Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2013; 23(02): 85-86
DOI: 10.1055/s-0033-1337937
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Austria and Germany „go Baltic“ – Ein Blick nach Norden

Austria and Germany „go Baltic“ – A View to North
S. R. Schwarzkopf
1   Klinik und Poliklinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Klinikum der Universität München, München
,
T. Paternostro-Sluga
2   Allgemeines Krankenhaus Wien, Universitäts-Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Wien, Wien, Österreich
,
C. Gutenbrunner
3   Medizinische Hochschule Hannover, Klinik für Rehabilitationsmedizin Hannover, Hannover
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Publication Date:
10 April 2013 (online)

Die Wissenschaft ist in der Medizin vom Prinzip her international zu verstehen. Dies gilt in besonderem Maße für die Grundlagenforschung, aber auch für die klinische Forschung. Insbesondere auf dem Gebiet der Rehabilitation, bei der gesellschaftliche, politische und kulturelle Aspekte naturgemäß von größerer Bedeutung sind, etabliert sich in zunehmendem Maße eine internationale Wissenschaftsstruktur. Dies drückt sich unter anderem in der zunehmenden Zahl englischsprachiger Zeitschriften mit Peer-Review-Verfahren und den zahlreichen regionalen und internationalen Kongressen aus.

Für die Physikalische und Rehabilitative Medizin ergeben sich wichtige Aspekte aus der internationalen Forschung. Beispiele hierfür sind die Schlussfolgerungen, die sich aus dem Wissen um adaptive Potenzen des Nervensystems (sog. Neuroplastizität) für therapeutische Konzepte bei Hirnschäden ergeben haben oder die neueren Erkenntnise um die physiologischen Mechanismen der Schmerzchronifizierung, aus denen sich schon heute wichtige Prinzipien für die Schmerzrehabilitation ableiten lassen. Auch gibt es heute zahlreiche klinische Studien und Metaanalysen über die Wirksamkeit verschiedener Methoden der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin.

Einen weiteren wichtigen Aspekt stellen die neuen internationalen Definitionen von Behinderung und Rehabilitation dar, auch im Hinblick auf die Gestaltung des Rehabilitationssystems im deutschsprachigen Raum sowie des Selbstverständnisses der Rehabilitationsmedizin. So wird „Behinderung“ heute nicht mehr als Eigenschaft einer Person, sondern als ein Problem beschrieben, dass sich aus der Interaktion zwischen einer Person mit einer Gesundheitsstörung oder Erkrankung und ihrer Umwelt ergibt ([WHO & World Bank 2011]). Diese auf dem ICF-Modell der Funktionsfähigkeit („Functioning“[1]) aufbauende Sichtweise hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Gestaltung von Rehabilitationsmaßnahmen, die sich sehr viel stärker als bisher auf den gesamten Kontext der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden – wie z. B. das Arbeitsleben – fokussieren muss. So wurde auf internationaler Ebene auch die Rehabilitation auf Basis des ICF-Modells neu definiert bzw. beschrieben ([Meyer et al. 2011]) und auch das Fachgebiet der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin in diesen Zusammenhang gestellt ([Gutenbrunner et al. 2011]). Welche Folgerungen sich hieraus für die Positionierung des Faches in Österreich und Deutschland ergeben, bedarf allerdings noch weiterer Überlegungen und Diskussionen.

Bei aller Betonung der Internationalität der Wissenschaft darf allerdings nicht vergessen werden, dass speziell in der Rehabilitation auch die nationale und regionale Forschung von großer Wichtigkeit ist. Dies ergibt sich allein aus der Tatsache, dass sich – wie erwähnt – Behinderung aus der Interaktion einer Person mit einer Gesundheitsstörung oder Erkrankung mit ihrer Umwelt ergibt. Dies bedeutet, dass Rehabilitation sich nicht nur auf die Person beziehen darf, sondern auch das Umfeld dieser Person einbeziehen muss. Dieses Umfeld ist naturgemäß stark von sozialen, persönlichen, kulturellen und politischen bzw. gesetzgeberischen Einflüssen geprägt.

Solche Überlegungen haben auch bei der Planung des diesjährigen gemeinsamen Kongresses der Österreichischen und Deutschen Gesellschaften für Physikalische Medizin und Rehabilitation und dem Baltic & North Sea Forum on Physical and Rehabilitation Medicine eine Rolle gespielt. Der Kongress soll einerseits den Blick auf die Forschung in Nordeuropa öffnen, gleichzeitig aber auch die Tradition der deutsch-österreichischen Kongresse fortsetzen. Der Kongress ist bereits die 6. gemeinsame Tagung der beiden befreundeten Fachgesellschaften.

