Kontra
Nein, wir brauchen keine Umbenennung des psychiatrischen Facharztes „Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie“. Warum denn ändern? Da haben wir nun seit knapp über
200 Jahren [1]
[2]
[3] eine adäquate Bezeichnung dessen, was wir tun, nämlich „Psychiaterie“, eine Wortschöpfung
des Visionärs Johann Christian Reil (1759 – 1813) aus den griechischen Wörtern „psyche“
für Seele und „iatro’s“ für Arzt, welche die Beziehung zwischen ärztlich-medizinischem
Handeln und der psychischen Situation und Problematik eines zu behandelnden Patienten
anspricht. Maneros [3] weist auf Reils „Rhapsodieen“ [4] von 1803 hin, wo, im Sinne einer Antistigmakampagne, nach der Einführung der Bezeichnung
„Psychiatrie“ die „Irrenhäuser“ eine neue Benennung wie „Hospital für psychische Kurmethode“
bekommen und Psychiater nur bestens ausgebildete Ärzte werden sollten.
1805 war so von Johann Gottfried Langermann (1768 – 1832) (nach [5]
[6]) zwei Jahre nach Erscheinen der Reilschen „Rhapsodieen“ (1803) [4] das sog. Prinzessinnenhaus, das Irrenhaus St. Georg in Bayreuth in eine „Psychische
Heilanstalt für Geisteskranke“, wahrscheinlich die erste in Deutschland, umgewandelt
worden.
In „Ueber den Begriff Medicin und ihre Verzweigungen, besonders in Berichtigung der
Topik der Psychiaterie“, erschienen in Halle 1808, schreibt Reil [1] nicht nur bereits in der Überschrift von „Psychiaterie“, sondern betont, dass die
Unterschiede zwischen den Krankheiten „bloß relative Differenz“ seien: „Daher finden
wir auch niemals reine psychische, oder reine chemische oder mechanische Krankheiten,
sondern in allen strahlt das Ganze wieder: Affektion des einen Lebensprozesses der
bald diese, bald jene seiner Seiten stärker herauswirft“ (Reil 2008, zitiert nach
[3]). Kann man dem Visionär Reil hier bereits eine ganzheitliche Betrachtungsweise zuschreiben,
die – überspringt man 200 Jahre – im „Common-trunk-model“ als mögliche Facharztbezeichnung
„Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin“ oder im „Facharzt
für Psychiatrie“ (verstanden im klassischen Reilschen Sinne) mit Schwerpunkten wie
„Psychosomatische Medizin“ und andere endet oder gehört die „Ganzheits-Medizin“ doch
Johann Christian August Heinroth (1773 – 1843) [7], dem die Schöpfung des Begriffes „psychosomatisch“ zugeschrieben wird? Neben der
Arzneikunde und der Chirurgie hält Reil (2008) die Psychiatrie für einen der drei
wichtigsten Hebel der Medizin. Psychiatrie ist für Reil (2008) eine medizinische Wissenschaft,
Psychologie sei für die „Theorie der Psychiaterie“ fundamental.
Nun ist Reil sicher nicht der Urvater der Psychotherapie, was ja aus dem Griechischen
kommend nach Kind (1986) [8] „der Seele dienend“ heißt; der Begriff soll erst im ausgehenden 19. Jahrhundert
geschaffen und, so Kind (1986), erstmals von Tuka (1872) (nach [8]) in dem Buch „Illustrations of the influence of the maint upon the body“ im Kapitel
„Psychotherapeutics“ verwendet worden sein. Reil (1803) [4] schreibt: „Denn es giebt noch andere Dinge, die Heilmittel sind, weil sie Krankheiten
heben; aber weder chemisch, noch mechanisch, sondern psychisch wirken. Diese Kräfte,
die psychisch wirken, liegen auch, wenn sie auf den bestimmten Zweck der Heilung der
Krankheiten hinwirken, innerhalb der Grenze der Heilmittellehre“ (S. 25) und fordert
als Qualifikation für die Ausübung der „psychischen Curmethode“ „ … ein vorzügliches
Talent, großen Scharfblick, mehr Kenntnisse und Fähigkeiten … als jeder andere Heilkünstler,
der direct auf den Körper wirkt“ ([4], S. 32).
Man sieht also, der Begriff „Psychiaterie“, wenige Jahre später in „Psychiatrie“ umbenannt,
beinhaltet bereits alles an psychotherapeutisch-psychiatrischer und psychosomatisch-psychiatrischer
Kompetenz, was den heutigen „Psychiater“/die heutige „Psychiaterin“ ausmacht. Fassen
wir zusammen: Auf den „Narrenarzt“, der nach Haisch [9] im Zusammenhang mit der Errichtung der ersten Hospitäler 15. bis 17. Jahrhundert
in Deutschland durch die großen Städte und Landesherren, auftauchte – Medicus oder
Kurpfuscher? –, folgte Anfang des 19. Jahrhunderts der „Psychiater“, an dessen Ausbildungsstand
ein hoher Anspruch gelegt wurde. Ziel war die Humanisierung der „Irrenhäuser“, die
Reil (1803) in „Heilanstalten“ umwandeln wollte zur Durchführung der „psychischen
Curmethode“ – siehe seinen „Schüler“ Langermann, der in Bayreuth die wahrscheinlich
erste „Psychische Heilanstalt“ in Deutschland errichtete [5]
[6]. Die Implementierung „der psychischen Curmethode“ als Psychotherapieform neben dem
chirurgischen Eingriff oder der Pharmakotherapie; auch Fragen wie Ausbildung der Psychiater,
Antistigma, Qualitätssicherung – in heutiger Sprache – oder biologische Basis der
psychischen Erkrankungen zusammen mit der Relevanz psychischer und sozialer Faktoren
waren wesentliche Themen [3]
[4]
[6].
