Der Klinikarzt 2013; 42(12): 539
DOI: 10.1055/s-0034-1368105
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Apallisches Syndrom – Immer ein Dilemma

Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
20 January 2014 (online)

Hospizkultur und Palliativkompetenz haben in den vergangenen Jahren zu einer positiven Entwicklung der verschiedenen Formen der Begleitung von Sterbenden und Schwerstkranken beigetragen. Dies sowohl im somatischen, psychosozialen, spirituellen wie auch im ethischen Bereich. Zum letzteren bietet dieses Heft mit dem von J. Atzpodien als Herausgeber zum Leitthema Ethik exzellent zusammengestellten Hauptteil eine gute und hilfreiche Übersicht.

Ethische Normen haben keine generelle Rechtsverbindlichkeit. Und wenn sich ethische und juristische Probleme noch auf unklare medizinische Basisfakten stützen, kann es erst recht prekär werden, wie ich es nachfolgend am Beispiel des apallischen Syndroms aufzeigen möchte.

Das Dilemma beginnt bereits bei der Definition des apallischen Syndroms. Ersatzweise wurden auch Status vegetativus oder das Syndrom reaktionsloser Wachheit vorgeschlagen. Jedenfalls geht es um Mitmenschen mit schwerster Hirnschädigung ohne Reaktion auf visuelle, akustische oder taktile Stimulation bzw. Schmerzreize. Vegetative Funktionen können überwiegend erhalten sein, die Wahrnehmungsfähigkeit aller Wahrscheinlichkeit allerdings nicht. Aber reicht das aus, nach den „Empfehlungen des Berufsverbandes der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe“ ggf. auch lebensverkürzende Maßnahmen für indiziert zu halten? Die Rechtslage gebietet, dass lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen dann einzustellen sind, wenn eine gültige Patientenverfügung oder eine glaubhafte Aussage eines Betreuers oder Bevollmächtigten hierfür vorliegt.

Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband DHPV hat in einer gemeinsam mit dem Hospiz- und PalliativVerband Nordrhein-Westfalen erarbeiteten Antwort an die westfälischen Palliativmediziner davor gewarnt, sich auf juristisches und ethisches Glatteis zu begeben und mahnt wegen der Unklarheit zur Vorsicht. Persönliche, sogar medizinische Gründe können für eine grundsätzliche Reichweitenbegrenzung auf einen beginnenden Sterbeprozess sprechen. Ein Status vegetativus oder apallisches Koma sind nicht zwingend Sterbevorgänge. Und außerdem: Mit einer wissenschaftlich konsensuierten Latentzeit von posttraumatisch 12 Monaten sprechen wir frühestens nach diesem Zeitraum von einem andauernden Status vegetativus. Bis dahin hat man bei einem kleinen Prozentsatz der Betroffenen erlebt, dass sich zumindest zwischenzeitlich Gehirnfunktionen teilweise erholen konnten. Auch bei dem berühmten Fall der Terri Schiavo soll es sich „nur“ um einen „minimal concious State (MCS) gehandelt haben. Wir Ärzte sind stets aufgerufen, bei unseren Patienten unter Begleitung ihrer Angehörigen das Leben in seiner Gesamtheit und Sterben als ein Teil des Lebens zu begreifen. Wir wollen helfen, das Leben – und somit auch ein Sterben – in Würde zu ermöglichen.

In der gemeinsam vom Deutschen Hospiz- und PalliativVerband DHPV, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin DGP und der Bundesärztekammer entwickelten „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ besteht auch in dieser Auslegung völlige Einigkeit. Wir wissen, dass hierzu Schmerzfreiheit und gleichzeitig Geborgenheit in vertrauter Umgebung, möglichst im Kreis der Familie und Freunde, eine kompetente palliativmedizinische pflegerische Betreuung sowie eine verlässliche psychosoziale und spirituelle Begleitung gehören. Dies haupt- wie ehrenamtlich.

Allgemeine Empfehlungen sind meines Erachtens nicht immer hilfreich, zumal insbesondere aus gesellschaftlichen Gründen immer noch die Gefahr besteht, dass eine allzu weitgehende Liberalisierung ethischer Prinzipien zu unaufhaltsamen Dammbrüchen führen könnte.

Leider trägt ein Kommentar des Hauptautors der oben zitierten Empfehlungen wenig zur grundsätzlichen Klärung bei: „Die Empfehlung (s. o.) betrifft lediglich Patienten im vegetativen Status mit einer hoffnungslosen Prognose. Ob sie später auf andere Patienten erweitert werden kann, soll sich erst im Laufe ihrer Diskussion herausstellen….“