31. Jahrestagung der ackpa
Psychiatrie im gesellschaftlichen Kontext: Angemessene Nutzung oder Missbrauch?
Es gibt in Deutschland etwa so viele psychiatrische Kliniken an Allgemeinkrankenhäusern
wie alleinstehende Fachkrankenhäuser, nämlich rund 205.
Die Chefärztinnen und Chefärzte der Kliniken an Allgemeinkrankenhäusern (ackpa) trafen
sich am 8. und 9.11.2013 in der Hansestadt Wismar zur ackpa-Jahrestagung. Kollege
Sponheim war der Gastgeber. Und es ging uns gut in Wismar, bei frischem Wind, frischem
Fisch und erfrischenden Gesprächen. Das Protokoll der Mitgliederversammlung ist unter
www.ackpa.de für Mitglieder einsehbar.
Unter dem Tagungsmotto „angemessene Nutzung oder Missbrauch“ ging es am Freitagmorgen
los.
Schon 2001 wurde im Deutschen Ärzteblatt gefragt, ob die Psychiatriereform steckengeblieben
sei, referierte Karl Beine, Hamm. Die Jahre seit 2001 darf man getrost als Phase einer
Rückwärtsentwicklung für die Psychiatrie in Deutschland verbuchen. Mehr Fälle, kürzere
Verweildauern, mehr Zwangsunterbringungen, mehr Betten in psychosomatischen Kliniken,
mehr Diagnosen. Ob Psychiatrie nun gesellschaftlich angemessen genutzt oder zum Wegschließen
missbraucht wird, stand zur Debatte: die Antwort ist wohl ein „sowohl als auch“: Diejenigen,
die sich selbst auf den Weg machen, über entsprechende Mobilität, Kommunikation und
Durchsetzungsfähigkeit verfügen und ihre Rechte kennen, fordern rasche Behandlungen
in speziellen Ambulanzen oder Kliniken. Für die Menschen jedoch, die sich nicht durchsetzen
(können), die auffallen, wenig effektiv kommunizieren, unbequem sind oder stören,
bleiben psychiatrische Kliniken als Asyle, als Orte, in denen man einmal angekommen
schnellstmöglich raus möchte, die einen möglicherweise festhalten, festbinden oder
auch zwangsbehandeln.
Maria Klein-Schmeink, MdB, formulierte die Einwände und Rezepte grüner Gesundheitspolitik
gegen diese Entwicklungen und die Chancen, solche in Zeiten großer Koalitionsverhandlungen
zu platzieren. Sie hielt ein gut begründetes Plädoyer für quartierbezogene Lösungen,
sektorenübergreifende Versorgungsformen und erläuterte ihre ablehnende Haltung gegenüber
dem PEPP-System.
Anette Loer, Richterin in Hannover und Vorstandsmitglied des Betreuungsgerichtstages,
setzte sich mit der Entwicklung der Rechtsprechung seit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts
und des Bundesgerichtshofs zur Zwangsbehandlung auseinander. Immer wieder beschreiben
Richter und Ärzte Schwierigkeiten in der Kommunikation, wenn konkurrierende Rechtsgüter
verhandelt werden: Schutz der Gesundheit des Einzelnen, Beachtung der Grundrechte,
Beachtung der Rechte Dritter, auch der Rechte derer, die in psychiatrischen Kliniken
arbeiten. Eine Kurskorrektur ist hier gefordert: Die Zahl der Zwangsunterbringungen
hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt.
Beide Tendenzen, die zur maximalen Nutzung und die zum Missbrauch, haben wir als Handelnde
im System zu verantworten. Deswegen müssen wir uns für eine Steuerung der Versorgung
einsetzen, die solidarisch ist, fair handelt und die Menschenrechte beachtet. ackpa
steht deshalb für:
-
freie Krankenhauswahl für Patienten – nicht aber freie Patientenwahl für Krankenhäuser,
-
Freiwilligkeit als Zielvorgabe für den Einzelnen und das Versorgungssystem,
-
sektorenübergreifende Leistungserbringung (so wie sie in den Regionen mit Regionalbudgets
exemplarisch geleistet wird) und eine
-
angemessene personelle und sächliche Ausstattung für solche Leistungserbringer.
Um neue Versorgungsformen ging es am Samstagvormittag. Ungeachtet des einhelligen
Widerstandes gegen das neue Entgeltsystem für die (teil-)stationäre Psychiatrie zementiert
das Bundesgesundheitsministerium mit dem technokratischen Zahlenwerk PEPP ein überkommenes
Versorgungssystem. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Kosten und die Qualität
dieses auf stationäre Behandlung ausgerichteten Systems aus dem Ruder laufen. Längst
häufen sich landauf landab die Beschwerden von Nutzern und Angehörigen über die Zustände
in der Psychiatrie und den Zugang zur Hilfe bei psychischen Problemen. In mancherlei
Hinsicht haben wir heute Verhältnisse wie vor der PsychPV.
Neue Versorgungsformen gibt es: Psychiatrische Regionalbudgets in mittlerweile 14
deutschen Landkreisen zeigen höhere Patienten- und Angehörigenzufriedenheit bei stabilen,
weil vorher vertraglich vereinbarten Budgets. Mindestens dreimal so viele Landkreise
würden Versorgungsbudgets machen, wenn nicht die Krankenkassen als Verhandlungspartner
zögern würden. Dabei sind die Modellvorhaben im neuen Entgeltgesetz vorgesehen. Thomas
Schillen, Hanau und Martin Heinze, Rüdersdorf zeigten wie innovative Versorgungsmodelle
geplant, verhandelt und umgesetzt werden. Interessanterweise gibt es Regionen, z. B.
in Sachsen, in denen die AOK aktiv Versorgungsbudgets sucht, während die Verhandlungen
in den südlichen Bundesländern nicht vorankommen. Warum das Bundesgesundheitsministerium
enorme Ressourcen für ein visionsloses Zahlenwerk verschwendet und nichts tut, um
Modellprojekte auf den Weg zu bringen, das bleibt ein Geheimnis.
Innovative Entwicklungen werden wohl auch zukünftig davon abhängen, dass sich mutige
und zähe Einzelkämpfer Verbündete suchen und sinnvolle Reformen durchsetzen. Es wurde
sehr deutlich, dass es bei ackpa keine Anzeichen dafür gibt, im Hamsterrad eines verkappten
DRG-Systems zu resignieren.
Der Widerstand gegen diesen Irrweg wird weitergehen.
Martin Zinkler, Heidenheim