Seit mehreren Jahren behandle ich Klienten nach zerebralem Insult oder intrazerebraler
Blutung in allen Phasen nach dem Ereignis. Schon in der Frühphase berichten Betroffene
von einer veränderten Wahrnehmung der plegischen oder paretischen Hand. Sie vergleichen
ihre Hand mit einer „Elefantenhand“, empfinden ihre Finger unförmig, dick und aufgedunsen,
wie „eingeschlafen“ oder gar als totes Anhängsel.
Entwickelt sich im weiteren Krankheitsverlauf eine erhöhte Muskelspannung der Fingerflexoren
mit zunehmender Steifigkeit, dann empfinden viele Klienten ihre Hand nur noch als
Block, ohne die Finger differenziert zu spüren.
Ein Fall
Das Gefühl, die Hand nur noch als Klotz wahrzunehmen, beschrieb auch Klaus Janssen[*], den ich 2011 behandelte. Den Therapieverlauf dokumentierte ich mit Foto- und Filmkamera.
Herr Janssen erlitt bereits im Jahr 1994 eine Hirnblutung. Damals war er 54 Jahre
alt. Bei ihm zeigte sich im klinischen Bild eine bestehende Wernicke-Mann-Symptomatik
mit Vernachlässigung der betroffenen Seite sowie unzureichender Gewichtsverlagerung
auf die betroffene Seite im Sitzen und im Stehen.
Weil sich seine Gehfähigkeit verschlechterte, wurde er im August 2011 auf der Stroke
Unit der Föhrenbachklinik in Bedburg-Hau mit dem Verdacht auf einen erneuten Hirninfarkt
aufgenommen. Klaus Janssen konnte nicht frei aufstehen und stehen, da er nur über
eine unzureichende posturale Kontrolle verfügte. Seine linke Körperseite beachtete
er kaum, seinen linken Arm setzte er nicht ein. Die erhöhte Muskelspannung der Fingerflexoren
nahm er nicht wahr. Allerdings war er in der Lage, die Spannung kurzzeitig zu lösen,
wenn ich ihn auf seine gebeugte Fingerhaltung aufmerksam machte.
Versuchte er, von der Rückenlage in den Sitz oder in den Stand zu kommen und sich
zu stabilisieren, baute sich sofort Muskelspannung der Beugemuskulatur im linken Arm
und in der linken Hand auf. Er konnte seinen Arm nur im Flexorenmuster mit flektierten
Fingern über die Abduktion anheben. Beim Greifen hatte er Schwierigkeiten, seine Kraft
zu dosieren. Beim Öffnen der Hand fiel es ihm schwer, die Finger zu strecken. Er benötigte
bei der Körperpflege, dem An- und Ausziehen sowie beim Aufstehen aus dem Bett teilweise
die Hilfe seiner Ehefrau.
Klaus Janssen nahm seine Ressourcen nicht mehr wahr
Klaus Janssen nahm seine Ressourcen nicht mehr wahr
Letztendlich ergaben die Untersuchungen keinen Hinweis auf einen erneuten Infarkt.
Nach dem zweiwöchigen stationären Aufenthalt kam Klaus Janssen in die angegliederte
Ambulante Neurologische Rehabilitation (ANR), um die Therapie fortzuführen.
Im September 2011 erreichte er im Fugl-Meyer-Arm-Score im Bereich „Motorik der oberen
Extremitäten“ 15 von 66 möglichen Punkten. Im Bereich „Passives Bewegungsausmaß“ erreichte
er 33 von 48 möglichen Punkten.
Als langfristiges Ziel gab er an, unabhängiger im Alltag werden zu wollen. Er wollte
selbstständig aus dem Bett aufstehen, frei und sicher stehen, um den Toilettengang
wieder unabhängig zu bewältigen, und wieder kurze Strecken mit seiner Gehhilfe gehen.
