OP-Journal 2013; 29(1): 32-38
DOI: 10.1055/s-0032-1328483
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die konservative Behandlung der proximalen Oberarmfraktur[*]

Christian Krettek
,
Nael Hawi
,
Ulrich Wiebking
Weitere Informationen

Prof. Dr. med. Christian Krettek, FRACS, FRCSEd, Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie, Direktor
Dr. med. Nael Hawi, Assistenzarzt
Dr. med. Ulrich Wiebking, Assistenzarzt
Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. Mai 2013 (online)

 

Zusammenfassung

Die proximale Humerusfraktur ist eine der häufigsten Frakturen des Menschen. Etwa 80 % der Frakturen sind wenig oder nicht disloziert und damit der konservativen Therapie gut zugänglich, etwa 80 % der Patienten sind über 60 Jahre alt. Winkelstabile Platte und Verriegelungsnagel haben bei hohen Komplikations- und Revisionsraten die Erwartungen vor allem beim älteren Patienten mit Osteoporose nicht erfüllen können. Prospektiv randomisierte Studien aus Finnland und Schweden haben ergeben, dass beim älteren Patienten über 60 Jahre bei der dislozierten 4-Teile-Fraktur die Ergebnisse der Plattenosteosynthese oder der Frakturprothese nicht besser sind als die der konservativen Behandlung. Gleiches gilt auch für die Frakturprothese.


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Conservative Treatment of Proximal Humerus Fractures

Proximal humerus fractures are among the most common fractures. About 80 % of all proximal humerus fractures are undisplaced or minimally displaced and suitable for non-operative treatment. About 80 % of all patients are more than 60 years old. Locked plating and interlocking nailing have not fulfilled the expectations, especially in elderly patients with osteoporotic bone. Prospective randomised studies from Scandinavia have shown that in elderly patients above 60 years of age clinical results and outcome in cases with dislocated three- and four-part fractures treated with locked plates or hemiarthroplasty are not better than those for patients treated non-operatively.


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Einleitung

Die Behandlung dislozierter Frakturen des proximalen Humerus bleibt eine Herausforderung. Frakturtyp, Dislokationsgrad und Alter gelten als wesentliche Prädiktoren für das funktionelle Ergebnis [5]. Für die Behandlung dislozierter Frakturen stehen eine Reihe von Optionen zur Verfügung. Die chirurgischen Behandlungsmöglichkeiten beinhalten offene oder geschlossene Reposition und Stabilisierungsverfahren unter Verwendung von Drähten, Cerclagen, Nägeln, Fixateur externe und Schrauben. Prothetischer Gelenkersatz unter Verwendung konventioneller oder inverser Prothesen oder konservative Therapie sind weitere Möglichkeiten [1], [2], [9], [10], [13], [14], [16].

Plattensysteme mit nicht winkelstabiler Platten-Schrauben-Verbindung sind insbesondere beim Patienten mit schwerer Osteoporose durch eine hohe Repositionsverlustrate kompliziert.

Vor diesem Hintergrund war der Einsatz winkelstabiler Plattenfixateure mit großen Erwartungen in Bezug auf einen verbesserten Erhalt des Repositionsergebnisses verbunden [6], [15]. Diese Erwartungen haben sich vor dem Hintergrund hoher Komplikationsraten und enttäuschender funktioneller Ergebnisse nicht erfüllt.

Zwar haben sich die radiologisch-anatomischen Ergebnisse durch den Einsatz der Winkelstabilität verbessert, die funktionellen Ergebnisse hinken aber hinter der verbesserten Anatomie weit hinterher.


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Die Studienlage – 3 prospektiv randomisierte Studien

1. Fjalestad-Studie: dislozierte 3/4-Teile-Frakturen – Platte vs. konservativ

Die norwegische Arbeitsgruppe um Fjalestad publizierte 2011 eine 2-armige, prospektiv randomisierte Studie mit insgesamt 50 Patienten (Mindestalter 60 Jahre) [3] ([Tab. 1]). Eingeschlossen wurden nur schwere, dislozierte (> 45° oder > 10 mm) 3- und 4-Teile-Frakturen der Gruppen 11-B2 (n = 13 in beiden Gruppen) und 11-C2 (n = 12 in beiden Gruppen) nach der AO/OTA-Klassifikation ([Abb. 1] und [2]). 25 Patienten wurden operativ (winkelstabile Platte, Cerclagen, Physiotherapie ab Tag 3), 25 konservativ (geschlossene Reposition, wenn Fragmentverschiebung > 50 % des Schaftdurchmessers, Physiotherapie ab Tag 15) behandelt. Zwei Patienten aus der operierten Gruppe verstarben. Die 12-Monats-Analyse zeigte keine statistisch signifikanten Unterschiede im funktionellen Ergebnis (Constant Score, Patienten Self-Assessment mit dem American Shoulder and Elbow Surgeons Standardized Shoulder Assessment Form) zwischen konservativer und operativer Therapie. Lediglich die radiologischen Scores zeigten erwartungsgemäß Vorteile zugunsten der operativen Therapie.

