Im Rahmen der Untersuchungen zu einem anderen Thema stieß der Autor bei der Durchsicht
der Jahrgänge
1932–1945 der „Klinischen Monatsblätter für Augenheilkunde“ zufälligerweise auf die
Arbeit
„Sehphysiologische Untersuchungen an menschlichen Netzhäuten. 1. Die Farbsubstanzen“
von G. v. Studnitz
[1] ([Abb. 1]). Die Arbeit wirkt auf den
ersten Blick „völlig harmlos“, da die Herkunft der untersuchten Augen nicht angegeben
ist. Ihr
Hintergrund offenbart sich aber bei genauer Analyse auch demjenigen, der sich mit
den sehr vielfältigen
Facetten der „Augenheilkunde im Nationalsozialismus“ [2] bisher nicht befasst
hat. Da es sich bei den Untersuchungen um menschliche Netzhäute handelte, die Entnahme
der Bulbi
„unmittelbar post mortem bei rotem Dunkelkammerlicht“ erfolgte und vor allem „in einer
zweiten
Versuchsserie die Dunkeladaptation bereits vor dem Exitus vorgenommen werden konnte“,
ergibt sich
zweifelsfrei, dass der Tod planbar war, es sich bei der „Gelegenheit hierzu“ (Anmerkung:
zur
Untersuchung menschlicher Augen) also um Hinrichtungen handelte.
Abb. 1 Titel der Arbeit [1].
Gotthilft von Studnitz wurde 1908 in Kiel geboren. Nach Studium der Physiologie, Zoologie,
Botanik und
Geologie in Kiel und Breslau promovierte er 1930 in Kiel, wo er sich 1935 auch habilitierte.
Ab 1936 war
von Studnitz zunächst als Assistent in Halle/Saale tätig, 1937 trat er der NSDAP bei,
1941 wurde er
„außerplanmäßiger Professor“, 1942 schließlich ordentlicher Professor für Zoologie
und Direktor des
zoologischen Instituts und Museums der Universität Halle [3]. Gotthilft von
Studnitz war nach 1945 beruflich in Lübeck tätig. Er starb 1994 in Bad Schwartau bei
Lübeck.
Wissenschaftlich beschäftigte sich von Studnitz vor allem mit den Sehpigmenten. 1941
erhielt er einen
Forschungsauftrag von den Farbenwerken Wolfen, 1942 einen solchen vom Oberkommando
der Marine. Letzterer
diente dem Ziel, die Dunkeladaptation von (Marine-) Soldaten zu verbessern und Blendwirkungen
zu
vermindern. Der Auftrag war also eindeutig wehrmedizinisch motiviert. In Verfolgung
der
Forschungsprojekte trat von Studnitz Anfang 1944 an den Staatsanwalt in Halle heran
mit der Bitte,
Hinrichtungen „für wissenschaftliche Zwecke modifiziert“ vornehmen zu lassen. Der
Bitte wurde
stattgegeben. Dieser Vorgang und das Schreiben von Studnitzʼ waren seit Längerem bekannt
[2], [4], [5]. Nach
Kenntnis des Autors war bisher aber nicht bekannt, ob und wo die Untersuchungsergebnisse
publiziert
wurden. Es waren zumindest zu einem wesentlichen Teil die „Monatsblätter“ mit der
„unscheinbaren Arbeit
von 1944“.
Stefan Töpel und Frank Tost aus Greifswald waren die ersten, die auf Untersuchungen
an den Augen eines
Hingerichteten hingewiesen haben [6], [7].
Insbesondere Neuropathologen, Pathologen und Anatomen [8] haben bereits vor
Jahren damit begonnen, die „zweifelhafte Herkunft“ von Gewebeproben für morphologische
Untersuchungen
aus der NS-Zeit zu thematisieren und eine entsprechende Sichtung ihrer Sammlungen
vorzunehmen. Zu
berücksichtigen bleibt indes, dass die ethischen Standards im Wesentlichen erst nach
1945 und gerade als
Antwort auf die NS-Medizinverbrechen formuliert wurden, und dass Hinrichtungen seinerzeit,
selbst wenn
sie oft aus höchst nichtigem Anlass erfolgten, „legal“ waren. Und so können wir nach
derzeitigem
Kenntnisstand noch nicht einmal ausschließen, dass (ophthalmo-) morphologische Untersuchungen
an den
Augen Hingerichteter bereits in der Weimarer Republik und im Kaiserreich, also schon
vor 1933 und bei
erheblich geringerer Hinrichtungsfrequenz, praktiziert wurden.
Angesichts der Herkunft der Augen dürfte und sollte die wissenschaftlich-nüchterne
Zusammenfassung ([Abb. 2]) bei den heutigen Lesern Nachdenklichkeit hervorrufen. Festzuhalten
bleibt, dass von „bedenklichen“ Arbeiten, die im Zeitraum 1933–1945 publiziert wurden,
nicht nur
„Graefes Archiv“ [6], [7], sondern auch die
„Klinischen Monatsblätter“ betroffen waren.
Abb. 2 Zusammenfassung der Ergebnisse [1].