PPH 2013; 19(03): 120
DOI: 10.1055/s-0033-1345692
Szene
Brunos Welt
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kunsthandwerk

Bruno Hemkendreis
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. Mai 2013 (online)

Es ist eine große Kunst, die Atmosphäre einer psychiatrischen Aufnahmestation so zu gestalten, dass sie für etwa 20 verschiedene Patienten in extremen psychischen Ausnahmesituationen förderlich wirken kann.

Da gibt es Menschen, die brauchen Ruhe und Reizabschirmung, andere benötigen Grenzen, die sie in sich nicht mehr finden. Jemand anderes ist völlig in sich abgekapselt und muss vorsichtig wieder Kontakt nach außen bekommen, während ein Mitpatient expansiv gegen überall lauernde Feinde ankämpft. Die besondere Anforderung besteht darin, das Milieu so zu gestalten, dass die einzelnen Patienten ihre Sicherheit wiederentdecken können. Denn nur das, was sie selber für sich entdeckt haben, hilft ihnen, sich wiederzufinden. Jede noch so gut gemeinte Wahrheit, von außen aufgestülpt, wird nicht verinnerlicht.

Für begrenzte Zeitfenster existieren in der klinischen Behandlung noch Spezialisten für bestimmte Aspekte der zugrunde liegenden Erkrankung. Das sind Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter, Ergo- und Sport- oder Physiotherapeuten, die sehr wichtig sind, um gemeinsam an patientenorientierten Therapien zu arbeiten. Diese Spezialtherapien füllen für die Patienten allerdings nur einen kleinen Teil des Tages, und sie können nur sinnvoll integriert werden, wenn die Notwendigkeit vom Patienten erkannt wurde.

Es bleiben jedoch viele therapiefreie Stunden jeden Tag, die gefüllt werden müssen – und jede dieser Spezialtherapien kann auch einmal fehlen, ohne große Auswirkungen zu hinterlassen. Dagegen wird keine Therapie – keine medikamentöse und keine Psychotherapie – wirken, wenn der Boden nicht bereitet wurde, auf dem sie Früchte tragen kann.

Es ist die Kunst der Psychiatrischen Pflege, diesen Boden zu bereiten, die Zeit des Tages und der Nacht so zu füllen, dass jeder Patient individuell für sich gangbare Wege entdecken kann. Und es ist die hohe Kunst der Psychiatrischen Pflege, das so zu gestalten, dass die Patienten diesen Weg selber entdeckt haben dürfen. Das heißt, die gelungenste Milieugestaltung ist die, die als natürlich empfunden wird – die Unsichtbare. Wenn stationäre psychiatrische Behandlung funktioniert, ist dies der eigentlich heilende Faktor.

Es ist dann nochmals eine Kunst der Pflege zu schweigen, wenn im gemeinsamen Entlassungsgespräch der karrierebewusste Oberarzt dem Patienten sagt: „Es liegt ein steiniger Weg bis zur heutigen Entlassung hinter uns, aber das ist ärztliche Heilkunst, die Sie hier erfahren haben.“ Vielleicht sagt er auch noch generös: „Natürlich haben wir hier auch ein tolles Team, das mich dabei unterstützt.“ Und dieser Kunstgriff hat funktioniert, wenn ihm alle glauben: Der Patient und seine Angehörigen, die Presse oder die Politik, wenn sie Fragen zur psychiatrischen Behandlung haben.

Die Schaffung eines natürlichen förderlichen Milieus gilt eben nicht nur für die Patienten. Kunst ist besonders attraktiv, wenn sie sich aus allen Perspektiven harmonisch in die Umgebung einfügt.

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