Hintergrund
Aus dem Alltag
„Er hat mich beschimpft und mir die Akte aus der Hand geschlagen“, erzählt Ergotherapeutin
Irene noch recht erschüttert im Team. Solche und ähnliche Situationen werden häufig
erlebt, aber selten fasst jemand den Mut und berichtet darüber so wie Irene. Dabei
erleben Mitarbeiter aus Sozial-, Betreuungs- und Gesundheitsberufen immer wieder aggressive
Reaktionen. Das Spektrum der Aggressionsformen reicht von Anschreien über Beißen,
erniedrigenden Beschimpfungen bis hin zu Kratzen, Schlagen oder Zwicken. Solche Situationen
sind lästig, belastend und zu Recht unerwünscht. Sie lösen oft ein Gefühl des persönlichen
Versagens aus, weshalb Betroffene nur ungern darüber reden. Dieses Erleben kann sich
vermischen mit Angst, Schrecken, Empörung und Verunsicherung. Bedenkt man das Kommunikationsaxiom
von Watzlawick, dass man nicht „nicht kommunizieren“ kann, stellt sich die Frage,
welche Reaktion denn nun angemessen ist [1].
Ein aggressiver Mensch ist nicht böse
Der Psychologe Icek Ajzen geht davon aus, dass unsere Einstellung unser Handeln prägt
[2]. Vor diesem Hintergrund lohnt sich die Überlegung: Sieht man in einem aggressiv
reagierenden Klienten einen bösen Menschen? Oder sieht man in ihm einen Menschen,
der sich in einer solchen Not oder Bedrängnis befindet, dass ihm vielleicht aus diesem
Grund ein Zugriff auf angemessenes Verhalten nicht mehr möglich war? Es ist dabei
weniger von Bedeutung, ob das Not- oder Angsterleben tatsächlich berechtigt ist oder
nicht. Entscheidend ist, dass der Klient im Augenblick diese Not erlebt. Ein Beispiel:
Ein ehemaliger Architekt, der aufgrund einer Demenz im Pflegeheim lebt, interpretierte
eine ungefährliche Pean-Klemme als gefährliche Schere. In logischer Konsequenz musste
er die vermeintliche Schere wegschlagen, um sich selbst zu verteidigen. In einem anderen
Beispiel erlebte die 82-jährige Frau Wagner* die gut gemeinte Äußerung, sie müsse
ihren Löffel auf eine bestimmte Weise halten, um den Mund besser zu erreichen, als
rechthaberisches Einmischen in ihre Privatsphäre. Vermischt mit der Angst, was aus
ihr werden wird, sah sie keinen anderen Ausweg, als die Therapeutin anzuschreien,
dass sie überhaupt nichts müsse.
Aus der Perspektive der Klienten
Im einen Fall war die Klemme, im anderen Fall das Wort „müssen“ der Schlüsselreiz
für die Klienten. Obgleich eigentlich ungefährlich, waren diese Schlüsselreize kausale
Ursache für alles Weitere: Es folgte die Deutung. Und mit der Deutung stellte sich
bei den Klienten das entsprechende Gefühl ein. Zum Beispiel die Bedrohung der eigenen
Integrität, eine erlebte Geringschätzung, Ungerechtigkeit oder sogar Gefahr (Abb.).
Abb. Reagiert ein Klient aggressiv, geht in der Regel ein Schlüsselreiz voraus. Mit der
Frage „Was ist passiert?“ kann die Therapeutin die Situation deeskalieren und den
Trigger für das aggressive Verhalten herausfinden.
(Abb.: A. Brauner nach J. Nau)
Tipps
Das aggressive Verhalten „containern“
In solchen Situationen geht es nicht darum, das Verhalten des Aggressors zu betrachten,
sondern was hinter seinem Verhalten steckt. Sofern aus Sicherheitsgründen kein energisches
Stopp gefordert werden muss, empfiehlt es sich, das aggressive Verhalten für den Augenblick
zu „containern“ (Abb.): Man legt es in ein gedachtes Kästchen und spricht es erst nach Beruhigung der aggressiven
Episode an.