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Abb. 1 AO-Klassifikation.
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Abb. 2 Oben: operativ behandelte OTA Type 11-C2-Fraktur (intrakapsulär). (a) Konventionelle präoperative a.–p. Aufnahme. (b) Coputertomogramm mit 2-D sagittaler Rekonstruktion. (c) Nach 12 Monaten. Kein Nachweis einer avaskulären Kopfnekrose. Unten: konservativ behandelte OTA Type 11-B2-Fraktur (extrakapsulär). (a) Konventionelle Aufnahme vor Reposition. (b) Nach geschlossener Reposition. (c) Nach 12 Monaten Nachweis einer Varusfehlstellung, erstmals festgestellt nach 8 Wochen (aus [3]).

Tab. 1 Funktionelle Ergebniss und Komplikationen 1 Jahr nach Fraktur der Studie von Fjalestad et al. [3], [4] (aus [8]).

winkelstabile Platte (n = 25)

konservative Behandlung (n = 25)

AO Typ B2

13

13

AO Typ C2

12

12

Constant Score (95 %-KI)

52,3 (43,2–61,2)

52,2 (44,6–59,7)

0,1 (n. s.)

Constant Score Differenz (zwischen verletzt und unverletzt) (SD)

35,2 (17,2)

32,8 (16,2)

2,4 (p = 0,62)

Adjusted Constant Score (SD)

74,4 (29,4)

74,4 (22,9)

0,0 (p = 0,99)

ASES Self-Assessment Score (verletzte Seite) (SD)

14,8 (6,6)

15,5 (6,9)

0,7 (p = 0,71)

verstorbene Patienten

2

Implantatversagen oder Dislokation, die operative Maßnahmen erfordern

1

1

Pseudarthrose (schmerzlos)

2

Schraubenpenetration

7

Implantentfernung wegen Schraubenpenetration

3

fortgeschrittene avaskuläre Nekrose

2

Summe fraktur- oder behandlungsbezogener Komplikationen

13 (52 %)

3 (12 %)

15D Scores (nach 12 Monaten)

0,841 (0,105)

0,819 (0,083)

p = 0,436

Behandlungskosten

23 953 €

21 878 €

Die Bedeutung dieser Studie ist hoch. Erstmals gelang damit der Nachweis, dass die konservative Therapie der winkelstabilen Plattenosteosynthese vom funktionellen Ergebnis ebenbürtig ist, bei geringerer Rate an Komplikationen [7].

Die traditionelle Art und Weise, Ergebnisse und Effektivität nach chirurgischer oder konservativer Behandlung am Bewegungsapparat darzustellen, sind Bewegungsumfang, Muskelkraft, sowie radiologische Befunde wie Fragmentposition und Frakturheilung. Die Outcome-Forschung hat hier zeigen können, dass objektive Parameter nicht immer mit der subjektiven Einschätzung der Patienten übereinstimmen.

In einer weiteren Publikation basierend auf dem gleichen Patientengut untersuchte die Arbeitsgruppe die gesundheitsbezogene Lebensqualität mithilfe des 15D-Instruments ([Tab. 1]). Dabei werden 15 allgemeine Aspekte (15 dimensions oder abgekürzt 15D) des täglichen Lebens (bewegen, sehen, hören, Alltagstätigkeiten, Vitalität etc.) abgefragt und mit Werten zwischen 0 (Tod) und 1 (perfekte Gesundheit) skaliert (http://www.15D-instrument.net). Zu allen Messpunkten (0, 3, 6, 12 Monate) war die mit dem 15D-Instrument gemessene gesundheitsbezogene Lebensqualität ohne statistisch signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Der Unterschied der mittleren direkten und indirekten Behandlungskosten der beiden Behandlungsgruppen war ebenfalls ohne statistisch signifikante Unterschiede und betrug 23 953 € in der operierten Gruppe gegenüber 21 878 € in der konservativen Gruppe [4].

Beide Studien haben Einschränkungen. So konnte nicht in allen Fällen eine anatomische Reposition erzielt werden. Die verwendete winkelstabile Platte war nicht anatomisch vorgeformt, wie sie heute weitgehend verwendet wird. Eine relativ niedrige Rate an Pull-out (n = 1) verglichen mit anderen Studien macht es aber unwahrscheinlich, dass die Ursache für die limitierten Ergebnisse im verwendeten Implantatdesign der operativen Gruppe liegt [4].


