Psychiatr Prax 2014; 41(02): 68-69
DOI: 10.1055/s-0033-1359944
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Betreuungsrecht: gut gemeint, aber mangelhaft realisiert – Pro

Guardianship Law: Well Meant, but Deficiently Realized – Pro
Rolf D. Hirsch
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Prof. Dr. Dr. Dipl.-Psych. Rolf D. Hirsch
Ermekeilstraße 36
53113 Bonn

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Publication Date:
26 February 2014 (online)

 

Pro

Das 1992 in Kraft getretene Gesetz zur Betreuung Volljähriger, welches das alte Vormundschaftsrecht ersetzen soll, gilt als Meilenstein in der Sozialgesetzgebung. Ausdrücklich soll es das Selbstbestimmungsrecht des Betreuten unterstützen und den Betreuer verpflichten, den Willen und die Wünsche des Betreuten nicht nur zu achten, sondern diese auch gegenüber Dritten durchzusetzen. Die Geschäftsfähigkeit und das Wahlrecht sollten dadurch nicht eingeschränkt sein.


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Der Betreuer ist bei all seinen Entscheidungen und Tätigkeiten verpflichtet, allein dem Wohle des Betreuten zu dienen. Eingerichtet sollte eine Betreuung nur nach dem Erforderlichkeitsprinzip werden und nur für die Aufgabenkreise, die der Betroffene aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung selbst nicht mehr regeln kann. Endlich sollte die bloße Verwaltung von bis zu 200 Menschen – „Mündel“, wie es das alte Vormundschaftsrecht zuließ – und deren völlige Entrechtung ein Ende haben. Sinnvollerweise erfolgte die Umbenennung der Vormundschaftsgerichte in Betreuungsgerichte – allerdings erst 2009.

Liest man das Gesetz und hört man sich manche Vorträge und Diskussionen zum Betreuungsrecht auf Fachtagungen und Kongressen an, so entsteht der Eindruck, dass dieses geachtet wird, alle Beteiligten sich danach richten und es zum Segen für die Betreuten ist. Mag dies auch in der überwiegenden Zahl der Betreuungen so sein, so wäre man blauäugig, wenn man die zunehmende Anzahl von Beschwerden über den Missbrauch dieses Gesetzes nicht ernst nähme [1]. So gehen z. B. beim Notruf- und Krisentelefon der „Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter – Handeln statt Misshandeln e. V.“ seit Jahren zahlreiche Beschwerden von Betroffenen und deren Angehörigen, aber auch von Betreuern, ein, die sich über die Willkür der Umgangsweise mit dem Betreuungsgesetz und der Schädigung von Betreuten beklagen. Diese Beschwerden richten sich gegen Betreuer, Ärzte, Richter, Kliniken und Heime. Mögliche Kontrollinstanzen scheinen zu versagen. Gab es auch seit 1992 mehrere Veränderungen im Betreuungsgesetz, so besteht der Eindruck, dass ein durchaus soziales Gesetz zunehmend in ein ökonomisches verändert wurde, welches eher nach pekuniärem, strukturellem und Sicherheitsdenken ausgerichtet ist als nach humanitärem. Zahlreiche Schilderungen, die auch durch Schriftstücke und Beteiligte belegt werden können, führen zu dem Schluss, dass nach dem Prinzip „Was nicht sein kann, auch nicht sein darf“ Gesetzesbrüche ignoriert, toleriert und verharmlost werden. Zum Beispiel alte Menschen fühlen sich oft entrechtet und ihrer Würde beraubt. Die sehr weiche und zu rasch gestellte Diagnose „Demenz“, die im medizinischen Gutachten häufig unzureichend belegt wird, wird vom Betroffen nur zu oft als „Entmenschlichung“ empfunden [2]. Vermisst wird oft der Arzt, der Fürsprecher eines Patienten sein sollte („nihilnocere“).

Die am Betreuungsverfahren Beteiligten setzen sich oft unzureichend mit den Konsequenzen für den Betroffenen, die daraus entstehen können, auseinander. Nicht umsonst ist der nicht ausrottbare Fachjargon, dass eine Person „unter“ Betreuung steht. Sprachlich wird ausgedrückt, was real geschieht: eine Entmündigung der betreffenden Person. Verdeutlicht wir damit, dass der Betreute „nichts mehr zu sagen hat“ oder wie der Spiegel schreibt „Als Depperte abgestempelt“ werden [3].