Aggressives Verhalten kann man als einen Mitteilungsversuch auslegen. Ziemlich sicher
wird es sich um eine Mitteilung von Belastung wie Unverstandensein, Schmerz, erlebte
Missachtung, Angst, Verzweiflung handeln. Allerdings ist das zu dem Zeitpunkt nicht
eindeutig klar, denn die Mitteilung ist stark verschlüsselt und eventuell noch mit
Schimpfwörtern gespickt.
„Was ist passiert?“ fragen
Im nächsten Schritt geht es darum, herauszufinden, was der Schlüsselreiz war und wie
man im Weiteren damit umgeht. Dabei sollte man nicht in das „Ratespiel-Fettnäpfchen“
treten: „Ist es das oder das …?“ Besser überlässt man das dem Klienten und fragt ihn
sinngemäß und wiederholt gegebenenfalls: „Was ist passiert?“ So erfährt man, was der
Klient über sich, über eine Sache oder über seine Wünsche sagt. Diese Frage enthält
sechs deeskalative Metakriterien: wertschätzen, klären, Angst abbauen, orientieren,
Lösungen vereinbaren und Ruhe [3].
Wer fragt, was passiert ist, signalisiert, dass der andere ihm wichtig ist. Er möchte
klären, und das reduziert unbegründete Ängste, sorgt für Orientierung, und schafft
die Grundlage für Lösungen.
Gemeinsam nach Lösungen suchen
In unserem Beispiel schrie Frau Wagner die Therapeutin an: „Ich muss überhaupt nichts!“
Ungünstig wären Antworten wie: „Stellen Sie sich nicht so an“, „Ich will nur Ihr Bestes“,
oder „Das ist doch nur ein Löffel“. Nichts spricht dagegen, ganz ruhig zu reagieren
und zu sagen: „Frau Wagner, Sie haben recht“ (wertschätzen). „Erzählen Sie mir, was
Sie gerade so aufregt“ (klären). Natürlich kann es vorkommen, dass Frau Wagner im
Moment kein Gespräch sucht. Auch das ist in Ordnung. Den wichtigsten Schritt hat man
bereits geschafft: Man ist aus der Eskalationsspirale ausgestiegen. Die Situation
kann man auch später aufklären. Frau Wagner berichtet kurz darauf, dass ständig Leute
über sie bestimmen würden. Freilich sei dies gut gemeint, trotzdem halte sie es kaum
aus, wie ihr selbstbestimmtes Leben schwindet. Zwischendurch spiegelt die Therapeutin,
was sie verstanden hat (klären, orientieren). Sie fasst die Situation zusammen und
bietet der Seniorin an, dass diese immer ergänzen und korrigieren kann (weitere Orientierung).
So verschwindet das Diffuse, und der Boden wird wieder spürbar. Die Frage „Was glauben
Sie, würde Ihnen in einer solchen Situation am besten helfen?“, leitet weiter zum
nächsten gedanklichen Schritt (Lösungen vereinbaren). Es ist oft erstaunlich, welche
kreativen Lösungen man gemeinsam finden kann, wenn man den Weg dafür frei macht [4].
Kein Risiko eingehen
Ein wichtiges Kriterium darf man nie vergessen: Auf keinen Fall sollten Therapeuten
ein Risiko eingehen. Dafür reicht es zunächst, auf genügend Körperdistanz zu achten.
In gravierenden Fällen sollten sie mögliche Ausweich- und Fluchtwege im Blick haben.
Hier hilft es, auf sein Bauchgefühl zu hören. Denn das spiegelt die gesamte Lebenserfahrung
mit Menschen wider. Wer sich also in der Nähe eines angespannten Klienten nicht wohlfühlt,
sollte das ernst nehmen und für Distanz sorgen.
Aggressives Verhalten im Gesundheits- und Sozialwesen hat immer eine Bedeutung und
ist Ausdruck dahinterliegender Bedürfnisse und Emotionen. Ziel ist es, diese zu erkennen,
im Reinen mit sich bleiben zu können und sie wertschätzend, ohne Schuldzuweisungen
zu verstehen [5].