Unter dem Begriff akutes Koronarsyndrom (acute coronary syndrome, ACS) werden die
Phasen der koronaren Herzerkrankung zusammengefasst, die unmittelbar lebensbedrohlich
sind. In der klinischen Praxis sind dies die instabile Angina pectoris (IA), der Nicht-ST-Hebungsinfarkt
(NSTEMI) und der ST-Hebungsinfarkt (STEMI). Diese Erkrankungen sind nicht selten –
im Gegenteil: Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind koronare Herzkrankheiten
weltweit nach wie vor die Todesursache Nummer 1 [
1
].
Allein in Deutschland starben 2011 mehr als 120 000 Menschen an koronaren Durchblutungsstörungen
[
2
]. Eine Untersuchung verdeutlicht die Zahlen noch einmal: Demnach werden in deutschen
Krankenhäusern jährlich 400 000 Patienten wegen eines akuten Koronarsyndroms behandelt.
Etwa 80 % davon kommen nach einem Herzinfarkt und 20 % mit einer instabilen Angina
pectoris in die Klinik [
3
]. Damit verursacht das akute Koronarsyndrom die meisten herzbezogenen Krankenhausaufenthalte.
Zudem ist das Risiko für einen weiteren und potenziell tödlichen Anfall nach einem
ersten Herzinfarkt sehr hoch [
4
]. Zur Sekundärprävention ist daher eine eff ektive und langfristige Behandlung erforderlich.
Signifikant verringerte kardiovaskuläre Mortalität
Mit Ticagrelor (Brilique®) steht seit Januar 2011 ein oraler Thrombozytenaggregationshemmer zur Verfügung,
der in der Zulassungsstudie PLATO[
1
] sowohl die Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse als auch die kardiovaskuläre Mortalität
signifikant stärker senkte als Clopidogrel [
5
]. Der orale Thrombozytenaggregationshemmer ist für alle Formen des akuten Koronarsyndroms
zugelassen und kann sowohl bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom (ACS) eingesetzt
werden, die rein medikamentös behandelt werden, als auch bei Patienten, bei denen
eine perkutane Koronararterienintervention (PCI) und/oder eine Koronararterienbypass-Operation
(CABG) vorgenommen wird [
6
]. In der PLATO-Studie wurde die Therapie mit Ticagrelor (2-mal täglich 90 mg, Initialdosis
180 mg) mit Clopidogrel (1-mal täglich 75 mg, Initialdosis 300 oder 600 mg) bei mehr
als 18 600 Patienten, die einen Herzinfarkt erlitten hatten oder an instabiler Angina
erkrankt waren, verglichen. Zusätzlich nahmen die Patienten Azetylsalizylsäure (ASS)
ein. Sie wurden bis zu 1 Jahr lang behandelt. In der Studie konnte gezeigt werden,
dass der primäre Endpunkt, das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses (zusammengesetzt
aus kardiovaskulärem Todesfall, Myokardinfarkt oder Schlaganfall), unter Ticagrelor
signifikant stärker gesenkt wurde als unter der Therapie mit Clopidogrel (9,8 versus
11,7 %, p < 0,001) [
5
]. Die relative Risikoreduktion betrug 16 %. Die Substanz ist der erste orale Thrombozytenaggregationshemmer,
der die kardiovaskuläre Sterblichkeit von ACS-Patienten im Vergleich zu Clopidogrel
in einer kontrollierten klinischen Studie signifikant senken konnte (4,0 versus 5,1
%, p = 0,001). Die relative Risikoreduktion der kardiovaskulären Mortalität lag in
PLATO bei 21 % (Abb. [
1
]) [
5
]. In der Subgruppe der Patienten, die maximal 150 mg Azetylsalizylsäure eingenommen
hatten, lag die relative Risikoreduktion sogar bei 29 % (absolute Risikoreduktion
1,3 %; p < 0,0001) (Tab. [
1
]).
Abb. 1 Signifikant stärkere Senkung der kardiovaskulären Mortalität durch Ticagrelor (nach
[
1
]).
Tab. 1 Resultate der PLATO-Studie im Überblick und bezogen auf Subgruppen (nach [
13
]).
Effekt in allen Subgruppen ausgeprägt
Vorteile zeigte Ticagrelor auch bei den sekundären Endpunkten (Tab. [
1
]). So traten Myokardinfarkte allein in 5,4 % der Fälle auf, im Clopidogrelarm waren
6,4 % der Patienten davon betroff en. Verstarben unter Ticagrelor 3,8 % der Patienten
aufgrund kardiovaskulärer oder zerebrovaskulärer Ursachen, waren dies unter Clopidogrel
4,8 % [
6
]. Auch bei Patienten mit Nicht-ST-Hebungsinfarkt und instabiler Angina pectoris wies
Ticagrelor eine signifikant höhere Wirksamkeit als der Komparator auf: Die Inzidenz
des kombinierten primären Studienendpunkts sank Daten einer Subgruppenanalyse mit
mehr als 11 000 Studienteilnehmern zufolge signifikant um relative 17 % (10,0 vs.
