PPH 2014; 20(01): 52-53
DOI: 10.1055/s-0033-1363933
Quintessenz
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Special Observation and older persons with dementia/delirium: a disappointing literature review

Contributor(s):
André Nienaber
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Publication Date:
24 January 2014 (online)

Intensivbetreuung in der Gerontopsychiatrie

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(Foto: International Journal of Older People Nursing)

Auf der Tagung zum Thema Aggression und Gewalt in der Psychiatrie im Mai 2013 am KEH Berlin wurde ich anlässlich der Vorstellung unserer Ergebnisse zum Thema Intensivbetreuung in der Psychiatrie gefragt, ob es Erkenntnisse zu dem Thema in der Versorgung älterer Menschen beziehungsweise im Bereich der Gerontopsychiatrie gibt. Wie die Arbeit von Dewing in der März-Ausgabe des International Journal of Older People Nursing zeigt, gibt es Erkenntnisse – allerdings sowohl aus Sicht der Praxis als auch der Wissenschaft ziemlich enttäuschende.

Fragestellung: Die Fragestellung der Literaturübersicht von Dewing lautet, welche Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Literatur für das Thema der Intensivbetreuung in Bezug auf ältere Menschen mit der Diagnose einer Demenz oder einem Delirium vorliegen und welche Empfehlungen sich daraus für die Bereiche Praxis und Forschung ableiten lassen.

Hintergrund: „Special Observation“, in der deutschen Übersetzung „besondere Beobachtung“ und inhaltlich am besten als „Intensivbetreuung“ übersetzt, kommt in der akuten Versorgung von Patienten mit der Diagnose einer demenziellen Erkrankung oder einem Delirium in den meisten psychiatrischen Versorgungseinrichtungen vor. In der Fachliteratur zur Versorgung von Menschen mit Demenz ist schwer etwas zu dem Thema zu finden. Nach einem Gespräch mit Praktikern zu dem Thema wurde eine Literaturrecherche zur Intensivbetreuung in der Versorgung von Menschen mit Demenz durchgeführt.

Methode: Die Literaturrecherche erfolgte in den Datenbanken CINAHL, BNI und PsycINFO. Als Suchbegriffe wurden verwendet: special; observation; 1:1 observation; constant observation und 1:1 nursing (allein und kombiniert) und dementia/delirium. Der Fokus der Literaturrecherche richtet sich auf den Zeitraum 2000 bis 2010.

Ergebnisse: Die Mehrzahl der Publikationen zu „special observation“ stammt aus dem Bereich United Kingdom. Für den Einsatz von „special observation“ in der Versorgung älterer Menschen mit Demenz oder Delirium liegen keine empirischen Arbeiten vor. Auch eine zusätzliche Handsuche in drei peer-reviewed (→ [Glossar]) Journals zum Thema Pflege von älteren Menschen der Jahrgänge 2005 bis 2010 ergaben keine neuen Erkenntnisse. Die Anwendung von „special observation“ in der Praxis der gerontologischen Versorgung scheint sehr unterschiedlich und ist nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt. Insgesamt werden acht unterschiedliche Themenbereiche identifiziert:

  1. Eigenschaften der Intensivbetreuung,

  2. Definitionen,

  3. Gründe für Intensivbetreuungen,

  4. Anwendungshäufigkeit,

  5. Einbeziehung,

  6. Gleichstellungsfragen,

  7. Zusammenhang mit anderen Interventionen,

  8. eine zusammenfassende Betrachtung.

Diskussion: Die Diskussion greift die einzelnen Themen auf. Zu den Eigenschaften der Intensivbetreuung zählt, dass sie in der Begleitung von Patienten eingesetzt wird, für die eine Gefahr/Risiko im Hinblick auf Eigen- oder Fremdgefährdung angenommen wird. Die Intervention wird in einigen Untersuchungen als „aufdringlich und quälend“ [1] kritisiert, die zudem hohe Kosten verursacht. Intensivbetreuung wird mit Psychiatrischer Pflege in Verbindung gebracht.

Oftmals wurde und wird die Intervention als Überwachung oder Aufsicht angesehen und als kustodial beschrieben und nicht als therapeutische Aktivität. In diesem Zusammenhang findet sich auch die Bezeichnung eines „Sitters“ [1]. Diese Beschreibung der Tätigkeit findet sich in drei Publikationen aus den USA und Australien. Zu Recht stellt der Autor den Gebrauch dieser Beschreibung für die aus pflegerischer Sicht fachlich sehr anspruchsvolle Intervention in Frage.

In der Literatur finden sich unterschiedliche Definitionen und Beschreibungen der Intervention. Es werden zwei oder drei bis hin zu fünf unterschiedliche Intensitäten unterschieden. Zum Teil nehmen Pflegende selbstständig aufgrund eigener Einschätzung Veränderungen der Intensität vor. Der Vorgang der Einschätzung im Vorfeld der Intensivbetreuung wird als wichtiger Bereich zukünftiger Forschung beschrieben.

Die Entscheidung basiert auf der Grundlage eines angenommenen Risikos. Die Einschätzung dieses Risikos und die Bewertung erfolgen nicht einheitlich und sind Gegenstand von Diskussionen. Der Einsatz von Intensivbetreuungen als Bestandteil umfassender Gesundheitseinschätzungen bei älteren Menschen, zum Beispiel im Hinblick auf die Prävention von Stürzen, wird diskutiert. Ob das Sturzrisiko ein entscheidendes Kriterium für eine Intensivbetreuung darstellen kann, wird mit einem Verweis auf eine aktuelle Untersuchung beantwortet, die zeigt, dass eine Intensivbetreuung wohl keine vorbeugende Maßnahme zur Verhinderung von Stürzen sein kann.

