Es gibt ein breites und vielfältiges Angebot an psychosozialen Therapien in Deutschland.
Die Inanspruchnahme dieser Therapien scheint sich aber weniger an wissenschaftlicher
Evidenz als vielmehr an regionalen Gegebenheiten zu orientieren. Eine exemplarische
Studie der Versorgungslage in 4 unterschiedlichen deutschen Regionen zeigte beispielsweise,
dass es auch in strukturschwachen Regionen psychosoziale Angebote gibt, die Nutzung
der Angebote aber starken regionalen Schwankungen unterliegt [1].
Psychosoziale Therapien sind in erster Linie eine Domäne der ambulanten Versorgung.
Angesichts der fortschreitenden, durch die Einführung des neuen Entgeltsystems weiter
forcierten Verkürzung der stationären Aufenthaltsdauern ist zu erwarten, dass die
Bedeutung der ambulanten Versorgung und damit auch der psychosozialen Therapien weiter
steigen wird. Dies gilt besonders für schwer und chronisch psychisch kranke Menschen.
Für diese Klientengruppe entscheidet sich vor allem in der ambulanten Versorgung,
inwieweit relevante Outcomes wie zum Beispiel Beschäftigung, selbstständiges Wohnen
oder allgemein eine hohe Lebensqualität erreicht werden – Recovery findet nicht in
der Klinik, sondern in der Gemeinde statt [2]. Psychosoziale Therapien spielen dabei eine zentrale Rolle, denn sie setzen da an,
wo sich eine Erkrankung im Alltagsleben manifestiert.
Die neue S3-Leitlinie zu psychosozialen Therapien [3] bietet erstmals eine umfassende Würdigung der Evidenz für die Wirksamkeit psychosozialer
Interventionen. Als dritte Säule therapeutischer Interventionen in der Psychiatrie
neben den somatischen und den psychotherapeutischen Behandlungsangeboten erfahren
psychosoziale Therapien damit nicht nur eine evidenzbasierte wissenschaftliche Aufwertung,
sondern es besteht die Hoffnung einer höheren Akzeptanz dieser Verfahren in der psychiatrisch-psychotherapeutischen
Community. In erster Linie bietet die neue Leitlinie aber eine große Chance, die Versorgung
schwer psychisch kranker Menschen mit psychosozialen Therapien zu verbessern. Sie
bietet die Möglichkeit, durch einen Vergleich der aktuellen Versorgungslage mit den
Leitlinienempfehlungen Stärken und Schwächen der aktuellen Versorgung abzubilden und
die Richtung für zukünftige, evidenzbasierte Entwicklungen in der Versorgung vorzugeben.
In einem Editorial in der Psychiatrischen Praxis haben Thomas Becker und Steffi Riedel-Heller,
die maßgeblich an der Entstehung der Leitlinie beteiligt waren, die Frage aufgeworfen,
wie die Versorgungsforschung die Implementierung der Leitlinie begleiten und unterstützen
kann [4]. In diesem Beitrag wollen wir diese Frage aufgreifen. Wir möchten Überlegungen vorstellen,
welche konkreten Fragestellungen sich für die Versorgungsforschung prioritär ergeben,
um die Implementierung der Leitlinie zu unterstützen.
Besonderheiten der Versorgung mit psychosozialen Therapien
Besonderheiten der Versorgung mit psychosozialen Therapien
Die in den Leitlinien gewürdigten, sehr heterogenen Therapien und Strukturen weisen
mehrere Besonderheiten auf, die eine besondere Herausforderung für eine wissenschaftliche
Bestandsaufnahme darstellen. Die Implementierung dieser Leitlinie unterscheidet sich
dadurch erheblich von der Implementierung anderer Leitlinien. Das Spektrum der Leitlinie
ist breit: Es reicht von den Grundlagen der therapeutischen Beziehung über Systeminterventionen
wie Case Management, Arbeitsrehabilitation und Wohnangebote bis zu Einzelmaßnahmen
wie Psychoedukation, Peer-to-peer-Beratung, Selbsthilfe, Ergotherapie und künstlerische
Therapien. Damit fokussiert die Leitlinie nicht nur auf diagnoseübergreifendes Denken
und Handeln, sondern bezieht sich im besten Sinne auf multiprofessionelles, teambasiertes
Arbeiten im psychiatrisch-psychotherapeutischen Kontext. Jenseits einer traditionell
ärztlich betonten Sichtweise werden hier auf evidenzbasierter Grundlage alle in der
Psychiatrie und Psychotherapie tätigen Berufsgruppen und darüber hinaus auch Angehörige
bzw. Peers angesprochen und ihre Rolle in der psychosozialen Versorgung adressiert.
Indem verschiedene Akteure des sozialen Umfelds einbezogen werden, sind die Grenzen
zwischen medizinischem Versorgungssystem und gesellschaftlichem Kontext fließend.
