Aktuelle Urol 2012; 43(06): 372-373
DOI: 10.1055/s-0032-1332779
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Überaktive Blase – Posteriore tibiale Nervenstimulation hilft

Contributor(s):
Johannes Weiß

Urology 2011;
78: 1046-1050
Further Information

Publication History

Publication Date:
19 December 2012 (online)

 
 

Patienten mit überaktiver Blase werden häufig mit Antimuskarinika behandelt. Bei einigen Patienten bessern sich die Beschwerden darunter nicht oder es treten Nebenwirkungen auf. Christobal Marchal, Hospital Costa del Sol, Málaga/Spanien, et al. haben aktuell erfolgreich die perkutane tibiale Nervenstimulation als alternative Therapieoption eingesetzt.
Urology 2011; 78: 1046–1050

mit Kommentar

An der Studie beteiligten sich 53 Patientinnen (Durchschnittsalter: 61,5 Jahre) mit überaktiver Blase, die auf eine Behandlung mit Antimuskarinika nicht angesprochen hatten. Alle Teilnehmerinnen erhielten den Fragebogen ICIQ-SF zur Inkontinenz (International Consultation on Incontinence Modular Questionnaire-Short Form). In einem Tagebuch dokumentierten die Patientinnen ihre Miktionen mit Tageszeit und Frequenz.

Die Urologen führten die folgenden urodynamischen Untersuchungen durch: Uroflowmetrie, Zystometrie und Druckflussanalyse und dokumentierten

  • die maximale Blasenkapazität,

  • das erste Gefühl der Blasenfüllung,

  • den Detrusordruck bei maximaler Blasenfüllung und

  • die mittlere Blasendehnbarkeit.

Für die tibiale Nervenstimulation stach der Arzt bei der stehenden Patientin eine 34-Gauge-Nadel kranial des medialen tibialen Malleolus zwischen den posterioren Rand der Tibia und den M. soleus und platzierte eine Elektrode am selben Bein nahe dem Innenrand der Fußsohle. Anschließend erfolgte die elektrische Stimulation mit Intensitäten zwischen 0 und 10mA, einer Pulsdauer von 200ms und einer Frequenz von 20Hz. Die 30-minütigen Sitzungen erfolgten in den ersten 8 Wochen wöchentlich, in den zweiten 8 Wochen 14-tägig und dann für weitere 8 Wochen monatlich. Als Heilung galt

  • eine Verbesserung des ICIQ-SF Scores um ≥ 50 %,

  • eine Reduktion der Miktionshäufigkeit um ≥ 50 % und

  • eine Verbesserung von ≥ 2 urodynamischen Parametern um ≥ 50 %.

Betrugen die Veränderungen ≥ 25 %, galt dies als Besserung der Beschwerden, lagen sie darunter, wurde dies als Therapieversagen gewertet.

Primäre Ansprechrate > 90 %

Nach 6 Monaten waren 92,4 % der Patientinnen (n = 49) entweder geheilt oder ihre Beschwerden hatten sich gebessert. Da 10 Patientinnen eine weitere Behandlung erhielten, wurden sie von der weiteren Analyse ausgeschlossen. Nach 12 Monaten verblieben noch 43 Patienten für die Analyse, von denen 90,7 % (n = 39) eine Heilung oder Besserung erreicht hatten, 9,3 % (n = 4) waren Therapieversager. Die durchschnittliche Miktionsfrequenz hatte sich von 14,7 / Tag auf 6,6 / Tag reduziert (p < 0,001) und die durchschnittliche nächtliche Miktionsfrequenz von 3,8 auf 1,5 (p < 0,001). Nach 24 Monaten waren noch 16 Patienten auswertbar, von diesen hatten 62,5 % (n = 10) eine Heilung oder Besserung erreicht. Allerdings hatte sich die nächtliche Miktionsfrequenz wieder signifikant von 1,5 auf 2,6 erhöht.

Fazit

Die posteriore tibiale Nervenstimulation sei eine geeignete Option für die Behandlung der überaktiven Blase, so die Autoren. Der optimale Zeitpunkt für eine Wiederholung dieser Behandlung liege 24 Monate nach Abschluss der Primärtherapie.

Kommentar

Renaissance der N.-tibialis-Stimulation?

Der Symptomkomplex der überaktiven Blase (OAB) stellt weiterhin ein wichtiges Krankheitsbild dar. Die Prävalenz liegt in Abhängigkeit der Studienpopulation und des Alters der Patienten bei 3–45 % [ 1 ]–[ 3 ]. Nach Definition der ICS ist die OAB durch folgende Symptome charakterisiert: Urgency mit oder ohne Inkontinenz, Frequency und Nykturia. Die OAB ist für die betroffenen Patienten mit einem hohen Leidensdruck assoziiert und schränkt ihre Lebensqualität ein [ 4 ], [ 5 ]. Das Therapiespektrum umfasst neben konservativen Verfahren, wie dem Verhaltenstraining (Toilettentraining), dem Beckenbodentraining, insbesondere die Therapie mit Antimuskarinika [ 6 ]. Weitere invasive Therapieoptionen sind die intravesikale Injektion von Botulinum-A-Toxin, die sakrale Neuromodulation sowie die chirurgische Blasenaugmentation. Die elektrische Stimulation des N. pudendus ist ein effektives Verfahren zur Therapie der OAB [ 7 ]. Die N.-tibialis-Stimulation (NTS) ist ein altes Verfahren [ 8 ], [ 9 ], welches nun wieder eine Renaissance erlebt und auch in prospektiven, randomisierten Studien einen signifikanten Therapieeffekt zeigt [ 10 ] – [ 15 ]. Marchal et al. untersuchen in ihrer hier vorgestellten Studie den Effekt der N.-tibialis-Stimulation auf die Symptome der OAB (Evaluation mittels Fragebogen) sowie auf urodynamische Parameter von Patienten mit überaktiver Blase [ 12 ]. Ziel der Studie war, die Wirksamkeit der NTS zu evaluieren und den Zeitpunkt der Wiederbehandlung zu definieren.

