Aktuelle Urol 2012; 43(06): 370-372
DOI: 10.1055/s-0032-1332777
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Harnableitung nach Zystektomie – Wie ist die Langzeit-Nierenfunktion nach Ileum-Conduit und Neoblase?

Contributor(s):
Johannes Weiß

Eur Urol 2012;
61: 491-491
Further Information

Publication History

Publication Date:
19 December 2012 (online)

 
 

Das Ileum-Conduit und die orthotope Ileum-Neoblase gehören zu den häufigsten Formen der Harnableitung nach Zystektomie. Deren langfristige Auswirkung auf die Nierenfunktion wurde aber nur selten untersucht. Eine Schweizer Studie ist aktuell zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Obstruktion im Bereich des Harntrakts der Hauptrisikofaktor für eine Verschlechterung der Nierenfunktion in beiden Gruppen ist.
Eur Urol 2012; 61: 491–497

mit Kommentar

Xiao-Dong Jin, Universität Bern/Schweiz, und Kollegen analysierten retrospektiv die Daten von 50 Patienten mit Ileum-Conduit und von 111 Patienten mit Ileum-Neoblase. Alle Patienten hatten die Harn­ableitung nach einer Zystektomie zwischen 1985 und 2000 erhalten und lebten danach noch mindestens 10 Jahre. Die Nachuntersuchungen erfolgten 1, 3 und 6 Monate nach dem Eingriff, anschließend 5 Jahre lang halbjährlich und dann jährlich.

Zoom Image
Die Nierenfunktion der Patienten dieser Studie hatte 10 Jahre nach der Harnableitungsoperation nur bei 2 Patienten nach Ileum-Conduit so stark abgenommen, dass sie dialysepflichtig geworden waren. Mit Neoblase kam es bei keinem Patienten zur Dialysepflicht. (© Alexander Fischer / Thieme)

Während des Follow-up wurden folgende Untersuchungen durchgeführt:

  • Blutdruck

  • Serumkreatinin

  • Blutglukose

  • Urinkultur

  • Nierensonografie

  • Restharnbestimmung

  • Glomuläre Filtrationsrate (GFR)

Die GFR bestimmten die Ärzte anhand der MDRD-Gleichung (Modification of Diet in Renal Disease) . Eine Verschlechterung der Nierenfunktion war definiert als ein Abfall der GFR um > 10 ml / min pro 1,73 m² (10 Jahre nach dem Eingriff). Das mediane Alter der Patienten lag in der Ileum-Conduit-Gruppe bei 65 Jahren (♂ 42 %) und in der Neoblase-Gruppe bei 63 Jahren (♂ 89 %).

10 Jahre nach der Operation war in der Ileum-Conduit-Gruppe die GFR von 65,5 auf 57,0 ml / min pro 1,73 m² zurückgegangen und in der Neoblase-Gruppe von 68,0 auf 66,0 ml / min pro 1,73 m². Des Weiteren wurden 10 Jahre postoperativ folgende Veränderungen festgestellt:

    In der Ileum-Conduit-Gruppe

  • Verschlechterung der Nierenfunktion bei 36% der Patienten (n=18)

  • Verbesserung der GFR-Werte 10 Jahre postoperativ bei 4 Patienten

  • chronische Niereninsuffizienz im Stadium III–V bei 26% (n=13)

  • Dialysepflicht bei 2 Patienten

  • Verschlechterung der Nierenfunktion bei einer Obstruktion im Bereich der Harnleiter oder Blase bei 58% (7 von 12)

    In der Neoblase-Gruppe

  • Verschlechterung der Nierenfunktion bei 21% der Patienten (n=23)

  • Verbesserung der GFR-Werte 10 Jahre postoperativ bei 15 Patienten

  • chronische Niereninsuffizienz im Stadium III–V bei 17% (n=19)

  • Dialysepflicht bei keinem Patienten

  • Verschlechterung der Nierenfunktion bei Patienten mit einer Obstruktion im Bereich der Harnleiter oder Blase bei 37% (17 von 46)

Eine Obstruktion im Bereich des Harntrakts war in der multivariaten Regressionsanalyse der führende und unabhängige Risikofaktor für eine Verschlechterung der Nierenfunktion in beiden Gruppen. Bei Patienten mit Diabetes oder Bluthochdruck verschlechterte sich die Nierenfunktion nach einem Ileum-Conduit signifikant häufiger.