Sektorenübergreifende Versorgung
Viele Inhalte der Leitlinie beziehen sich auf Bereiche außerhalb der stationären Psychiatrie,
aber auch außerhalb der krankenkassenfinanzierten ambulanten Psychiatrie. Der Grund
dafür ist die Sektorisierung der psychosozialen Versorgung, bei der eine Vielzahl
von gemeindepsychiatrischen Angeboten nicht über die Krankenkassen oder die Rentenversicherung,
sondern kommunal oder länderspezifisch (im Bereich des SGB XII) geregelt ist. Eine
angemessene Betrachtung der Versorgungsrealität muss also kostenträger- und anbieter-
bzw. sektorenübergreifend erfolgen [5].
Dabei machen die Kostenträgerstruktur und die Anbietervielfalt eine Vernetzung und
enge Abstimmung auf lokaler Ebene notwendig, die entscheidend für die Qualität der
Versorgung ist. Fachärzte, medizinische und psychosoziale Einrichtungen, Betreuer,
Vereine und nicht zuletzt die Betroffenen selbst können Knotenpunkte in solchen lokalen
Netzwerken sein und damit die Art und Qualität der Versorgung vor Ort maßgeblich bestimmen.
Das bedeutet, dass die Qualität der psychosozialen Versorgung auf der regionalen Ebene
entsteht und maßgeblich von den lokalen Strukturen und den Akteuren vor Ort abhängig
ist [1]. Eine Untersuchung der psychosozialen Versorgung muss daher die Region als Erbringer
bestimmter Versorgungsleistungen in den Fokus nehmen.
Starker Einfluss therapieferner Faktoren
Umgekehrt bedeutet dies für die Implementierung der Leitlinie, dass die Vielfalt der
Anbieter und Kostenträger dazu führt, dass Veränderungen auf ganz unterschiedlichen
ordnungspolitischen Ebenen direkten Einfluss auf die Versorgung haben. Beispielsweise
können Veränderungen der Verfügbarkeit von „Ein-Euro-Jobs“, der kommunalen Finanzierung
von Hilfsangeboten, der Kostenübernahme von ambulanten Krankenkassenleistungen und
die Bewilligungspraxis von Rehabilitationsmaßnahmen jeweils unabhängig voneinander
Einfluss auf die psychosoziale Versorgung der Betroffenen haben. Im Vergleich zur
Implementierung von Leitlinien in anderen Themenfeldern (z. B. auf dem Gebiet der
Pharmakotherapie) erschwert die Vielfalt der Anbieter, Strukturen und Einflussgrößen
die Dissemination und Implementierung der Leitlinie zu psychosozialen Therapien. Dies
trifft auch für das Erheben relevanter Daten im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation
zu.
Was steht drauf, was ist drin?
Bei einer Untersuchung des Umsetzungsgrads einer Leitlinie müssen die Prozesse betrachtet
werden, die tatsächlich bei der Behandlung von Klienten ablaufen. Es greift dabei
zu kurz, diese Prozesse nur als Inanspruchnahme von Leistungen definierter Anbieter
darzustellen. Psychosoziale Hilfen und Interventionen werden teilweise parallel von
verschiedenen Anbietern unter verschiedenen Bezeichnungen angeboten, verfolgen inhaltlich
aber dasselbe Ziel. So kann Alltagstraining als Leistung der gesetzlichen Krankenkasse
sowohl im Rahmen von Ergotherapie, Soziotherapie oder ambulanter psychiatrischer Krankenpflege
angeboten werden; außerhalb des Bereichs der GKV kann Alltagstraining aber auch im
Rahmen von betreutem Wohnen oder durch den sozialpsychiatrischen Dienst erfolgen.
Unter dem Label „psychiatrische Krankenpflege“ können sich die verschiedensten Inhalte
von der alleinigen Kontrolle der Medikamenteneinnahme bis hin zu intensivem Hometraining
verbergen. Untersuchungen zur Implementierung der Leitlinie sollten daher von der
Klientensicht ausgehen. Es interessiert vor allem, welche Interventionen und dazugehörigen
Prozesse einen Klienten tatsächlich erreichen und erst in nachgeordneter Linie, wer
die Leistung erbringt. Ob die Versorgungsleistungen für einen individuellen Klienten
tatsächlich angemessen sind, kann im Einzelfall nur schwer entschieden werden. Die
Angemessenheit einer Versorgung, die so komplex ist wie die psychosoziale Versorgung,
kann deshalb nur aus der Populationsperspektive bewertet werden, etwa im Vergleich
verschiedener Populationen in verschiedenen Versorgungsregionen.
Fragen an die Versorgungsforschung
Fragen an die Versorgungsforschung
Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten der psychosozialen Therapien stellen
sich folgende Forschungsfragen zur Umsetzung der neuen S3-Leitlinie:
1. Welche psychosozialen Therapien werden von Klienten in Anspruch genommen?
Psychosoziale Versorgung ist in der Gemeinde angelegt und funktioniert auch nur in
der Kooperation regionaler Leistungserbringer wie Ärzten, Ergotherapeuten und psychosozialen
Diensten. Die Untersuchungseinheit und die Einheit, in der Implementierung verglichen
werden kann, muss daher die Region sein. Dabei spielen 3 Größen eine Rolle:
-
Die regionalen Versorgungsstrukturen: Welche Anbieter psychosozialer Hilfen sind in der Region vorhanden? Wie unterscheiden
sich Regionen hinsichtlich der in ihnen vorhandenen psychosozialen Strukturen?