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2. Olerud-Studie: dislozierte 3-Teile- Frakturen – OP vs. konservativ

In 2011 wurde noch eine 2. prospektiv randomisierte Studie (operativ versus konservativ) veröffentlicht mit der Besonderheit eines Nachuntersuchungszeitraums von 2 Jahren. Eingeschlossen wurden 60 Patienten mit dislozierten 3-Teile-Frakturen mit einem Durchschnittsalter von 74 Jahren (56–92) ([Tab. 2]) [12].

Tab. 2 Zusammenfassung der Studie von Olerud et al. [12] (aus [8]).

winkelstabile Platte (Philos)

konservative Behandlung

Differenz

randomisiert

30

30

verstorben

2

2

nachuntersucht nach 2 Jahren

27

26

anatomisch

86 %

14 %

Korrekturverlust

23 %

Mean Flexion

120°

111°

9°, p = 0,36

Mean Abduction

114°

106°

8°, p = 0,28

Constant Score

61

58

3, p = 0,64

DASH Score

26

35

9, p = 0,19

HRQoL (EQ-5D)

0,70

0,59

0,11, p = 0,26

Komplikation mit größeren ungeplanten Operationen wegen Infektion, Pseudarthrose, Kopfnekrose

n = 4 (13 %)

Komplikation mit kleineren ungeplanten Operationen wegen Schraubenperforation, Gelenksteife, Impingement

n = 5 (17 %)

Summe ungeplanter Operationen

n = 9 (30 %)

Pseudarthrose

1

1

In dieser Studie scheinen die operativ versorgten Fälle tendenziell etwas bessere Funktion (Beweglichkeit, Scores) zu haben, jedoch waren die Unterschiede statistisch nicht signifikant. Erheblich war der Unterschied in der Rate der ungeplanten Operationen, die in der operativen Gruppe mit 30 % signifikant erhöht war. Bei nur 7 % der Patienten wurde die Reoperation im 1. Jahr durchgeführt, bei weiteren 23 % erfolgte der Eingriff erst im 2. Jahr. Es zeigte sich auch, dass im 2. Jahr noch eine Verbesserung der Beweglichkeit erfolgt, vor allem bei den Patienten, die sich einem Reeingriff unterzogen haben [12].


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3. Olerud-Studie: dislozierte 3/4-Teile- Frakturen – Prothese vs. konservativ

2011 wurde erstmals eine prospektiv randomisierte Studie mit einem Vergleich Frakturendoprothese versus konservative Therapie publiziert [11]. 55 Patienten mit dislozierten 4-Part-Frakturen und einem Durchschnittsalter von 77 Jahren (58–92) wurden randomisiert und nach 4, 12 und 24 Monaten nachuntersucht. Es fanden sich nach 24 Monaten keine signifikanten Unterschiede im Constant Score, Beweglichkeit, DASH Score und Schmerzen (VAS). Lediglich die Lebensqualität in Form des EQ-5D zeigte bessere Ergebnisse (0,81 versus 0,65 (p = 0,02) zugunsten der Frakturprothese [11].


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Evidenzbasierte Therapie – welcher Patient sollte operiert werden?

Patient > 60 Jahre

Basierend auf den neuen Evidenzniveau-1-Studien haben wir einen Algorithmus entwickelt, der in [Abb. 3] und [4] dargestellt ist [8]. Klare Indikationen zum konservativen Vorgehen sind alle dislozierten (> 1 cm, > 45°) und wenig dislozierten Frakturen (< 1 cm, < 45°) bei Patienten > 60 Jahre, sofern sich keine zwingenden OP-Indikationen ergeben (Luxationsfrakturen, Headsplit-Frakturen, offener Weichteilschaden, Frakturen mit neurovaskulären Verletzungen, pathologische Frakturen und nicht geschlossen reponierbare Schaftdislokation > 50 %). Grundsätzlich müssen aber immer auch die patientenbezogenen Faktoren (Alter, Komorbidität, Aktivitätsanspruch, Begleitverletzungen) mit einbezogen werden. Schaftdislokation > 50 % werden in Analgesie/Kurznarkose reponiert. Dieses Vorgehen ist durch die Literatur ausreichend belegt [3].

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Abb. 3 MHH-Behandlungsalgorithmus. Fraktur- und Patientenfaktoren beeinflussen die Therapieentscheidung (aus [8]).
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Abb. 4 MHH-Algorithmus für die konservative Behandlung proximaler Humerusfrakturen. Bei Schaftdislokation > 50 % erfolgt eine geschlossene Reposition in Narkose. Bei Varusabkippung kann eine Abduktionsschiebe angelegt werden. Bei den übrigen Frakturen Gilchrist-Verband/Schultertasche für 3 Wochen (aus [8]).

