Wenn es Menschen mit Multipler Sklerose (MS) zunehmend schwerer fällt, Knöpfe zu schließen
oder die Computertasten zu treffen, könnten Sensibilitätsstörungen dahinterstecken.
Denn bei zentralen Läsionen kommt es oft distal an den Extremitäten zu ausgeprägten
Sensibilitätsausfällen. Diese sind meist aufsteigend und breiten sich nach proximal
aus. Zusätzlich können Missempfindungen auftreten, die Betroffene als gesteigerte,
verminderte oder abnorme Wahrnehmung beschreiben. Dadurch spüren sie Objekte nicht
deutlich. Sie fallen ihnen aus den Händen, vor allem, wenn sie nicht hinsehen. Gegenstände
rutschen aus den Fingern oder die Finger rutschen von Objekten ab. Durch emotionale
oder körperliche Belastung können sich die Missempfindungen verstärken. Nach einer
Erholungsphase kann sich diese Intensitätssteigerung wieder auf das Ausgangsniveau
einstellen.
Ähnlich wie bei Frau Klein. Sie ist 35 Jahre alt, lebt in einer Partnerschaft, geht
einer geregelten Büroarbeit nach und erkrankte vor zwei Jahren an einer schubförmig
verlaufenden Multiplen Sklerose. Im Moment hat sie einen akuten Schub. Beim Schließen
ihrer Blusenknöpfe benötigt die Linkshänderin zwei bis drei Versuche. Ihre Ohrringe
kann sie nur mit visueller Kontrolle im Spiegel einsetzen. Und die Computerarbeit
bereitet ihr Schwierigkeiten. Oft tippt sie gleichzeitig zwei Buchstaben, weil sie
nicht spürt, dass der Finger zwischen zwei Tasten liegt. Ebenso hat sie Schwierigkeiten
beim Annähen von Knöpfen - sie sticht sich dabei häufig in den Finger.
Oberflächensensibilität, Tiefensensibilität, Stereognosie testen
Die Wahrnehmungsbereiche, welche in der Ergotherapie behandelt werden können, sind
Oberflächensensibilität und Tiefensensibilität/Propriozeption. Um die Sensibilitätsleistung
zu testen, wendet man zum Beispiel die Spitz-Stumpf-Diskriminierung und das Mirroring
an (Tab). Sind Oberflächen- und Tiefensensibilität gestört, ist meist eine eingeschränkte
Stereognosie die Folge. Den Klienten fällt es also schwer, Objekte nur durch Tasten
zu erkennen. Bei allen Testungen schließt Frau Klein die Augen, damit die Therapeutin
nur die sensorischen Leistungen bewerten kann. Vorsicht ist bei Klienten mit kognitiven
Einschränkungen geboten. Bei ihnen können die Testergebnisse durch die verminderte
Konzentration oder das beeinträchtigte Aufgabenverständnis verfälscht werden.
Eisapplikation. Diese Behandlung wirkt Missempfindungen entgegen, indem sie die Thermorezeptoren
aktiviert und die Aufmerksamkeit auf den Reiz lenkt. Die Vorrichtung lässt sich ganz
leicht zu Hause herstellen.
(C. Gratzl)
Was die Sensibilität angeht, so erkannte Frau Klein bei der Spitz-Stumpf-Diskriminierung
in der rechten Innenhand 5 aus 10 und links 7 aus 10 Berührungen mit einem Nagel.
Bei der Stereognosie-Testung erfasste sie rechts den Korken, die Büroklammer jedoch
nicht. Links identifizierte sie sowohl den Knopf als auch den Stift. Wärme und Kälte
empfindet sie mit der linken Hand ohne Einschränkungen, mit der rechten vermindert.
Sie gibt an, sich rechts schon öfter am Bügeleisen verbrannt zu haben. Da Frau Klein
außerdem ein Kribbeln wahrnimmt, ermittelt die Therapeutin Art und Ausbreitung der
Missempfindung zunächst durch Fragen:
-
> Wie fühlen sich Ihre Handfläche/Ihr Arm/Ihre Fingerspitzen an?
-
> Befinden sich die Empfindungen an der Handinnenfläche oder auf dem Handrücken oder
beides?
-
> Wie weit erstreckt sich die Missempfindung, zum Beispiel nur an den ersten beiden
Fingergliedern?
-
> Ist das Kribbeln unterschiedlich stark ausgeprägt? Fühlt es sich an den Fingerspitzen
intensiver an als in der Handinnenfläche?