-
Die Prozesse: Inwieweit nehmen Klienten in einer definierten Region psychosoziale Therapien in
Anspruch? Dies kann nur im Rahmen einer systematischen Befragung von Klienten erhoben
werden. Dabei ist es weniger wichtig, von welchen Leistungserbringern die Klienten
ihre Versorgung beziehen, sondern eher was sie tatsächlich an psychosozialen Versorgungsprozessen
erhalten. Die in einer solchen versorgungsepidemiologischen Studie zu erfragenden
Prozesse sollten sich an den in der Leitlinie empfohlenen Versorgungsprozessen orientieren.
-
Die Ergebnisse: Relevante Endpunkte und damit Parameter der Ergebnisqualität psychosozialer Versorgung
umfassen unter anderem objektive Kriterien wie z. B. Heimeinweisung, Berentung, Aufnahme
einer Arbeit, Krankenhauseinweisungen, sowie subjektive Kriterien wie gesundheitsbezogene
Lebensqualität oder Recovery. Auch diese Ergebnisse sind nur aus Populationssicht
und damit auf regionaler Ebene relevant.
2. Was sind die Charakteristika von Klienten, die psychosoziale Versorgung in Anspruch
nehmen?
Hier geht es vor allem darum, die Frage nach Unter-, Über- und Fehlversorgung zu beantworten.
Dabei ist Überversorgung nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Ressourcenallokation
ein Thema, sondern vor allem unter dem Aspekt von Abhängigkeit und Selbstständigkeit
und Empowerment. Die Frage, wann eine ausreichende psychosoziale Versorgung erfolgt
ist, wann und wie ein Ausstieg aus der Versorgung indiziert ist und wie dieser erfolgen
soll, ist dabei zentral und in ihrer Brisanz nicht zu unterschätzen. Diese Fragen
sind methodisch durch epidemiologische Untersuchungen der Charakteristika der Klienten
anzugehen. Um die bisher wenig bearbeitete Frage nach der Beendigung von psychosozialer
Versorgung und der Entlassung der Klienten in den eigenverantworteten Alltag anzugehen,
sind hingegen eher qualitative Forschungsansätze geeignet.
3. Welche Strukturen und Prozesse fördern eine Implementierung der Leitlinie, wo sind
Barrieren?
Diese Frage kann durch Analysen und Vergleiche von Regionen, in denen es gut gelingt
die Leitlinie zu implementieren mit Regionen in denen dies weniger gut gelingt angegangen
werden. Dabei können je nach Datenlage Strukturen und Prozesse in den unterschiedlichen
Regionen mit den klientenrelevanten Ergebnissen in Beziehung gesetzt werden. Eine
andere methodische Möglichkeit, die etwas unabhängiger von der Qualität von Struktur-,
Prozess- und Ergebnisdaten wäre, ist ein qualitativer Ansatz mittels Experteninterviews.
Überall herrscht ein bestimmtes Wissen über Förderbedingungen und Barrieren zur Implementierung
psychosozialer Versorgung vor. Allerdings ist dieses Expertenwissen immer eng verknüpft
mit Eigeninteressen auf dem Markt der psychosozialen Therapien [6]. Die Herausforderung einer qualitativen Untersuchung dieser Frage wird daher eher
in der Berücksichtigung der Vielfalt der Positionen und im Reflektieren der Unterschiedlichkeiten
der Meinungen sein. Aufschlussreich könnte auch eine detaillierte Untersuchung relevanter
Einstellungen der Behandler sein: welche Einstellungen und Haltungen führen zu einer
Verordnung von leitliniengerechten psychosozialen Therapien? Hier stehen etablierte
verhaltenstheoretische Modelle zur Verfügung [7], die bisher aber vor allem in Bezug auf traditionelle medizinische Maßnahmen angewandt
wurden [8].
Fazit
Die Leitlinien zu psychosozialen Therapien bei schweren psychischen Störungen weisen
auf ein Gebiet der psychiatrischen Versorgung hin, das trotz seiner enormen Relevanz
für das Wohlergehen der Betroffenen bisher von der Versorgungsforschung kaum beachtet
worden ist. Die vorgestellten Überlegungen und Ansätze sollen dazu beitragen, dies
zu ändern. Sie zeigen, dass sich anhand der Leitlinien relevante und realisierbare
Forschungsansätze entwickeln lassen, die eine Umsetzung der Leitlinie unterstützen.
Notwendig ist jetzt eine gezielte Förderung dieser Forschung.
Danksagung
Der Beitrag wurde durch das Referat psychosoziale Versorgungsforschung der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
(DGPPN) eingeladen und unterstützt.
Die komplette S3-Leitlinie sowie weitere relevante Publikationen mit Gliederung und
PowerPoint-Präsentationen zum Download finden Sie unter: http://www.dgppn.de/dgppn/struktur/refera te/versorgung0/s3-leitlinie-psychosoziale-therapien-bei-schwe
ren-psychischen-erkrankungen.html