Fortschr Neurol Psychiatr 2013; 81(8): 425
DOI: 10.1055/s-0033-1350349
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ist die Neurologie ein Zuwendungsfach?

Is Neurology a Care-Giving Specialty?
U. Meier
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Publication Date:
12 August 2013 (online)

Die „Fortschritte der Neurologie/Psychiatrie“ möchten ihre Leserinnen und Leser immer wieder in die fortlaufende Diskussion der Entwicklung unserer Fachgebiete mit einbeziehen. Demgemäß freuen wir uns, diesen Band mit einem Gast-Editorial beginnen zu können, in dem Herr Dr. Uwe Meier aus Sicht des Berufsverbandes Deutscher Neurologen zum Selbstverständnis dieses Fachgebiets Stellung nimmt.

Für die Herausgeber J. Klosterkötter

In den Gesprächen und Verhandlungen mit Vertretern der ärztlichen Selbstverwaltung, der Politik und den Krankenkassen werden wir immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob sich die Neurologie mehr als ein technisches Fach versteht oder auch als Zuwendungsfach. Zu den für die Neurologen in diesem Zusammenhang bedeutsamen berufspolitischen Themen gehören etwa die Novellierung und Flexibilisierung der Musterweiterbildungsordnungen einschließlich der Frage, welche Fachgruppen für sich Versorgung geriatrischer Patienten beanspruchen. Weitere Themen sind die Zulassung der neuropsychologischen Therapie als Kassenleistung für Psychologen und Neurologen und Psychiater sowie die weitere Aufweichung der Sektorengrenzen durch Einführung der Ambulanten Spezialfachärztlichen Versorgung. Letzteres folgt einer allgemein zu beobachtenden Tendenz einer Differenzierung der Versorgungsebenen in Grundversorger und Spezialisten.

Derartige Themen berühren immer wieder auch das Selbstverständnis der Neurologen und die Reflexion darüber, wie sich die Neurologie in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und wohin sie sich entwickeln soll.

Auf diesem Hintergrund ist ganz unzweifelhaft die Entwicklung der vaskulären Neurologie eine der großen versorgungspolitischen Errungenschaften in den letzten Jahrzehnten. Die deutschlandweite Etablierung von Stroke Units hat neben dem klaren Nutzen für die Patienten der Neurologie nach Innen zu einem erweiterten Selbstverständnis und nach Außen zu einem wachsenden Ansehen verholfen. Den Vätern und Geburtshelfern dieser Entwicklung kann hierfür nicht genug gedankt werden. Natürlich lassen sich auch andere Entwicklungen etwa in der Versorgung von Parkinson-Patienten oder in der Behandlung neuroimmunologischer Patienten und vieles Weitere nennen, die entscheidend zum Imagewechsel der Neurologie hin zum therapeutischen Fach einerseits und zur technischen Hochleistungsdiagnostik andererseits beigetragen haben. Diese Entwicklungen sind nunmehr fest verankert und kaum umkehrbar. Wie aber geht es weiter mit Neurologie? Haben die künftigen Entwicklungen ihren Schwerpunkt weiterhin im technischen Fortschritt und Spezialisierung und gibt es nicht auch Gefahren? Wie gestalten wir die oben genannten versorgungspolitischen Fragen auf diesem Hintergrund?

Die klinische Neurologie war immer geprägt durch einen hochanalytischen Sachverstand und durch differenzierteste klinisch-neurologische Untersuchungen. Wie sonst hätten die Urväter der Neurologie in der Zeit vor Bildgebung nur mit dem i. d. R. zu spätem Korrektiv der Pathologie dem komplexesten System im Universum, dem menschlichen Gehirn, nachkommen können? Dies führt uns auch zu der Frage, ob wir in den bestehenden Weiterbildungsstätten noch in der Lage sind, das gesamte Spektrum der Neurologie zu lehren und lernen. Natürlich haben wir nicht zuletzt aufgrund eines wachsenden forensischen und natürlich auch ethischen Druckes nicht mehr am Krankenbett die Zeit zu warten und einen neurologisch-topischen Diskurs zu entfachen, bis der Patient ein syndromatologisches Vollbild entwickelt. Der rasche Zugriff etwa auf ein MRT ist zweifelsohne ein Segen, birgt aber auch die Gefahr, dass unsere analytisch-intellektuellen Leistungen nicht mehr gefordert sind. Die gleiche Gefahr besteht durchaus auch in der Therapie, wenn sich die Neurologie ausschließlich auf eine technisch geprägte, intensivmedizinische und neuropharmakologische Betrachtung einschränkt. So wie wir bei Patienten mit Hirnschädigungen und kognitiven Beeinträchtigungen mehr Zeit für die Anamnese und Fremdanamnese brauchen, ist auch das therapeutische Gespräch und die Einleitung und Durchführung komplextherapeutischer Maßnahmen an mehr Zeit gebunden. Dies ist auch nur, wenn überhaupt, sehr begrenzt delegierbar.

Wir sollten das gesamte Spektrum der Neurologie, einschließlich der Neuropsychologie und Neuropsychiatrie im Auge behalten und durch intelligentere Weiterbildungssysteme sicherstellen, dass auch die nächste Neurologengeneration das gesamte Spektrum von vaskulärer, degenerativer und immunologischer Erkrankungen einschließlich der peripheren Neurologie und der neurologischen Grenzgebiete in der kognitiven und affektiven Neurologie sowie der neurologischen Schmerzkrankheiten erlernen können – zweifelsohne eine Herkulesaufgabe für die Neurologie, sich auf diese Anforderungen ein- und unsere Versorgungsstrukturen hierauf abzustellen.

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Dr. Uwe Meier