Schon der Begriff „Betreuung“ birgt sehr widersprüchliche Assoziationen. Ist auch der Zusatz „rechtliche“ Betreuung hilfreich, so ändert dies wenig am Vorverständnis der Betroffenen. Viele Betroffene haben Angst vor allem, was mit dem Gericht zu tun hat. Sie fühlen sich „angeklagt“ und wissen nicht warum. Eine Sensibilität hierzu im Vorfeld würde manches erleichtern.

Leider muss ein Richter die Angehörigen des Betroffenen beim Verfahren nicht anhören. Es bleibt in seinem Ermessen, ob er dies tut. Ist auch vom Gesetz her vorgegeben, dass ein Volljähriger eine Person zum Betreuer vorschlagen kann und diesem Vorschlag zu entsprechen ist, so wird dies eingeschränkt durch die weiche Formulierung „wenn es dem Wohl des Volljährigen nicht zuwiderläuft“. Was das Wohl des Betroffenen ist, bleibt letztendlich im Ermessensspielraum des Richters. Doch: Kann er sich wirklich in die Lage des Betroffenen hineinversetzen? Nimmt er sich diese Zeit?

Heißt es auch im § 1897 Abs. 1 BGB, dass ein Betreuer „persönlich“ die rechtlichen Angelegenheiten des Betreuten vornehmen soll, so ist dessen Auslegung in der Praxis sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass der Betreute meist von einer psychosozialen Unterstützung ausgeht und nicht ausreichend darüber informiert ist, dass dies nicht Aufgabe eines Betreuers ist. Für manchen Betreuer, der seine Aufgaben ernst nimmt, ist es schwer, mit der dafür vorgesehenen Honorierung klarzukommen. Es erstaunt nicht, dass seit dem 2. BtÄndG im Jahr 2005 die Anzahl der persönlichen Kontakte der Betreuer gesunken ist. So bleibt es nicht aus, dass manche Betreuer über 80 Betreuungen haben. Leider gibt es keine zentrale Stelle, in welcher alle Betreuungen eines Betreuers aufgelistet sind. Die jeweilige Betreuungsbehörde hat so nur den Überblick darüber, wie viele Betreuungen ein Betreuer in ihrer zuständigen Region hat.

Keiner hat sich bei Einführung des Betreuungsrechts vorstellen können, dass die Anzahl der Betreuungen so fulminant steigen würde, wie dies der Fall ist. Im Jahr 2000 gab es bereits über 0,9 Mio., 2011 über 1,3 Mio. betreute Personen. Noch stellen Ehrenamtliche (meist Angehörige) den größten Anteil der Betreuer (62,2 %) [4]. Ihr Anteil sinkt aber von Jahr zu Jahr und der Anteil der Berufsbetreuer, insbesondere der der Rechtsanwälte, steigt dementsprechend. Eine bedenkliche Entwicklung! Gibt es auch zahlreiche Hinweise, dass ein Teil der Betreuungen nicht erforderlich wären – manche schätzen bis zu 1/3 – so ist eine der Hauptursachen das zunehmende Sicherheitsbedürfnis und übertriebene Rechtsempfinden von Kliniken, Pflegeheimen und Behörden. Sie wollen „abgesichert sein“, kein finanzielles Risiko eingehen und ihre Verantwortung dem Richter überlassen. Es ist makaber, wenn ein Arzt mit dem Hinweis auf seine „Schweigepflicht“ einer Ehefrau, die 40 Jahre mit dem Kranken verheiratet ist und deren Familienbande intakt sind, die Auskunft über die Erkrankung des Ehemanns verweigert. Manche Betreuung wird nur deshalb eingerichtet! Welches Menschenbild hat der Gesetzgeber, wenn er die Familie so unter „Generalverdacht“ stellt? Was ist aber dabei ärztliches Handeln? Ist der Arzt auch dem Gesetz und der der ärztlichen Kunst verpflichtet, so steht der Patient im Mittelpunkt seiner Bemühungen. Mit ihm und nicht über ihn zu entscheiden! Dies bedarf oft mehr Zivilcourage, Verantwortung und Menschlichkeit als reine juristische Spitzfindigkeiten.