Fazit

Eine Obstruktion im Bereich des Harntrakts war sowohl bei Patienten nach einem Ileum-Conduit als auch nach der Ileum-Neoblase der häufigste Grund für eine Verschlechterung der Langzeit-Nierenfunktion. Diabetes- oder Hypertonie-Patienten hätten ein erhöhtes Risiko, so die Autoren.

Kommentar

Schützt die Neoblase den Harntrakt besser?

Oberste Priorität bei Anlage einer Harnableitung hat der Erhalt der Nierenfunktion. Obwohl postuliert wird, dass das Ileum-Conduit der Goldstandard der Harnableitung ist, weist auch dieses Patientenkollektiv eine nicht zu unterschätzende Rate an chronischer Niereninsuffizienz im Langzeitverlauf auf. Ob die orthotope Harn­ableitung bezüglich des Nierenfunktionserhalts dem Ileum-Conduit vergleichbar oder gegebenenfalls noch besser ist, untersuchte diese aktuelle Studie unter Berücksichtigung von Komorbiditäten.

Zur Beurteilung unzureichend:
Kreatinin und Nierenmorphologie

Die Studie aus der Schweiz lenkt den Blick weg von den technischen Möglichkeiten der Harnableitungen hin zum Schutz des oberen Harntrakts. Die Autoren legen die Notwendigkeit der möglichst exakten funktionellen und morphologischen Abklärung des oberen Harntraktes präoperativ und im Follow-up dar. Die alleinige Bestimmung des Kreatininwertes ist unzureichend [ 1 ], da dieser erst bei einer Einschränkung der Nierenfunktion von 50% ansteigt. Nuklearmedizinische GFR-Bestimmungsmethoden sind serumbasierten Methoden z.T. unterlegen [ 2 ].

Hier wird nun erstmals im Langzeitverlauf die relativ exakte Kreatinin-basierte Bestimmung der glomeruläreren Filtrationsrate (GFR) mittels Schätzgleichung durch die "modification of diet in renal disaese" (MDRD) vorgenommen. Das Follow-up von 10 Jahren ist das aktuell längste zur Beurteilung der Nierenfunktion. Prospektive Studien sind nicht vorhanden.

Schränkt die Aussage ein:
retrospektiver Charakter und Verlust von Follow-up-Daten

Die vorgelegte Studie arbeitet retrospektiv Risikofaktoren der beiden verschiedenen Harnableitung (Ileum-Conduit, Ileum-Neoblase) in Zusammenschau mit Begleiterkrankungen (Diabetes mellitus und arterielle Hypertonie) für den oberen Harntrakt heraus. Das untersuchte Kollektiv von 50 Ileum-Conduit- und 111 Ileum-Neoblase-Patienten lässt im retrospektiven Setting zumindest eine tendenzielle Aussage zu. Jedoch muss angemerkt werden, dass eine statistisch signifikante Negativselektion zu Ungunsten des Ileum-Conduit-Kollektivs bei der Verteilung von Diabetes mellitus und arterieller Hypertonie vorliegt.

MDRD unterschätzt die tatsächliche GFR bei Gesunden

Die Bestimmung der GFR mittels MDRD ist von limitierter Aussagekraft. Dennoch findet dieses Verfahren seit seiner Veröffentlichung 1999 eine breite Anwendung. Bei der Ermittlung der MDRD wurden damals aber nur Probanden mit chronischer Nierenerkrankung (mittlere GFR 40ml/min/1,73m²) eingeschlossen. Probanden mit diabetischer Nephropathie und nierentransplantierte Probanden sowie Nierengesunde wurden ausgeschlossen. Das mittlere Alter der Probanden lag bei 51 Jahren. Dies führt bei Gesunden zu einer Unterschätzung der GFR und zu einer Steigerung bei chronisch Nierenerkrankten. Die CKD-EPI-Schätzgleichung zur Bestimmung der GFR wurde 2009 vorgestellt ("chronic kidney disease epidemiology collaboration"). Sie wurde anhand einer deutlich größeren Population mit auch gesunden Probanden, Nierentransplantierten und Patienten mit diabetischer Nephropathie erstellt und ist aktuell am besten zur routinemäßigen Bestimmung der tatsächlichen GFR geeignet [ 3 ].