An eine Verbesserung seiner Arm- und Handfunktionen dachte Herr Janssen aufgrund der
langjährigen Symptomatik zunächst nicht. Aufgrund der unzureichenden Wahrnehmung der
Hand hatte er keinen Zugang zu seinen noch vorhandenen Ressourcen. Beim Zeitunglesen
und -zusammenfalten vernachlässigte er zunächst seine linke Seite, zeigte aber im
Verlauf den spontanen Versuch, die linke Hand mit einzusetzen. Dementsprechend erstaunt
war er, dass er beim Wolf-Motor-Function-Test einen Bleistift von einer weichen Unterlage
anheben konnte. Um die Therapieziele zu erreichen, vereinbarten wir zunächst, die
Lagewechsel aus der Rückenlage auf die linke Seite als auch in die Bauchlage sowie
die posturale Kontrolle im Stand zu erarbeiten. Zusätzlich überlegte ich, die Wahrnehmung
der Hand durch einen verstärkten Input zu fördern und sie über diesen Weg wieder ins
Körperschema zu integrieren.
Von der Hypothese zum Handschuh
Von der Hypothese zum Handschuh
Um den sensorischen Input zu verbessern, gab ich Klaus Janssen einen handelsüblichen
Peeling- und Massagehandschuh. Die Überlegung beruht auf Erkenntnissen aus der Sensorischen
Integrationstherapie nach Jean Ayres. Demnach ist die Grundlage jeder Bewegung die
Wahrnehmung der körpereigenen Struktur. Bei intakter Tiefensensibilität spürt man
seine Körperhaltung, die Stellung der Gelenke und die Muskelspannung und kann daraufhin
Bewegungen planen, ansteuern und Bewegungsveränderungen registrieren [3]. Auf die
Idee mit dem Handschuh brachte mich eine Selbsterfahrungsübung im Rahmen meiner SI-Grundausbildung:
Ich hatte die Gelegenheit, in einen Tanzsack zu schlüpfen und seine Wirkung kennenzulernen.
Tanzsäcke bestehen aus einem elastischen Material, das den Körper komplett umhüllt.
Hände und Füße werden bis in die Ecken geführt, über die Fingerkuppen wird ein Input
auf Gelenkrezeptoren und Muskelspindeln ausgeübt, sodass ein stabiler Muskeltonus
aufgebaut wird. Die Selbsterfahrung übertrug ich auf die verminderte Wahrnehmungsleistung
meines Klienten. Ich fragte ihn, ob er in der Therapie einmal einen Massagehandschuh
tragen wolle.
Abb. 1 und 2 Mit einem Massagehandschuh an der betroffenen Hand erzielten Klienten nach Schlaganfall
im direkten Vergleich bessere Ergebnisse im Box-and-Block-Test als ohne den Handschuh.Fotos:
U. Lange
Bessere Wahrnehmung, verminderter Tonus
Bessere Wahrnehmung, verminderter Tonus
Aufgrund der erhöhten Muskelspannung war es anfangs schwierig, ihm den Handschuh anzuziehen.
Zu unserer Überraschung reduzierte sich dann aber sofort die erhöhte Spannung in den
Fingerflexoren. Mit dem Handschuh nahm Klaus Janssen plötzlich die Form seiner Finger
differenziert wahr. Er konnte seine Finger fließender strecken und beugen und seine
Hand öffnen. In Ruhestellung gab er das Flexorenmuster der Finger nun häufiger zugunsten
einer physiologischen Hand- und Fingerstellung auf.
In der Ambulanten Neurologischen Rehabilitation erhielt der Klient täglich eine Stunde
Ergotherapie und eine Stunde Physiotherapie. Das Team setzte Behandlungsstrategien
aus unterschiedlichen Therapiekonzepten ein wie der Bobath-Therapie und ein spezielles
Core-Training, das die Rumpfaktivitäten verbesserte, außerdem Elemente des Arm-Basis-Trainings
aus dem Impairment-Oriented Training nach Dr. Thomas Platz zur Verbesserung der proximalen
Armaktivitäten. Angespornt durch die ersten positiven Erfahrungen trug Klaus Janssen
den Massagehandschuh nach eigenem Ermessen über den ganzen Tag. Er gab an, dass er
seine Hand differenzierter spüre und die Muskelspannung besser kontrollieren könne.
