Bevölkerungsmedizinische Bedeutung lange unterschätzt
Bevölkerungsmedizinische Bedeutung lange unterschätzt
Depressive Störungen im Alter sind folgenschwer. Sie sind mit Funktionsbeeinträchtigungen,
einer reduzierten Lebensqualität, erhöhten Suizidraten sowie einer erhöhten nicht
suizidalen Mortalität verbunden.
Obwohl die Erkrankungsgruppe einen festen Platz im Spektrum gerontopsychiatrischer
Erkrankungen hat, wurde die bevölkerungsmedizinische Bedeutung für Hochaltrige lange
unterschätzt.
Die psychiatrisch-epidemiologische Forschung, die sich mit der Häufigkeit sowie der
zeitlichen und räumlichen Verteilung psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung und
deren Risikofaktoren beschäftigt, hat hier viel beizutragen.
Häufigkeit, Verlauf und Riskiofaktoren
Häufigkeit, Verlauf und Riskiofaktoren
Depressionen gehören nach den Demenzen zu den häufigsten psychischen Störungen im
höheren Lebensalter. Schwere Formen, die mit den gängigen Klassifikationssystemen
erfasst werden, sind seltener als leichtere. Eine aktuelle Metaanalyse bevölkerungsbasierter
Studien ergab eine Prävalenz von 7,2 % (95 %-KI 4,4 – 10,6 %) für Major Depression
bei über 75-Jährigen [1]. Darüber hinaus erlebt eine substanzielle Zahl von Senioren eine depressive Symptomatik,
die nicht die geforderten Kriterien des ICD-10 oder DSM-IV erfüllen. Gleichwohl sind
die Betroffenen davon beeinträchtigt. Die genannte Metaanalyse ergab eine Prävalenz
für depressive Symptomatik, wie sie im Allgemeinen mit Depressionsskalen gemessen
wird, von 17,1 % (95 %-KI 9,7 – 26,1 %) [1]. Eine weitere Metaanalyse, die über 50-Jährige inkludierte kam auf 19,5 % [2]. Die Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung (LEILA75 +), eine populationsbasierte
Studie, bei der die deutsche Version der Center for Epidemiologic Studies Depression
Scale (CES-D) zum Einsatz kam, ergab eine Prävalenz von 14 % (95 %-KI 12 – 17 %) [3]. In der AgeCoDe-Studie, der größten laufenden Alterskohortenstudie in Deutschland,
waren es, gemessen mit der Geriatric Depression Scale (GDS-15), 10 % [4]. Ältere Migranten erscheinen besonders belastet [5]. Eine systematische Übersichtsarbeit fand Neuerkrankungsraten von 0,2 – 14,1 pro
100 Personenjahre [6]. Ein substanzieller Teil der Erkrankungen verläuft chronisch. Über einen Beobachtungszeitraum
von 8 Jahren zeigten 40 % der Studienteilnehmer einen intermittierenden oder chronischen
Verlauf [3]. Eine 2011 publizierte Übersicht unterstreicht die Relevanz von sogenannten unterschwelligen
Depressionen, die ein substanzielles Risiko für die Entwicklung einer Major Depression
darstellen [7].
Weibliches Geschlecht, funktionelle Beeinträchtigungen aufgrund verschiedener somatischer
Erkrankungen, insbesondere Mobilitäts- und Sehbeeinträchtigungen, sowie ein eingeschränktes
soziales Netzwerk können als wichtige Risikofaktoren für die Entwicklung von depressiven
Symptomen gelten [8]
[9]
[10]. Die Richtung der Assoziation von funktionellen Beeinträchtigungen und depressiven
Symptomen war lange unklar. Aktuelle Ergebnisse deuten darauf hin, dass funktionelle
Beeinträchtigungen durch somatische Erkrankungen ein Risikofaktor für die Entwicklung
depressiver Symptomatik sind und diesen oft vorausgehen.
Zahlreiche Befunde zeigen, dass komorbide depressive Störungen den Verlauf somatischer
Erkrankungen, insbesondere kardiovaskulärer Erkrankungen, deutlich negativ beeinflussen
[11]
[12].
Versorgungsepidemiologische Befunde
Versorgungsepidemiologische Befunde
Eine aktuelle Metaanalyse zeigt, dass depressive Störungen im Alter im primärärztlichen
Setting unterdiagnostiziert sind. Grob die Hälfte bleibt unerkannt. Dabei wird davon
ausgegangen, dass der Grad der Erkennung für alte Menschen deutlich unter dem von
Depressionen im jüngeren Alter liegt [13]. Obwohl Depressionen behandelbar sind, werden auch Patienten, die als solche identifiziert
werden, nur selten behandelt [14]. Versorgungsepidemiologische Befunde zur psychotherapeutischen Behandlungspraxis
für depressive alte Menschen in Deutschland existieren nicht. Das ist wenig verwunderlich.