Dennoch ist die aktuelle Arbeit den bisher publizierten Daten bzgl. der Nierenfunktionsbestimmung nach Harnableitung und Länge des Follow-up überlegen. Erstmals wird der negative Einfluss der oben genannten Parameter bewiesen. Der negative Einfluss einer Obstruktion sowohl im Bereich des Conduits oder der Neoblase als auch im Bereich der Ureter-Implantation sind dargestellt.

Essenziell zur Wahl der Harnableitung: exakte Bestimmung der Nierenfunktion

Als Konsequenz für den behandelnden Arzt rückt die Kontrolle des oberen Harntraktes in den Vordergrund. Nebenerkrankungen wie Diabetes mellitus und arterielle Hypertonie müssen bei der Wahl der Harnableitung berücksichtigt werden. Die Wahl eines Ileum-Conduits zur Harnableitung ist häufiger mit einer Obstruktion des Harntraktes als bei Anlage eines orthotopen Blasenersatzes vergesellschaftet und führt häufiger zur Nierenfunktionsverschlechterung [ 4 ], [ 5 ]. Eine postoperative Obstruktion des Harntrakts jeglicher Art muss quantifiziert und zeitnah therapiert werden, um eine Nierenfunktionsverschlechterung zu verhindern. Chronische Harnwegsinfekte führen zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion sowohl bei Ileum-Conduit als auch bei Neoblase. Somit stellt sich die Frage, ob eine antirefluxive Harnleiterimplantation ein wirksamer Schutzmechanismus ist. Ist das Ileum-Conduit wirklich die günstigste Harnableitung bei Patienten, die für einen orthotopen Blasenersatz nicht geeignet sind? Ist das Colon-Conduit mit antirefluxiver Harnleiterimplantation und geringerer Rate an parastomalen Hernien dem Ileum-Conduit bezüglich Schutz des oberen Harntraktes vor chronischen Infektionen überlegen? Prospektive Studien zur Klärung dieser Fragen sind notwendig. Größere Zahlen sind erforderlich, um die gezeigten Ergebnisse zu bestätigen.

Dr. Wolfgang Leicht, Mainz


#

Dr. Wolfgang Leicht


ist Oberarzt an der Urologischen Klinik der Universitätsmedizin Mainz

Zoom Image
  • Literatur

  • 1 Kristjansson A, Mansson W. World J Urol 2004; 22: 172-177
  • 2 Ma YC et al. Nephrol Dial Transplant 2007; 22: 417-423
  • 3 Madero M, Sarnak MJ. Curr Opin Nephrol Hypertens 2011; 20: 622-630
  • 4 Samuel JD. J Urol 2006; 176 (6 Pt 1): 2518-2522 discussion 2522
  • 5 Madersbacher S et al. J Urol 2003; 169: 985-990

  • Literatur

  • 1 Kristjansson A, Mansson W. World J Urol 2004; 22: 172-177
  • 2 Ma YC et al. Nephrol Dial Transplant 2007; 22: 417-423
  • 3 Madero M, Sarnak MJ. Curr Opin Nephrol Hypertens 2011; 20: 622-630
  • 4 Samuel JD. J Urol 2006; 176 (6 Pt 1): 2518-2522 discussion 2522
  • 5 Madersbacher S et al. J Urol 2003; 169: 985-990

 
Zoom Image
Zoom Image
Die Nierenfunktion der Patienten dieser Studie hatte 10 Jahre nach der Harnableitungsoperation nur bei 2 Patienten nach Ileum-Conduit so stark abgenommen, dass sie dialysepflichtig geworden waren. Mit Neoblase kam es bei keinem Patienten zur Dialysepflicht. (© Alexander Fischer / Thieme)