Warum also den „Facharzt für Psychiatrie“ bzw. „Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie“
(seit 1994) ändern? Ich erinnere mich an eine heftige Diskussion in der DGPPN-Mitgliederversammlung,
als der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie eingeführt und diskutiert wurde:
Warum die Umbenennung, da „Psychiatrie“ doch die psychologisch-psychotherapeutische
Dimension bereits beinhalte, wie vor 200 Jahren Reil bereits beschrieben hat. Es war
letztlich eine „politische“ Entscheidung in der Diskussion mit der Psychosomatik,
deren Vertreter der Psychiatrie eine einseitige biologisch-psychopharmakologische
Orientierung vorwarfen (was ja bis heute nicht ganz abgeklungen ist). Verdeutlicht
werden sollte durch die Einbeziehung einer Behandlungsmethode in die Facharztbezeichnung,
dass der Psychiater eindeutig auch Psychotherapeut sei. Was zur obligaten, bis dahin
freiwilligen, Psychotherapie-Weiterbildung der Psychiater und zu einer Implementierung
psychotherapeutisch-psychosomatischer Angebote und zur Verbesserung der Reintegration
von Psychotherapie in die Krankenhauspsychiatrie führte.
Jeder zusätzlich eingeführte Begriff, wie z. B. „psychosozial“ oder „psychosomatisch“
in die klassische Facharztbezeichnung würde wieder zu einer ähnlichen Diskussion führen
und letztendlich dann den Begriff „Psychiatrie“ doch ganz gegen den ursprünglichen
Sinn reduzieren auf biologische Aspekte, Hardcore-Psychiatrie, auf die sog. schweren
Kernformen von Psychiatrie aus dem Feld der Suchtkrankheiten, der demenziellen Erkrankungen,
der chronischen Psychosen und den Eindruck vermitteln, als bräuchte die Psychiatrie
zur Erfüllung ihres Behandlungsauftrags entlang der gesamten ICD-10 zusätzliches Beiwerk,
zusätzliches Handwerkszeug, neue Orientierung. Natürlich wissen wir alle, dass es
innerhalb der Psychiatrie unterschiedliche Schwerpunkte gibt, die dann auch in unterschiedlichen
Bezeichnungen immer wieder in der Literatur geführt werden, von der „biologischen
Psychiatrie“ über die „Sozialpsychiatrie“ bis hin zur „psychodynamischen Psychiatrie“
usw. Aber wir wissen auch, dass dies unter dem „Dach Psychiatrie“ geschieht.
Nun gibt es in Deutschland neben dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie auch
den Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und es gibt seit Ende
der 1990er-Jahren die Diskussion um einen „Common trunk“. Würden wir also den Facharzt
für Psychiatrie und Psychotherapie ergänzen um Psychosomatische Medizin, würde das
wie schon ausgeführt die Benennung Psychiatrie, obwohl sie dies alles beinhaltet,
weiter abwerten. Das „Common-trunk-model“, vor über einem Dutzend Jahren vom DGPPN-Vorstand
heftig vertreten, mit einem „Facharzt für Psychiatrie“ als gemeinsames Dach und Schwerpunktbezeichnungen
wie „Psychosomatische Medizin“ oder „Psychotherapie“ oder „Forensische Psychiatrie“
u. Ä. wäre adäquat, inhaltlich korrekt und würde die Wiedereinbindung von Psychosomatik
und Psychotherapie unter dem gemeinsamen Dach der Psychiatrie ermöglichen.
Die Umbenennung von „Nervenkrankenhäusern“ der 50er- und 60er-Jahre in Kliniken für
Psychiatrie, dann weiter in Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
hat zumindest zu einer Annährung, vielleicht sogar Gleichstellung mit somatischen
Kliniken geführt und die psychotherapeutische Kompetenz für die Bevölkerung betont
– bis heute ein Dissensthema mit der Psychosomatik. Klinken für Chirurgie oder Dermatologie
benennen das Gebiet, nicht die Erkrankung. Auch wir sollten dabei bleiben. Ich glaube
nicht, dass sich Stigmatisierung psychisch kranker Menschen durch Umbenennung der
Behandler und der Kliniken wesentlich reduzieren lässt; weil Stigma auf den Kranken
und das Nichtverstehen von psychischer Krankheit zielt. Und die ändern sich ja nicht.
Die Einführung des Facharztes „Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie“ war eine
Kompromissbildung bzw. eine Anpassungsleistung im Rahmen ökonomischer, Abgrenzungs-
und vor allem Antistigmabemühungen von DGPPN, BDK und Abteilungspsychiatrie. Ein wiederbelebtes
„Common-trunk-model“, unter dem gemeinsamen Dach „Psychiatrie“, verstanden im klassischen
Reilschen Sinne, ausgehend von einem gemeinsamen Weiterbildungsstamm, die Benennung
von Schwerpunkten erlaubend, würde die elendige Auseinandersetzung zwischen den „Psych“-Gruppen
zumindest auf der Ebene der Facharztbezeichnung beenden. Aus meiner Sicht brauchen
wir keine Umbenennung des psychiatrischen Facharztes, sondern eine Wiederbelebung
der Diskussion um das „Common-trunk-model“.