Den Handschuh zog er nur in der Nacht aus. Er zog den Handschuh täglich an und übte
implizit, zielorientiert und in einem sinnvollen Kontext die Fingerstreckung und -spreizung.
Fließende, zielgerichtete Bewegungen sind möglich
Fließende, zielgerichtete Bewegungen sind möglich
Neben der Wahrnehmung und Beweglichkeit der Hand konnte das therapeutische Team außerdem
die biomechanischen Strukturen der Rumpf- und Schultergürtelmuskulatur verbessern.
Die bessere posturale Kontrolle ermöglichte dem Klienten unter anderem einen sicheren
freien Stand. Auch die spezifische Ansteuerung der Arm- und Handmuskulatur gelang
ihm nun schneller und fließender. Zum ersten Mal führte er grobe Greifaktivitäten
weiträumig und zielsicher aus: Zum Beispiel sammelte er weiche Knautschbälle auf der
in Hüfthöhe eingestellten Bobath-Bank ein und legte sie in einem Korb auf dem Boden
ab. Zu seiner Überraschung „wackelte der Arm nicht mehr“. Klaus Janssen hob bimanuell
eine Holzkiste an und stellte sie in gleicher Höhe zu seiner rechten Seite ab. Außerdem
konnte er bimanuell einen mit sechs Flaschen gefüllten Wasserkasten auf einem Tisch
verschieben. Nahezu alle Aktivitäten führte er mit dem Handschuh durch. Nur wenn er
glatte Gegenstände sicher greifen wollte, zog er den Handschuh aus. Allerdings hatte
er dann mehr Schwierigkeiten, die Finger zu strecken. Die Zielmotorik wurde unsicherer
und dysmetrischer.
Die linke Hand macht wieder mit
Die linke Hand macht wieder mit
Im November 2011 wiederholte Klaus Janssen den Fugl-Meyer-Arm-Score. Diesmal erhielt
er 33 von 66 möglichen Punkten im Bereich „Motorik der oberen Extremität“ sowie 45
von 48 möglichen Punkten beim „Passiven Bewegungsausmaß“ - was eine deutliche funktionelle
Verbesserung bedeutete. Im Anschluss an die ANR betreute ich den Klienten einmal wöchentlich
ergotherapeutisch im Rahmen von Hausbesuchen. Den Handschuh trug er nach eigenen Angaben
täglich und führte regelmäßig zwei bis drei variierende Eigenübungen durch, um seine
Arm- und Handfunktionen zu verbessern.
Inzwischen konnte er den Handschuh selbstständig und problemlos anziehen. Die Fingerstreckung
gelang ihm so gut, dass er außerdem die Hände zügig und fließend falten konnte. Durch
die verbesserten biomechanischen Strukturen im Schultergürtel wurden mit Unterstützung
Armaktivitäten über 90° Schulterflexion möglich. Somit legten wir den Schwerpunkt
der Therapie auf alltagsorientierte Arm- und Handaktivitäten. Jetzt setzte ich vorwiegend
Strategien aus der N.A.P.-Therapie ein. N.A.P. steht für Neuromuskuläre Arthroossäre
Plastizität [1]. In diesem Konzept setzt die Therapeutin während einer Aktivität propriozeptive
Reize. Ich unterstützte Herrn Janssen zum Beispiel beim Haarebürsten oder beim Trinken
aus einem Becher, bis er diese Tätigkeiten letztendlich selbstständig durchführte!
Für meinen Klienten war die Therapie ein voller Erfolg: Nach siebzehnjährigem Nichtgebrauch
der linken Hand setzte er innerhalb eines Jahres seinen paretischen Arm im Alltag
ein und zog sich letztendlich sein Shirt mit beiden Händen ohne Hilfe an. Auch seine
Ehefrau berichtete, dass ihr Mann seine linke Hand wieder mit einsetzte, etwa beim
Aufsetzen der Brille oder des Sonnenhuts.
