zu bewerten sind, welches häufig
erst posthum diagnostiziert wird? Wer leistet die notwendigen sachkundigen und objektiven
individuellen Beratungen, wer übernimmt die gesellschaftliche Informations- und Diskursverantwortung?
Ergeben sich möglicherweise politische Implikationen durch die Ausgrenzung von Genträgern
oder auch Bevölkerungsgruppen von bestimmten professionellen Tätigkeiten aufgrund
ihres Risikoprofils – eine genetische Klassengesellschaft als Spielform einer „Schönen
neuen Welt“ (Aldous Huxley)?
Individuelle Gesundheitsdaten mit prädiktivem Charakter haben ohnehin Konjunktur:
Die „Quantified Self“-Bewegung nimmt, als weitere Spielform, sehr konkret eine umfassende
Digitalisierung der verfügbaren Daten zu Umwelt und eigenem Körper in Angriff. Durch
ein solches intensives Self-Tracking sollen individuelle Lösungen für persönliche
Fragestellungen in Sport, Gesundheit und anderen Lebensbereichen gefunden werden (www.quantifiedself.com). Sehen wir ein Empowerment als Befähigung zur Eigenverantwortung oder doch nur eine
neue Fixierung auf Expertenwissen? Reicht die Summe der individuellen Gesundheitsinteressen
für eine gesundheitsförderliche Gestaltung der gesundheitsrelevanten Lebenswelten?
Noch ist die Sicht unklar.
Vielfältige rechtliche, gesellschaftliche und ethische Erwägungen sind mit der P4-Medizin
verbunden. Geführt werden solche Diskurse bereits: Seitens der Deutschen Gesellschaft
für Medizinrecht (Einbecker Empfehlungen), von der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik
(Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden in Diagnostik und Forschung), vom Nationalen
Ethikrat (Nutzung von prädiktiven Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen),
in medizinethischen Diskussionsforen, als gemeinsame Stellungnahme wissenschaftlicher
Fachgesellschaften [9]. Auf europäischer Ebene wurde das Public Health Genomic European Network (www.phgen.eu) mit EU-Mitteln gefördert. Von dem PHGEN-Netzwerk wurden u. a. differenzierte Best
Practice Guidelines für die Qualitätssicherung, die Bereitstellung und die Nutzung
von Genombasierter Information und zugehörigen Technologien erstellt.
Die Publikation von Forschungsergebnissen zu Innovationen und ihre begleitende, auch
ethische Reflexion ist wesentliche Aufgabe unserer Zeitschrift. Themen im vorliegenden
Heft sind die Beteiligung von Patienten an medizinischen Entscheidungen, die Förderung
von Obst- und Gemüseverzehr bei Schulkindern, die Mundgesundheit von berufstätigen
Frauen im Vergleich, die Patientenzufriedenheit bei onkologischen Erkrankungen, die
hausärztliche Perspektive zur Darmkrebsfrüherkennung, der elektronische Mutter- bzw.
Eltern-Kind-Pass, Kriterien für die Priorisierung medizinischer Leistungen, Auswirkungen
des Referenzpreissystems bei Impfstoffen und, aus aktuellem Anlass, ein Diskussionsbeitrag
zu einem sich abzeichnenden Paradigmenwechsel in der Bewertung der gesundheitlichen
Eignung von neu einzustellenden Beamtinnen und Beamten. Besonders wird auch auf die
Stellungnahme des Fachausschuss Psychiatrie des BVÖGD zur Novellierung der Gesetze
zu Hilfen psychisch Erkrankter (PsychKG) in den Bundesländern in diesem Heft hingewiesen.
Zudem enthält das Heft einen bekannten und doch immer wieder neuen Schwerpunkt: Die
Abstracts des 64. ÖGD-Kongresses 15.–17. Mai 2014, Magdeburg, dem wieder viel Erfolg
gewünscht sei!
Liegen die alte hippokratische Medizin und die hoffnungsfrohen neuen Handlungsfelder
der P4 Medizin weit auseinander? Löst eine P4-Medizin die in sie gesetzten Hoffnungen
ein, so wird sich ihr prädiktives und präventives Potenzial nicht in einer weiter
entwickelten Arzneimitteltherapie erschöpfen. Die Kenntnis von persönlichen, prädiktiv
als Risikofaktoren interpretierten Merkmalen soll auch neue Impulse für partizipative,
proaktive, präventive Handlungsoptionen geben. Sowohl Verhaltensprävention als auch
Verhältnisprävention vollziehen sich in intensiver Wechselwirkung mit dem natürlichen,
sozio-ökonomischen und politisch-kulturellen Umfeld. Sie sind schon jetzt wichtiger
Forschungsgegenstand „herkömmlicher“ Prävention und Gesundheitsförderung. Verbindungen
einer solchen gesundheitsförderlichen Lebensführung zu den Texten des Corpus Hippocraticum
lassen sich ebenfalls mühelos knüpfen. Ob vor die Prävention die unsterblichen Götter
die Prädiktion gesetzt haben, bleibt offen. Anstrengung und Schweiß wird jedenfalls
auch vor das Gelingen guter Prädiktion gesetzt sein.