Klinische Neurophysiologie 2013; 44(04): 221-222
DOI: 10.1055/s-0033-1355397
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Plastizität, Reorganisation und Rehabilitation

Plasticity, Reorganization and Rehabilitation·
U. Ziemann
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Publication Date:
20 December 2013 (online)

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Prof. Dr. Ulf Ziemann

Der Schlaganfall ist die dritthäufigste Todesursache in den westlichen Industrienationen und die häufigste Ursache bleibender alltagsrelevanter Funktionsstörungen. Die Schlaganfallinzidenz wird sich vor allem wegen der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung in den nächsten 40–50 Jahren etwa verdoppeln. Bereits jetzt ve­rursachen Schlaganfälle in Deutschland mehr als 10 Mrd. EUR an jährlichen direkten Kosten. Somit kommt einer Verbesserung des Neurorehabilitationserfolges nach Schlaganfall eine immense medizinische und volkswirtschaftliche Bedeutung zu.

Erst seit Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde vor allem durch aufsehenerregende Arbeiten US-amerikanischer Wissenschaftler wie Michael Merzenich, Jon Kaas oder John Donoghue das bis dahin vorherrschende Dogma zerstört, dass adulte und alte Gehirne kein Potenzial zu Plastizität und Reorganisation hätten [1] [2] [3]. Mittlerweile wird weltweit intensiv an den Grundlagen von Hirnreorganisation nach Schädigung geforscht und die Ergebnisse werden zunehmend translational in klinischen Studien bei Schlaganfallpatienten eingesetzt, um deren Erholung und langfristiges Outcome zu verbessern.

Dieses Themenheft „Plastizität, Reorganisation und Rehabilitation“ beleuchtet verschiedene Aspekte im hochdynamischen Feld der neurologischen Rehabilitationsforschung nach Schlaganfall. Joachim Liepert gibt im CME-Artikel einen Überblick über derzeit zur Anwendung kommende Techniken und Strategien in der neurologischen Rehabilitation von Schlaganfallpatienten mit motorischen Defiziten, inklusive einer Bezugnahme auf die aktuelle Evidenzbasis durch kontrollierte klinische Studien. Neben traditionellen und gegenwärtigen Ansätzen werden auch innovative Verfahren wie die nicht-invasive Hirnstimulation oder pharmakologische Therapien besprochen. Andreas Luft nimmt kritisch zu tierexperimentellen Ansätzen Stellung, die für Rationale und Design klinischer Studien zur Wirkung von neurorehabilitativen Verfahren bei Schlaganfallpatienten translationale Bedeutung haben. Er zeigt auf, dass Tiermodelle eine wertvolle experimentelle Plattform für mechanistische Hypothesen bilden, aber auch entscheidende Limitationen haben, da die (patho)physiologischen Prinzipien von Tiermodell und Patient nach Schlaganfall relevante Unterschiede aufweisen, sodass die Vergleichbarkeit eingeschränkt ist. Lukas Volz und Christian Grefkes geben einen Überblick, wie moderne bildgebende und neurophysiologische Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie und die transkranielle Magnetstimulation wesentlich dazu beigetragen haben, die Zusammenhänge zwischen struktureller Läsion, kortikaler Reorganisation und funktioneller Erholung nach Hirninfarkt besser zu verstehen. Zudem wird beschrieben, wie diese Verfahren auch dazu dienen können, das Erholungspotenzial einer motorischen Beeinträchtigung beim individuellen Schlaganfallpa­tienten durch neurologische Rehabilitation vorherzusagen. Diese neuen Befunde können zukünftig auch den Weg zu einer individualisierten Neurorehabilitation ebnen, die maßgeschneiderte Rehabilitationsverfahren auf der Grundlage einer funktionellen Analyse des individuellen residuellen neuronalen Netzwerkes selektiert. Sonja Suntrup und Rainer Dziewas geben einen umfassenden Einblick in traditionelle und neue Rehabilitationsansätze von Dysphagie nach Schlaganfall, einem eminent wichtigen klinischen Problem, das in der Akutphase ca. 50% aller Patienten betrifft und mit einer deutlich erhöhten Morbidität und Mortalität einhergeht. Besonderen Raum nehmen hierbei rezente Studien ein, die mittels transkranieller Magnetstimulation oder Gleichstromstimulation des schluckmotorischen Kortex oder durch elektrische Stimulation der Pharynxmuskulatur eine verbesserte Erholung der Schluckfunktion zeigen konnten. Florian Müller-Dahlhaus gibt eine Übersicht der neurobiologischen Grundlagen der Erholung nach Schlaganfall bis hin zu ersten vielversprechenden klinischen Studien zur Verstärkung der kortikalen Reorganisation durch nicht-invasive Hirnstimulation bei Schlaganfallpatienten. Niels Birbaumer, Stefano Silvoni und Ander Ramos schließlich geben eine Einführung in Gehirn-Maschine-Interfaces (Brain-Machine-Interfaces, BMIs), eine der spektakulärsten Innovationen in der experimentellen Neurorehabilitation. Hierbei übersetzt BMI Hirnsignale, die z. B. mittels EEG, Magnetoenzephalografie, funktioneller Kernspintomografie oder auch invasiv durch intrakortikale Mikroelektroden abgeleitet werden, in Signale für körper-externe Maschinen und Computer. Schlaganfallpatienten mit schwersten Paresen können hierdurch lernen, funktionelle Elektrostimula­tion der Muskulatur, Roboter oder Neuroprothesen anzusteuern und damit das defiziente eigene motorische System zu überbrücken.

Zusammengefasst vermittelt dieses Themenheft „Plastizität, Reorganisation und Rehabilitation“ Einblicke in die facettenreiche Gegenwart und Zukunft der Neurorehabilitation nach Schlaganfall, von tierexperimenteller Grundlagenforschung über Faktoren und Prädiktoren von erfolgreicher Neurorehabilitation bis zu innovativen und ­visionären neurophysiologisch basierten therapeutischen Strategien einer individualisierten und optimierten Neurorehabilitation. Es erweist sich immer mehr, dass das adulte und alte Gehirn des Menschen nach Läsion ein erstaunliches Potenzial zur Erholung und Reorganisation haben. Die Herausforderung an eine in greifbare Nähe gerückte Zukunft ist, dass sich neurorehabilitative Strategien dieses Potenzial immer besser nutzbar machen und hierdurch das funktionelle Outcome von Schlaganfallpatienten signifikant verbessern.

 
  • Literatur

  • 1 Merzenich MM, Kaas JH. Reorganization of mammalian somatosensory cortex following peripheral nerve injury. Trends Neurosci 1982; 2: 434-436
  • 2 Kaas JH, Merzenich MM, Killackey HP et al. The reorganization of ­somatosensory cortex following peripheral nerve damage in adult and developing mammals. Annu Rev Neurosci 1983; 6: 325-356
  • 3 Sanes JN, Donoghue JP. Plasticity and primary motor cortex. Annu Rev Neurosci 2000; 23: 393-415