Rückmeldungen anderer Klienten
Rückmeldungen anderer Klienten
Für diesen Erfolg gab der Massagehandschuh wichtige erste Impulse: Der Klient verspürte
kontinuierlich einen moderaten Druck auf die Fingerkuppen, was den Input auf das taktil-protopathische
und propriozeptive System verstärkte. Dies scheint stabilisierend auf die strukturellen
Verhältnisse der Hand und indirekt auch auf den Arm zu wirken und damit die Zielmotorik
günstig zu beeinflussen. Dieses erstaunliche Fallbeispiel bestärkte mich darin, den
Handschuh weiteren Klienten anzubieten. Einige von ihnen befragte ich gezielt, ob
sie damit eine Veränderung bemerken würden. Andere bat ich lediglich, einmal den Handschuh
auszuprobieren - ohne sie auf mögliche Wahrnehmungsänderungen aufmerksam zu machen.
Die Rückmeldungen waren durchweg positiv:
Zum Beispiel erlitt der 77-jährige Hartmut Schmidt[*] im Jahr 2000 einen linksseitigen Hirninfarkt mit armbetonter rechtsseitiger Hemiparese
und massivem Hypertonus mit eingeschränktem Bewegungsausmaß. Nachdem er den Handschuh
das erste Mal anzog, löste sich spontan die Muskelspannung seiner Fingerflexoren.
Die Hand ließ sich passiv leicht öffnen und blieb regelmäßig in einer lockeren Funktionsstellung.
Die 72-jährige Ursel Peters[*] hatte im September 2012 einen linksseitigen Hirninfarkt mit sich zurückbildender
rechtsseitiger Armparese mit Restsymptomatik. Beim Tragen des Handschuhs beschrieb
sie ein deutlich besseres Gefühl für die Hand. „Das ,Eingeschlafen-Sein' ist nicht
mehr vorhanden“, erzählte sie. Mit dem Handschuh hatte sie eine deutlich höhere Fingerbeweglichkeit,
und sie konnte die Finger besser strecken als ohne Handschuh.
Die 59-jährige Ariane Eis[*] erlitt im November 2012 einen Hirninfarkt rechts mit armbetonter Hemiparese links
und Kleinhirnsymptomatik. Die Symptomatik war rückläufig, aber mit restituierendem
Verlust der Koordination und einem diffusen Gefühl für die linke Hand. Ihre Hand empfand
sie „wie in Watte gepackt“. Nachdem sie den Handschuh erstmals anzog, meinte sie:
„Unglaublich, Sie haben mir meine Hand wiedergegeben.“ Um einen direkten Vergleich
der Hand- und Armaktivitäten ohne und mit Handschuh zu erhalten, führte ich bei ihr
den Box-and-Block-Test durch. Dabei transportierte Frau Eis mit der rechten Hand 64
Blöcke und erzielte einen unteren Normwert, mit der betroffenen linken Hand transportierte
sie 52 Blöcke und lag weit unter der Norm. Mit dem Handschuh an der linken Hand transportierte
sie anschließend 66 Blöcke und erreichte einen unteren Normwert.
Die Ergebnisse genauer untersuchen
Die Ergebnisse genauer untersuchen
Diese Beobachtungen und Befragungen deuten darauf hin, dass ein handelsüblicher Peeling-
und Massagehandschuh Wahrnehmung und Beweglichkeit bei Menschen mit Schlaganfall verbessern
kann. Wünschenswert wäre, die Beobachtungen näher zu untersuchen, um die Wirkungsweise
zu differenzieren: Inwieweit ist der Therapieerfolg auf den Massagehandschuh zurückzuführen,
beziehungsweise wie lange hält die Wirkung an? Oder lässt sich die Wirkungsweise des
Handschuhs auch auf kortikaler Ebene darstellen, und verändert sich die Repräsentanz
der Hand auf kortikaler Ebene parallel zu den Wahrnehmungsveränderungen der Klienten?