12,3 %, p = 0,001) [
7
].
Darüber hinaus führte Ticagrelor in der Subgruppe der STEMI-Patienten zu einer relativen
Risikoreduktion des primären Endpunkts um 13 % [
8
]. Sogar noch effektiver war die Therapie mit Ticagrelor bei STEMI-Patienten, die
ASS in niedriger Dosierung erhielten: Die relative Rate des kombinierten primären
Endpunkts sank bei diesen Patienten im Vergleich zu Clopidogrel signifikant um 28
% (6,2 vs. 8,5 %; HR 0,72; p = 0,0007) [
13
]. Auch beim sekundären Wirksamkeitsendpunkt kardiovaskulär-bedingter Tod zeigte sich
in dieser Patientengruppe ein Vorteil für Ticagrelor: Die relative Risikoreduktion
betrug hier 27 % (Tab. [
1
]).
Weniger Stentthrombosen – unabhängig vom Stenttyp
Bei 60,6 % der Patienten wurden vor Studienbeginn bzw. im Studienverlauf ein oder
mehrere Stents implantiert. Auch in diesem Patientenkollektiv verhindert Ticagrelor
Thrombosen wirkungsvoller als Clopidogrel [
9
]: Unter der Kombinationstherapie von Ticagrelor und ASS sank das Risiko für eindeutige
Stentthrombosen im Vergleich zu Clopidogrel plus ASS signifikant (1,37 vs. 1,93 %,
HR 0,67, p = 0,009) – und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen STEMI oder einen
NSTEMI handelte sowie unabhängig vom eingesetzten Stenttypen (mit Medikamenten beschichtete
oder unbeschichtete Stents). Zudem verminderte Ticagrelor in PLATO das Risiko bedeutender
erster (HR = 0,84, p < 0,001) und nachfolgender klinischer Ereignisse (HR = 0,80,
p < 0,001) sowie deren Gesamtzahl [
10
].
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat am 15. Dezember 2011 als Abschluss der frühen
Nutzenbewertung von Ticagrelor nach § 35a SGB V einen Beschluss veröffentlicht, in
dem für Ticagrelor ein Zusatznutzen für folgende Indikationen anerkannt wurde:
-
beträchtlicher Zusatznutzen bei Patienten mit NSTEMI und instabiler Angina pectoris,
-
nicht quantifizierbarer Zusatznutzen bei STEMI-Patienten mit perkutaner Koronarintervention
(PCI), die einen ischämischen Schlaganfall oder eine transitorische ischämische Attacke
hatten oder älter als 75 Jahre sind und nicht für eine Behandlung mit Prasugrel in
Frage kommen.
Für die folgenden Patientengruppen konnte kein Zusatznutzen festgestellt werden:
-
STEMI-Patienten, die eine PCI erhielten (mit Ausnahme der oben genannten),
-
STEMI-Patienten, die einen Bypass erhielten,
-
STEMI-Patienten, die medikamentös behandelt wurden.
Ticagrelor gilt nach § 106 Abs. 5a SGB V in den Indikationen, in denen der G-BA dem
Wirkstoff einen Zusatznutzen zugesprochen hat, als Praxisbesonderheit [
13
]. Die Verordnung dieser Substanz wird im Falle einer Richtgrößenprüfung aus dem Praxisbudget
herausgerechnet. Es gibt keine Erstattungsausschlüsse für Ticagrelor.
Anwendbar bei einem breiten Patientenspektrum
Letztlich waren die Daten der PLATO-Studie auch ausschlaggebend für die Empfehlung
der Kombinationstherapie aus Ticagrelor plus ASS für alle Patienten mit einem akuten
Koronarsyndrom – unabhängig von der Behandlungsstrategie und einer Clopidogrelvorbehandlung
– in den Leitlinien der "European Society of Cardiology" (ESC) mit einem Evidenzgrad
IB [
11
], [
12
]. Die Einnahme der Substanz soll mit einer Initialdosis von 180 mg begonnen und dann
mit 90 mg 2-mal täglich fortgesetzt werden. Es wird empfohlen, die Therapie wenn möglich
bis zu 12 Monate fortzuführen [
6
].
Mit Ticagrelor behandelte Patienten zeigten in PLATO häufiger leichte Blutungen wie
Nasenbluten oder Hämatome sowie ein erhöhtes Risiko für schwere Blutungen, die nicht
auf eine koronare Bypassoperation zurückzuführen waren. Die Gesamtzahl der schweren
Blutungen unter Ticagrelor war jedoch nicht häufiger als unter Clopidogrel (11,6 vs.
11,2 %, p = 0,43). Zu den Nebenwirkungen von Ticagrelor gehören Dyspnoe und bradykarde
Ereignisse [
5
].
Bettina Reich, Hamburg
Dieser Artikel entstand mit freundlicher Unterstützung der AstraZeneca GmbH, Wedel.
Die Autorin ist freie Journalistin.