Studiendesign – Methodik

Die Untersuchung erfolgte als Fallserie, mit der leider die Fragestellung der Studie, wie sie im Titel erwähnt ist, nicht beantwortet werden kann. Es fehlt sowohl eine Randomisierung als auch eine Kontrollgruppe. Ein primärer Endpunkt der Studie, sowie eine genaue Definition des Wirkverlustes werden nicht definiert. Weiterhin bleibt unklar, warum die Autoren ihr Stimulationsparadigma wählen (Daten aus der Literatur?, Referenzen?).

Die Stimulation mittels Nadelelektrode unter Bestimmung der direkten motorischen Antwort ist ein effektives Verfahren, allerdings ist dies weniger invasiv auch mit Oberflächenelektroden durchzuführen. Aufgrund der sich häufig wiederholenden Behandlungen, der Invasivität und der Infektionsgefahr, sind die Oberflächenelektroden vorzuziehen. Die Evaluierung des Therapieerfolgs mittels validierter Fragebögen und urodynamischer Untersuchungen ist adäquat.

Ergebnisse

Der Zeitrahmen der Stimulationen lag bei 6 Monaten. Die Autoren zeigen eine gute Erfolgsrate, definiert als Heilung / Verbesserung von über 90 % nach 6 und 12 Monaten, wobei nach 24 Monaten die Erfolgsrate abnimmt, jedoch zu diesem Zeitpunkt auch nur noch wenige Patienten in der Studie eingeschlossen sind. Bei 10 von 16 Patienten zeigt sich ein persistierender Effekt. Ähnliche, positive Effekte zeigen sich auch in anderen Studien mit einer Verbesserung der Symptome von 50–70 % [ 14 ]–[ 17 ]. Dies beantwortet aber nicht die Frage, ab wann eine Therapie wieder eingeleitet werden muss, und das können diese Daten in dieses Studiendesign auch nicht beantwortet. Bei der Kontrolle nach 2 Jahren waren nur noch 16 Patienten in die Studie eingeschlossen, und diese Daten können nicht belegen, wann die Wirksamkeit genau nachgelassen hat. Die Frage, wann wieder eine Therapie weiterzuführen ist, lässt sich auch ohne diese Studie beantworten: Bei nachlassender klinischer Wirksamkeit, mit Zunahme der OAB-Symptome. Da es sich um ein Therapieverfahren ohne direkte medikamentöse Wirkung / Nebenwirkung handelt, ist eine wiederholte Anwendung sicher vertretbar.

Therapie ist klinischer relevant

Zusätzliche und effiziente Therapieverfahren zur Behandlung der OAB erweitern die Möglichkeiten des behandelnden Arztes. Häufig lehnen die Patienten die pudendale Elektrostimulation aufgrund der Notwendigkeit der vaginalen oder rektalen Applikation ab, sodass die NTS eine gute Alternative darstellt. Die Therapie der überaktiven Blase durch die N.-tibialis-Stimulationen zeigt ein adäquates Ergebnis und ist somit eine alternative Therapieoption. Bei Verwendung von Oberflächen-Elektroden ist dies ein Verfahren, welches auch in der ambulanten Therapie gut eingesetzt werden kann.

Fazit

Marchal und Kollegen präsentieren eine weitere Studie, die die Wirksamkeit der N.-tibialis-Stimulation zur Therapie der überaktiven Blase belegt, allerdings mit einigen methodologischen Schwächen zu kämpfen hat. Der Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Therapie kann aus diesen Daten nicht definiert werden. Eine prospektive, randomisierte und kontrollierte Studie, die die Dauer der Wirksamkeit überprüft und den Wirkverlust als primären Endpunkt definiert, wäre notwendig, um diese Fragestellung zu beantworten.

Dr. Jens Wöllner, Mainz


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Dr. Jens Wöllner


ist ist Facharzt für Urologie an der Klinik und Poliklinik für Urologie der Universitätsmedizin Mainz

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  • Literatur

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  • 6 Thuroff JW et al. European Urology 2011; 59: 387-400
  • 7 Brubaker L. Urology 2000; 55 (5A Suppl): 17–23; discussion 31–32
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  • 9 Piacentini F et al. Acta bio-medica de L'Ateneo parmense 1986; 57: 109-113
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