Trotzdem gehören Menschen mit depressiven Störungen zu den Vielnutzern des Gesundheitssystems,
wobei die allerwenigsten eine depressionsspezifische Behandlung erhalten. Eine aktuelle
systematische Übersicht zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Kosten bei
Patienten mit depressiven Störungen zeigte durchgehend, dass die ambulanten, stationären
sowie die Gesamtkosten depressiver Senioren ein Drittel über den entsprechenden Kosten
nicht depressiver Senioren liegen [14]. Erste deutsche Daten zu den direkten Kosten von depressiven Störungen bei über
75-jährigen Allgemeinarztpatienten ergaben durchschnittliche jährliche direkte Gesamtkosten
in Höhe von 5241 Euro für Depressive und von 3648 Euro für Nichtdepressive [15]. Obgleich auf unterschiedlichem Kostenniveau angesiedelt, ist dies auch mit den
klassischen US-amerikanischen Studien vergleichbar [16]
[17]
[18].
Eine Pilotanalyse zum Verlauf der Versorgungskosten bei depressiver Symptomatik im
höheren Alter aus der eigenen Arbeitsgruppe zeigt darüber hinaus, dass leichte depressive
Symptome auch die Versorgungskosten in der Zukunft deutlich beeinflussen, unabhängig
von vorliegenden körperlichen Erkrankungen [19].
Fazit und Implikationen für die Versorgung
Fazit und Implikationen für die Versorgung
Aktuelle epidemiologische Forschung unterstreicht die Relevanz depressiver Symptomatik
für Hochaltrige. Depressive Störungen im Alter sind behandelbar. Internationale Arbeiten
zeigen, dass sowohl psychopharmakologische Interventionen [20]
[21], als auch psychotherapeutische Interventionen [22], wie z. B. die speziell für das allgemeinärztliche Setting entwickelte Problemlöse-Therapie
(PST-PC) oder die interpersonelle Psychotherapie (IPT), sich für ältere Menschen als
praktikabel und effektiv erwiesen haben. In einer deutschen Studie konnte auch für
alte Menschen gezeigt werden, dass kognitive Verhaltenstherapie als Gruppentherapie
eine gut angenommene, effiziente Behandlungsform darstellt [23]. Andere nicht pharmakologische Interventionen, wie physische Aktivierung und soziale
Vernetzung zeigen ermutigende Resultate [24]. In der nationalen Versorgungsleitlinie zur Depression wird die Versorgung depressiver
Störungen im Alter nur unzureichend aufgegriffen und nicht systematisch recherchiert
[25].
Das Verständnis der Patientenperspektive wird gegenwärtig wenig berücksichtigt. Im
Gegensatz zu früheren Annahmen, Senioren würden psychopharmakologische Interventionen
präferieren, gibt es international zunehmend Evidenz, dass auch alte Menschen psychosozialen
Interventionen einen bevorzugten Stellenwert einräumen [26].
Deutsche Senioren sind mehrheitlich regelmäßig bei ihrem Hausarzt in Behandlung. Er
gilt nach wie vor als erster Ansprechpartner für psychische und somatische Probleme
älterer Menschen. Eine Metaanalyse zeigt, dass einfache Trainingsprogramme für den
allgemeinärztlichen Versorgungsbereich zur Erhöhung der Erkennungs- und Behandlungsraten
ineffektiv sind [27] und komplexe Interventionen notwendig werden. International spielen deshalb positiv
evaluierte Versorgungsmodelle eine besondere Rolle, die fachspezifische Expertise
in das primärärztliche Setting inkludieren [28]
[29]. Das IMPACT-Programm ist das am besten untersuchte Programm, das die stärkste Evidenz
im Hinblick auf die Wirksamkeit einer kombinierten kollaborativen, gestuften Behandlung
zeigte [28]. Niedrigschwellige Interventionen, die Selbstmanagementansätze einschließen und
zum Beispiel körperliche Aktivitäten fördern, stellen sinnvolle Weiterentwicklungen
dieser Versorgungsmodelle dar [30].
Epidemiologische und versorgungsepidemiologische Forschung zeigt, dass mit der demografischen
Entwicklung depressive Störungen im Alter zu einer zentralen und drängenden Versorgungsherausforderung
gehören werden. Evidenzbasierte Behandlungsmöglichkeiten und exzellent evaluierte
Versorgungsarrangements für alte depressive Menschen liegen international vor. Es
besteht dringender Handlungsbedarf, um zur internationalen Entwicklung aufzuschließen.
Danksagung
Der Beitrag entstand im Zusammenhang mit den Projekten AgeMooDe (Depression im Alter:
Versorgungsbedarf, Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Kosten, BMBF: 01GY1155A).