Um die Intensität der Empfindungen bestimmen und die Effektivität der Behandlung messen
zu können, bedient sich die Therapeutin eines Parameters. Dazu adaptiert sie die aus
der Schmerztherapie stammende Numerische Rating-Skala (NRS) (Abb. 1). Für die Übertragung auf die Sinnesempfindungen bittet die Therapeutin Frau Klein,
die Ausprägung des Symptoms auf der Skala anzugeben. Null bedeutet keine Missempfindung
und zehn die stärkste vorstellbare Missempfindung. Die Befunderhebung ergab Kribbelparästhesien
an beiden Händen. Frau Klein bewertet die Intensität an den Fingerspitzen ihrer rechten
Hand auf der NRS mit 6/10, die Intensität auf der Handinnenfläche mit 3/10. Die Ausprägung
an den Fingerspitzen der linken Hand gibt sie mit 2/10 an.
Abb. 1 Adaptierte Numerische Rating-Skala
Sensibilitätstraining mit einer Handlung verknüpfen
Aus den vorangegangenen Tests ergibt sich der Schwerpunkt der Behandlung: Liegt ein
Oberflächen- oder Tiefensensibilitätsproblem vor, oder sind „nur“ Missempfindungen
vorhanden? Bei einer beeinträchtigten Oberflächensensibilität fällt es Menschen schwer,
kleine Objekte sicher zu greifen und zu manipulieren. Eine eingeschränkte Tiefensensibilität
äußert sich beispielsweise durch das wiederholte Fallenlassen von Gegenständen, vor
allem, wenn die Klienten nicht hinsehen. Oder die Objekte rutschen aus den Fingern,
bzw. die Finger rutschen von den Objekten ab. Manchmal greifen die Klienten Gegenstände
auch mit gestrecktem Daumen und Zeigefinger, da eine verminderte Kraftdosierung oft
mit einer Störung der Tiefensensibilität einhergeht.
Tab.
Befunderhebung der Sensibilitätsleistung
Test
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Durchführung
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Bewertung
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Spitz-Stumpf-Diskriminierung zur Bewertung der Oberflächensensibilität
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mit der spitzen und stumpfen Seite eines Nagels in unterschiedlicher Reihenfolge in
die Handinnenfläche und palmaran die Finger/Fingerspitzen tippen (10-mal pro Hand);
der Klient äußert sich nach jedem Reiz
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die Anzahl der nicht erkannten und der falsch definierten Versuche notieren, zum Beispiel
„5 von 10 erkannt“ oder „5/10“
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Befunderhebung der Tiefensensibilität durch Mirroring
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Nachstellen der Arm-, Hand- und Fingerposition bei geschlossenen Augen (Abb. 2); die Therapeutin testet beide Körperseiten Bei motorischen und kognitiven Einschränkungen adaptiert die Therapeutin die Testung, indem sie Bewegungen entsprechend auswählt, verlangsamt durchführt oder
Anweisungen wiederholt.
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Gesunde Menschen können die vorgegebene Position innerhalb von 4 Sekunden einnehmen.
Dauert es länger, bewertet man sie mit „verzögert“, bei einer Abweichung der Gelenkstellung
von maximal 20° mit „erschwert“.
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Stereognosie-Untersuchung
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Der Klient soll mit geschlossenen Augen und mit einer Hand einen Alltagsgegenstand
ertasten, im Anschluss mit derselben Hand einen zweiten. Das Prozedere bei der anderen
Hand wiederholen. Kann ein Klient den Gegenstand aufgrund einer Aphasie oder einer anderen Muttersprache
nicht benennen, legt man das Objekt in eine Reihe mit anderen Objekten und der Klient
deutet darauf.
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Die Beurteilung erfolgt mit „möglich“, „verzögert“ oder „nicht möglich“. Kann ein Klient große Gegenstände leicht erkennen und hat er nur bei den kleinen
Schwierigkeiten, liegt das Hauptproblem möglicherweise in einer eingeschränkten Oberflächensensibilität.
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Abb. 2 Befunderhebung der Tiefensensibilität durch Mirroring. Die Therapeutin gibt die Stellung
des rechten Armes, der Hand und der Finger vor. Mit geschlossenen Augen stellt dies
die Klientin mit links nach.
(M. Kerzendörfer (nachgestellte Situation))
Missempfindungen sind störend und unangenehm. Die Hypothese der Therapeutin zum Schwerpunkt
und das Ziel des Klienten bilden den Behandlungsplan. Im Fall von Frau Klein sind
die Kernprobleme die eingeschränkte Oberflächensensibilität und die Par-ästhesien
an den Fingerspitzen. Sie wirken sich auf die Feinmotorik aus. Das heißt, sie führen
dazu, dass die Klientin Nadel, Faden und Knopf nicht sicher spüren und halten kann.
Das SMART-Ziel muss somit auf Aktivitäts- oder Partizipationsebene liegen. Gemeinsam
mit der Ergotherapeutin benennt Frau Klein daraufhin zwei Ziele: erstens, innerhalb
von 14 Tagen keine Kribbelparästhesien mehr an den Fingerspitzen (unterstützt durch
die medikamentöse Therapie). Zweitens, in zehn Tagen den Faden in die Nadel einfädeln
und einen Knopf annähen, ohne sich dabei zu stechen oder zu verletzen.