Das Baltic & North Sea Forum on Physical and Rehabilitation Medicine (BNF-PRM) wurde bereits 2007 gegründet, besteht allerdings erst seit 2010 als eine in Riga eingetragene Körperschaft. Ähnlich wie beim Mediterranean Forum on Physical and Rehabilitation Medicine ist es Ziel des BNF-PRM, die Kommunikation unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Faches sowohl in der Region als auch international zu stärken und ein Forum des Austausches zu schaffen. Dies ist in der Region insofern von besonderer Bedeutung, als sich das Fach in verschiedenen Ländern außerordentlich unterschiedlich entwickelt hat. So ist z. B. im Vereinigten Königreich und den skandinavischen Ländern die Rehabilitationsmedizin ein rehabilitativ ausgerichtetes klinisches Fach mit dem Schwerpunkt der Behandlung von Erkrankungen des Nervensystems, während in Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion der Schwerpunkt auf der Anwendung physikalischer Therapien wie z. B. der Elektrotherapie liegt. Im deutschsprachigen Raum haben wir wiederum das Problem der Spaltung weiter Teile des Rehabilitationssystems vom Fachgebiet der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin, die nur langsam überwunden wird.

Kern der Aktivitäten des BNF-PRM sind die 2-jährlich stattfindenden Kongresse, auf denen jeweils 2 Schwerpunktthemen (sog. Tracks) auf hohem wissenschaftlichen Niveau intensiv diskutiert werden. Darüber hinaus gibt es je 3 Schwerpunktsitzungen und Symposien. Eine Sitzung ist dem Vergleich der Rehabilitationssysteme und deren Praxis in Ländern der Region gewidmet. Auf dem letzten Kongress wurde zusätzlich eine Sitzung der multiprofessionellen Teamarbeit gewidmet, die durch sog. pre-conference Workshops vorbereitet worden sind. Selbstverständlich gibt es auch Originalvorträge und Poster, deren Ab­stracts nach erfolgreich durchlaufenen Peer-Review-Verfahren im Journal of Rehabilitation Medicine zitierfähig veröffentlicht werden. Als weitere Aktivitäten des BNF-PRM sind eine Summerschool und eine Virtual Academy in Vorbereitung.

Der Kongress in Hannover steht unter dem Motto „Patient management strategies & translational research in PRM“. Er besteht aus einem englischsprachigen Teil, der im Wesentlichen dem Konzept der Baltic & North Sea Conferences on Physical and Rehabilitation Medicine entspricht. Die beiden Tracks befassen sich mit den Themen „Translational research in Rehabilitation Medi­cine“ (‘from mice to man’) und „Multiple Trauma – Challenges for Rehabilitation Medicine“ (‘from acute rehabilitation to long-term care’). Schwerpunktsitzungen werden zu den Themen „Inclusion of the patients in decision making in Rehabilitation Medicine”, „Sports Medicine and Physical and Rehabilitation Medicine” und „Management of Fatigue and Depression in Physical and Rehabilitation Medicine” abgehalten. Workshops zu den Themen „Qualitative research in Rehabilitation: why, when and what for?”, „Management of patients with MRSA-infection in Rehabilitation” sowie „Gait analysis – research and clinical practice” werden das Programm ergänzen. Auch die schon erwähnte Sitzung über die Kooperation im Rehabilitationsteam wird fortgesetzt, wobei das Konzept der Vorbereitung in mehreren pre-conference Workshops beibehalten wird. Zur Integration russischsprachiger Kolleginnen und Kollegen wird ein Teil des Kongresses simultan ins Russische übersetzt werden. An den internationalen Teil schließen sich eine Reihe praxisorientierter Workshops unter dem Motto „Physikalische und Rehabilitative Medizin in Klinik und Praxis“ an. Hier besteht die Möglichkeit, Themen zu medikamentösen und physikalischen Therapiemöglichkeiten bei akuten, subakuten und chronischen Schmerzen, auch unter dem Aspekt der Selbstreflexion beim Umgang mit chronischen Schmerzpatienten, zu Infiltrationstechniken, zu Taping bei muskuloskelettalen Prob­lemen im Bereich der oberen Extremitäten, zu sinnvollen Ver­ordnungen von Heilmitteln, Einlagen- und Schuhversorgung, zu praxisorientierten Assessments und für den Forschungsbereich hinsichtlich Zugangsmöglichkeiten zu UEMS-Datenbanken in informativen Diskussionen zu vertiefen.

Zu diesem Kongress vom 25.–28.09.2013 in der Medizinischen Hochschule Hannover laden wir Sie sehr herzlich ein! Wir hoffen auf eine große Beteiligung sowohl am wissenschaftlichen als auch am praktischen Teil des Kongresses und erwarten uns einen intensiven und spannenden Austausch an Informationen und Meinungen mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus dem Nord- und Ostseeraum!

München, Wien und Hannover, Februar 2013

 
  • Literatur

  • 1 Gutenbrunner C, Meyer T, Melvin J et al. Towards a conceptual description of Physical and Rehabilitation Medicine. J Rehabil Med 2011; 43: 760-764
  • 2 Meyer T, Gutenbrunner C, Bickenbach J et al. Towards a conceptual description of rehabilitation as health strategy. J Rehabil Med 2011; 43: 765-769
  • 3 World Health Organisation & World Bank . The World Report on Dis­ability. WHO; Geneva: 2011