Zahnmedizin up2date 2015; 9(2): 109-127
DOI: 10.1055/s-0033-1358110
Endodontologie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die vertikale Wurzelfraktur – eine klinische Herausforderung und ein pathogenetisches Phänomen

Claus Löst
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
26. März 2015 (online)

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Einführung

In der aktuellen Nomenklatur der American Association of Endodontists [1] wird die vertikale Wurzelfraktur (Vertical Root Fracture) unter dem Stichwort „Fracture“ als separate Entität unter den (verschiedenen Formen von) Zahnfrakturen erwähnt.

Charakteristika

Als Charakteristika dieser spezifischen Fraktur werden aufgeführt:

  • meist mit wurzelkanalbehandelten Zähnen assoziiert,

  • Ausbreitung eines in der Zahnwurzel beginnenden Risses okklusalwärts,

  • gewöhnlich bukkolingualer Frakturverlauf,

  • evtl. mit einem isolierten parodontalen Defekt kombiniert,

  • erschwerte röntgenologische Darstellung durch Überlagerung von Wurzelkanalfüll- und Materialien zur Zahnrestauration.

Diese in Einleitungen zu wurzelfrakturspezifischen Artikeln gerne zitierte Definition deckt sich jedoch nicht in allen Belangen mit Beobachtungen anderer Autoren bzw. eigenen Feststellungen des Autors.


Kasuistiken

Erste Kasuistiken und systematische Übersichten zu vertikalen Wurzelfrakturen datieren zurück in die 1970/1980er-Jahre [2]–[7] und wurden aufgrund der parodontalen Begleitsymptomatik vielfach von Parodontologen verfasst. Man sprach von der „Split Root“, der „Longitudinal“ oder „Vertical Root Fracture“ und führte als mögliche Kausalitäten die korrosionsbedingte Expansion endodontischer Stifte (Abb. [1]), die forcierte Insertion von Wurzelkanalstiften (Abb. [2]), Schwächung der Zahnwurzel durch Überinstrumentation (Abb. [3]) und exzessive Druckausübung während der Verdichtung von Guttapercha im Rahmen der Wurzelkanalfüllung [6], [7] an.

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Abb. 1 Beispiel für eine mit Korrosion assoziierte Wurzellängsfraktur. a Endständiger, im Spiegel fotografierter Zahn 36 mit einer in den distalen parodontalen Defekt 10 mm tief eingeführten, Anfang der 1980er-Jahre gebräuchlichen Plast-o-Probe (links). b Auf dem Röntgenzahnfilm ist die distale Wurzel von Zahn 36 mit einer ausgedehnten Osteolyse assoziiert. Der ungewöhnlich weite distale Wurzelkanal darf als Ausdruck einer bereits eingetretenen Separation zweier Wurzelhälften gedeutet werden. Metallischer Wurzelstift mit Anzeichen von Lochfraßkorrosion. c Nach Entfernung der Vollgusskrone und Hemisektion von Zahn 36 fällt die distale Wurzel unprovoziert in fast identisch große Hälften auseinander. Die behauptete Kausalität zwischen Metallkorrosion und Wurzellängsfraktur [2], [3] wird mittlerweile wissenschaftlich infrage gestellt. Möglicherweise war hier die Wurzellängsfraktur Voraussetzung für das Einsetzen korrosiver Vorgänge.
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Abb. 2 Wurzelsprengung bei Zahn 21 als mögliche Folge forcierten Inserierens eines großvolumigen Stiftkernaufbaus. a Überweisungsfall aus dem Jahre 1980 zur Abklärung einer „tiefen Zahnfleischtasche“. b Charakteristisch für eine länger bestehende Wurzellängsfraktur ist die im Rahmen einer explorativen Aufklappung dargestellte Knochendehiszenz, der für eine Wurzellängsfraktur eher untypische Frakturverlauf spricht dagegen für eine traumatische, iatrogene Einwirkung auf die Wurzel.
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Abb. 3 In der Parodontitissprechstunde einer Universitätszahnklinik Anfang der 1980er diagnostizierte Wurzellängsfraktur an Zahn 45. a Enger, auf die bukkale Medianlinie der Wurzel beschränkter parodontaler Defekt mit zusätzlicher Fistelöffnung in der keratinisierten Gingiva. b Zahn 35 ist wurzelspitzenreseziert. Die Entstehung der später klinisch verifizierten Wurzellängsfraktur wurde möglicherweise durch die übertriebene und zylindrisch-mechanische Wurzelkanalaufbereitung begünstigt. c Eine Röntgenaufnahme vom extrahierten Prämolaren lässt die Längsfraktur im apikalen Wurzeldrittel (Pfeil) – trotz Überlagerung mit dem hier zum Einsatz gekommenen großvolumigen Guttaperchastift – noch deutlicher in Erscheinung treten als in b.

Neuere Untersuchungen

Während der vergangenen zwei Dekaden ist die Zahl der Publikationen zum Thema der vertikalen Wurzelfraktur geradezu sprunghaft angestiegen. Eine kaum noch überschaubare Anzahl von Fallschilderungen und -zusammenstellungen und die mittlerweile zahlreichen experimentellen Untersuchungen zur Ätiologie und Diagnostik von vertikalen Wurzelfrakturen lassen den Eindruck aufkommen, als ob deren klinische Relevanz entweder vormals unterschätzt wurde oder aber in neuerer Zeit stärker hervorgetreten ist. Ereignen sich also vertikale Wurzelfrakturen, so wie es im Kollegenkreis kolportiert wird, aktuell sehr viel häufiger als früher? Oder ist das eine Fehleinschätzung derjenigen, die ihr Therapiespektrum weitgehend oder komplett auf Endodontie fokussiert haben, könnte doch eine überdurchschnittlich hohe Frequenz von Wurzelkanalbehandlungen – zeitversetzt – auch in einem gesteigerten Auftreten vertikaler Wurzelfrakturen resultieren? Oder liegt die gefühlte Zunahme vertikaler Wurzelfrakturen in der Praxis in einem breiter gestreuten Bewusstsein für diese Komplikation begründet oder darin, dass sie häufiger als bisher diagnostisch korrekt angesprochen bzw. mit geeigneter Methodik verifiziert wird? Sollten aber tatsächlich Wurzellängsfrakturen häufiger auftreten als früher, so stellt sich die Frage, welche Teilaspekte unserer modernen endodontischen Therapie – alleine oder in Kombination, Techniken und/oder eingesetzte Materialien – evtl. zur Entstehung dieser Komplikationen beitragen.


Inhalt dieses Beitrags

Dieser Artikel will auf die Existenz von Wurzellängsfrakturen in ihrer Vielschichtigkeit aufmerksam machen und insbesondere die diagnostischen Möglichkeiten wie auch Anforderungen herausstellen. Ferner werden der aktuelle Wissensstand zur Pathogenese, Ätiologie und zur Inzidenz von Wurzellängsfrakturen sowie die Therapieoptionen bei vorliegender Wurzellängsfraktur dargelegt. Zum Zwecke schnellerer Erfassbarkeit des Textes kommt im Folgenden als Alternative zum Begriff der vertikalen Wurzellängsfraktur das mittlerweile in der Literatur wie in der Fachsprache gebräuchliche Akronym VRF (Vertical Root Fracture) zum Einsatz.