Eisapplikation
Wasser in einen kleinen Joghurtbecher füllen, einen Plastiklöffel hineingeben und
in das Gefrierfach stellen. Sobald das Wasser gefroren ist, den Plastikbecher unter
warmes Wasser halten und den Eiswürfel am Stiel herauslösen. Ein- bis dreimal über
die betroffene Stelle streichen. Damit die Kälte möglichst lange erhalten bleibt,
die Nässe mit einem Handtuch abtupfen. Diesen Vorgang circa drei- bis viermal wiederholen.
Wärmekissen
Mit warmen Kirschkernkissen, Moorpackungen odereiner heißen Rolle die Thermorezeptoren
aktivieren. Aber: Nur ein Bruchteil von Menschen mit MS bevorzugt Wärme.
Öl-Zucker-Anwendung
Die Hände mit einem Hautpflegeöl einreiben und anschließend Zucker in die Handinnenfläche
streuen. Fingerspitzen und Handinnenflächefünf Minuten lang massieren.
Bürsten unterschiedlicher Stärken
Bei größer betroffenen Bereichen wie Handflächen oder Armen eignen sich Bürsten in
unterschiedlicher Stärke im Wechselgebrauch. Um eine Hautüberreizung zu vermeiden,
dürfen die Borsten jedoch nicht zu hart sein. Beispielsweise siebenmal mit einer mittelharten
Bürste überdie Handinnenfläche streichen. Im Anschluss daran mit einer weichen Bürste
ebenfalls siebenmal über dieselbe Stelle streichen. Den Rhythmus viermal wiederholen.
Vibrationsmassage
Ein Handmassagegerät oder eine elektrische Zahnbürste an den Fingerspitzen ansetzen
und über den Handflächenbereich fahren. Beide Hände behandeln und den Vorgang fünfmal
wiederholen.
Massagering
Einen Massagering sechsmal entlang der Finger rollen, um sie intensiv und kontinuierlich
zu stimulieren.
Materialbäder mit Suchaufträgen
Mit den Fingerspitzen in das sogenannte Sensibilitätsbad greifen und das Material
(Raps, Senfkörner, Linsen, Hirse, Reiskörner) durch die Finger rieseln lassen. Um
die Aufgabe zielorientierter zu gestalten, einen Gegenstand wie eine Büroklammer oder
eine Murmel in das Materialbecken geben und ihn mit den Fingerspitzen ertasten.
Bereits die Senfkörner sind eine Stimulation für die Sensibilität von Hand und Finger.
Mit einem Suchauftrag - nach Murmeln tasten -kann die Therapeutin die Anforderungen
steigern.
(M. Kerzendörfer)
Für die Therapie ergibt sich daraus, dass das sensorische Training nie alleine stehen
darf. Nach dem Sensibilitätstraining soll immer eine Handlung folgen. Im Optimalfall
besteht das Sensibilitätstraining aus zwei bis drei Stimuli und dauert 20 bis 30 Minuten.
Dafür eignen sich beispielsweise thermale Anwendungen, da Wärme und Kälte die Thermorezeptoren
aktivieren und die Aufmerksamkeit auf die thermalen Reize lenken. Aber auch die Stimulation
der Mechanorezeptoren durch unterschiedliche sensorische Reize wie Öl-Zucker, Bürsten
oder Vibration eignen sich („Sensibilitätstraining“). Bei allen sensorischen Reizen ist es wichtig, den Daumenballen und den Kleinfingerballen
mit zu stimulieren. Im Idealfall folgt nach der sensiblen Aktivierung eine Handlung/
Aktivität, die an der oberen Leistungsgrenze liegt, zum Beispiel
-
> eine Büroklammer von der glatten Tischfläche aufheben,
-
> ein Blatt Papier vom Boden aufheben,
-
> einen Kettenverschluss öffnen und schließen oder
-
> eine Tablette mit dem Spitzgriff aufheben.
Zu Beginn kann die Therapeutin verschiedene Reize austesten, um festzustellen, auf
welche die Rezeptoren am besten reagieren. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Behandlung
ist, dass die Anwendungen regelmäßig durchgeführt werden.
Um die sensorischen Leistungen konsequent zu stimulieren und die Missempfindungen
zu verringern, sind regelmäßige Übungen auch zu Hause wichtig. Darum wählt Frau Klein
für ihr tägliches 20-minütiges Übungsprogramm zwei verschiedene Reize aus.
Frau Klein soll das sensorische Training zu Hause fortführen, da sich die Kribbelempfindungen
durch die sensorischen Reize zwar verringert, aber noch nicht vollständig zurückgebildet
haben. Die Therapeutin empfiehlt ihr zusätzlich, regelmäßig beide Hände einzusetzen,
damit die sensorische Exploration auch im Alltag stattfindet. Auf diese Weise verstärken
verschiedene Gegenstände bzw. Informationsquellen den Input und aktivieren vermehrt
die Reorganisation des Gehirns.