Bewegungseinschränkende Maßnahmen sowie eine Zwangsmedikation dürfen nur mit Genehmigung eines Richters durchgeführt werden. Sind auch die gesetzlichen Hürden zu dessen Genehmigung hoch, so zeigt die Praxis, wenn „alle einig sind“ (Arzt, Pflegepersonal, Betreuer, Richter u. a.), dass es „mit Recht“ immer noch relativ leicht ist, diese zu erhalten. Nicht akzeptierbar ist, dass der Anteil der richterlich nichtgenehmigten Maßnahmen z. B. in Pflegeheimen bei 11 % liegt [5]. Belegbar ist, dass es z. B. ausreichende Alternativen zu Fixierungen („Fesselungen“) gibt und auch eine medikamentöse Zwangsmaßnahme in der Regel nicht der ärztlichen und pflegerischen Kunst entspricht. Zu unterschiedlich sind hierzu z. B. auch die Angaben der Einrichtungen und Regionen als dass man diese als zwingend notwendig erachten könnte [6].

Alternativ wird heute vorgeschlagen, möglichst frühzeitig eine Vorsorgevollmacht auszustellen. Hierzu gibt es Informationsstellen, Broschüren und Formulare. Natürlich sind mit der Ausstellung Risiken verbunden, die es abzuwägen gilt. Doch die Einmischung staatlicher Stellen und Fremder könnte verhindert werden.

Der Psychiater hat im Umgang mit dem Betreuungsrecht eine wichtige medizinische und ethische Aufgabe. Er soll „Anwalt des Patienten“ sein, nicht der Institutionen oder anderer Dritter. Er soll sich über die Konsequenzen für jeden einzelnen Menschen, dessen Betreuung er anregt oder als Gutachter [2] [7] wirkt, klar sein. Jeder Mensch ist einzigartig und hat eigene Bedürfnisse, Wünsche, seine ureigene Biografie und sein soziales Umfeld. Diese dürfen nicht in einer Diagnose münden und in der Betreuung untergehen. Der Arzt entscheidet mit, ob eine Betreuung Fluch oder Segen ist.


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Rolf D. Hirsch

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  • Literatur

  • 1 Hirsch RD, Halfen M. Anspruch und Realität der rechtlichen Betreuung. Bonner Schriftenreihe „Gewalt im Alter“. Band 9. Frankfurt am Main: Mabuse; 2003
  • 2 Hirsch RD. Von der gedankenlosen „Fürsorge“. BtPrax 2004; 4: 128-133
  • 3 Der Spiegel. „Als Depperte abgestempelt“. Der Spiegel 2013; 23: 54-57
  • 4 Betreuungslexikon-online. Betreuungszahlen. BtPrax-online Betreuungsrecht; 2013
  • 5 Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS). 3. Bericht des MDS nach § 114a Abs. 6 SGB XI. Essen: 2012
  • 6 Valdes-Stauber J, Wiederholt F, Kilian R. Gibt es unterschiedliche Tendenzen in der Anordnung von Betreuungen und Unterbringungen zwischen Großstadt und Land?. Psychiat Prax 2012; 39: 267-274
  • 7 Brosey D. Die Würdigung von Sachverständigengutachten in Betreuungs- und Unterbringungssachen unter Berücksichtigung aktueller Rechtssprechung. BtPrax 2011; 4: 141-144

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Prof. Dr. Dr. Dipl.-Psych. Rolf D. Hirsch
Ermekeilstraße 36
53113 Bonn

  • Literatur

  • 1 Hirsch RD, Halfen M. Anspruch und Realität der rechtlichen Betreuung. Bonner Schriftenreihe „Gewalt im Alter“. Band 9. Frankfurt am Main: Mabuse; 2003
  • 2 Hirsch RD. Von der gedankenlosen „Fürsorge“. BtPrax 2004; 4: 128-133
  • 3 Der Spiegel. „Als Depperte abgestempelt“. Der Spiegel 2013; 23: 54-57
  • 4 Betreuungslexikon-online. Betreuungszahlen. BtPrax-online Betreuungsrecht; 2013
  • 5 Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS). 3. Bericht des MDS nach § 114a Abs. 6 SGB XI. Essen: 2012
  • 6 Valdes-Stauber J, Wiederholt F, Kilian R. Gibt es unterschiedliche Tendenzen in der Anordnung von Betreuungen und Unterbringungen zwischen Großstadt und Land?. Psychiat Prax 2012; 39: 267-274
  • 7 Brosey D. Die Würdigung von Sachverständigengutachten in Betreuungs- und Unterbringungssachen unter Berücksichtigung aktueller Rechtssprechung. BtPrax 2011; 4: 141-144

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