In Bezug auf die Anwendungshäufigkeit und die Dauer finden sich Unterschiede. Zeiträume von zwei Stunden bis 89 Tagen werden beschrieben. Fehlende Kriterien zur Reduzierung beziehungsweise Beendigung der Intensivbetreuung führen zu langer Dauer und unnötiger Anwendung. Hieraus können Probleme resultieren, sowohl für den Patienten selbst als auch für die therapeutische Beziehung. Darüber hinaus entstehen durch die Intervention hohe Kosten.

Die Intervention wird oftmals von Hilfs- oder Servicemitarbeitern durchgeführt, die die betreffenden Patienten nicht kennen. So wird ein Verständnis der Intervention als reine Überwachung gefördert. Überlegungen, Hilfspersonal für die Durchführung von Intensivbetreuungen einzustellen, werden als Anekdote beschrieben. Zumal es bei Menschen mit einem hohen Risiko oder bei älteren Personen mit der Diagnose Demenz oder Delirium mit herausfordernden Verhaltensweisen einer sehr fundierten Risikoeinschätzung und fachlichen Fähigkeiten versierter und erfahrener Pflegender bedarf.

Erhebliche Kompetenzen sind erforderlich, um eine Person mit Demenz oder Delirium zu begleiten und die schwierige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten. Dass Pflegende viel Zeit für die Intensivbetreuung einzelner Patienten aufwenden und diese Zeit nicht aktiv gestalten, sondern eine Zeitschrift lesen, wird ebenfalls als anekdotenhaft beschrieben.

Die Gleichstellung ist ebenfalls ein sehr wichtiger Aspekt der Intervention in dem Spannungsfeld zwischen passiver Überwachung und therapeutischer Einbeziehung. Bei der Entwicklung von Leitlinien muss dieser Punkt berücksichtigt werden.

Beim Einsatz der Intervention bei älteren Patienten mit der Diagnose Demenz oder Delirium müssen wichtige Aspekte, wie Umgebung oder soziale Betreuungsstrategien, berücksichtigt werden. Der Einsatz nichtpharmakologischer Pflegemaßnahmen ist Mittel der ersten Wahl. Ziel muss es sein, vorhandene Reize auszugleichen und eine kognitive Überforderung der Betroffenen zu vermeiden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es keine Untersuchungen zum Thema der Anwendung von Intensivbetreuungen bei älteren Menschen mit der Diagnose Demenz oder Delirium gibt. Die Evidenzlage ist beklagenswert schwach. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich keine Beiträge, die sich mit der Intensivbetreuung bei älteren Menschen mit der Diagnose Demenz beschäftigen. Informationen für Pflegende, wie ältere Menschen mit den beschriebenen Diagnosen Intensivbetreuungen verstehen oder erfahren, existieren nicht.

Vor diesem Hintergrund fordert Dewing, dass Führungspersonen eine klare Haltung einnehmen und Intensivbetreuung als eine professionelle und verantwortungsvolle pflegerische Aktivität ansehen. Pflegende müssen für die Durchführung der Intervention vorbereitet und unterstützt werden. Beginn, Überprüfung und Beendigung von Intensivbetreuungen erfolgen auf Grundlage beschriebener Kriterien unter Einbezug des multiprofessionellen Behandlungsteams.

Eine Untersuchung beschreibt, dass eine Einschätzung für die Maßnahme durch einen Clinical Nurse Specialist (→[Glossar]) oder eine Person mit gleichwertiger Ausbildung durchgeführt wurde. Weiterhin wurden Pflegende darin geschult, aufgeregte und unruhige Patienten mit aggressiven Verhaltensweisen aktiv zu begleiten.

Schlussfolgerung: Bei der Arbeit handelt es sich um eine Literaturübersicht aufgrund einer systematischen Literaturrecherche (→ [Glossar]). Die Strategie der Suche ist grob beschrieben, ebenso die Gründe, die zum Ausschluss von Publikationen führten. Die Suche wurde auf einen bestimmten Zeitraum eingegrenzt. Eine Analyse und Bewertung der Qualität der eingeschlossenen Arbeiten erfolgte nicht.

Glossar

Peer-Review: Anonymes Begutachtungsverfahren zur Beurteilung der wissenschaftlichen Qualität eines Manuskripts vor einer Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift [2].

Clinical Nurse Specialist (CNS): Fortgeschrittene Rolle in der Pflege, in der Regel Master-Niveau. Die Rolle beinhaltet klinische Praxis, Fort- und Weiterbildung, Forschung und Führung [3].

Systematische Literaturrecherche: „Suche nach Literatur nach einer bestimmten geplanten Methodik“ [4]. Transparente und nachvollziehbare Dokumentation der Recherchestrategie [5].

Die Veröffentlichungen zum Thema Intensivbetreuung in der gerontopsychiatrischen Versorgung sind enttäuschend. Wissenschaftliche Nachweise zur Intervention für die beschriebene Patientengruppe fehlen völlig. Im Hinblick auf die Anwendung von Intensivbetreuungen in der Praxis zeigt sich eine breite Varianz. Vor diesem Hintergrund sind kritische Fragen an die Praxis zur Anwendung und Auswertung der Maßnahme zu stellen. Im Hinblick auf die Erstellung einer gerontologischen Wissensbasis müssen die Prioritäten noch benannt werden.

André Nienaber