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Patient < 60 Jahre

Beim Patienten unter 60 Jahren ist die Evidenzlage erheblich schlechter. Hier wird die Indikation zur OP deutlich aggressiver gestellt. Dislozierte Frakturen (> 1 cm [> 0,5 cm Tuberkulum], > 45°) werden operiert, undislozierte Frakturen werden konservativ behandelt.

Die Schwierigkeit stellen die wenig dislozierten Frakturen (< 1 cm, < 45°) dar, wo wir die OP-Indikation individuell stellen und die Problematik mit dem Patienten besonders intensiv diskutieren. Die Stabilitätsuntersuchung mithilfe des Röntgenbildverstärkers bringt keine Hilfestellung bei der Entscheidung für oder gegen operatives Vorgehen.

Eine schlüssige Erklärung für das generell schlechte Abschneiden der operativen Therapie ungeachtet des eingesetzten Verfahrens steht noch aus. Eine Möglichkeit könnte der im Alter oft größere subakromiale Raum und geringere Muskeltonus sein, was mehr Fehlstellung tolerieren ließe, als das beim muskelkräftigen Patienten mit engem Subakromialraum der Fall ist. Die beim operativen Vorgehen verfahrensabhängig mehr oder weniger starke Störung der Weichteile und Gleitschichten könnte ein weiterer Faktor sein.


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Technik der konservativen Behandlung

Der MHH-Algorithmus für die konservative Behandlung proximaler Humerusfrakturen ist in [Abb. 3] und [4] abgebildet. Die konservative Behandlung lässt sich in der Regel auch ambulant gut durchführen. Bei medialer Schaftdislokation > 50 % erfolgt eine geschlossene Reposition unter Analgesie oder Narkose [3], bei geringerer Medialisierung wird proximal eine kleine Rolle (elastische Binde) in die Achsel eingelegt. Bei Varusabkippung kann eine Abduktionsschiene sinnvoll sein.

1.–3. Woche

Bei den übrigen Frakturen Gilchrist-Verband/Schultertasche für 3 Wochen, ein Einschnüren in der Ellbeuge sollte unbedingt vermieden werden, die Hand bleibt frei. Zur Körperpflege kann der Arm herausgenommen werden, Streckübungen im Ellbogen werden als angenehm empfunden. Nach der 1. Woche geben routinemäßig keine Schmerzmedikation. Keine Krankengymnastik, keine Eigenübungen.


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3.–6. Woche

Durchführung von schmerzadaptierten Pendelübungen und geführte Bewegungen bis 90°. Verwendung der Schultertasche nach subjektivem Empfinden. Keine Krankengymnastik.


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6.–12. Woche

Weglassen der Schultertasche. Durchführung schmerzadaptierter Dehnungsübungen in Eigenbeübung, unterstützt durch Krankengymnastik. Stab und Umlenkrolle sind wichtige Übungsgeräte. Demonstration von Stretchingübungen, die der Patient in Eigenbeübung mehrfach täglich selbst durchführen soll.

Durch Einwirkung der Schwerkraft besteht ein hohes Spontankorrekturpotenzial auch bei Schafttransplation ([Abb. 5]), das es zu nutzen gilt. Über ein Hypomochlion („hohe Rolle“) in Form einer z. B. elastischen Bindenrolle kann ein zusätzliches korrigierendes Moment ausgeübt werden ([Abb. 6]).

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Abb. 5 Beispiel für das Potenzial zur schwerkraftinduzierten Schafttranslationskorrektur nach Repositionsmanöver unter Analgesie und proximale Rolle (aus [8]).
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Abb. 6 Biomechanisches Prinzip der proximalen Rolle bei Schafttranslation. Durch die Schwerkraft des Armes kommt es über das Hypomochlion der Rolle (z. B. elastische Bindenrolle) zu einer Translation des proximalen Endes des distalen Hauptfragments nach lateral (aus [8]).

Die Fallbeispiele in den [Abb. 7]–[9] belegen das große Potenzial konservativer Behandlung.

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Abb. 7 84-jähriger Patient, B2-Fraktur. Trotz dislozierter Fraktur mit hochstehendem Tuberculum majus schmerzfreie gute Funktion (Constant Score 83).
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Abb. 8 64-jährige Patientin mit rheumatoider Arthritis und C2-Fraktur in 2005. Konservative Behandlung. Unten rechts die Funktion bei der 2-Jahres-Nachuntersuchung. Schmerzfrei bis 1/2012 (7 Jahre) (Constant Score 74), dann Auftreten von progredientem Schmerz. Im Sommer 2012 problemlose Implantation einer Schulterprothese mit guter postoperativer Funktion.
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Abb. 9 Oben: 76-jährige Patientin, frische B1-Fraktur rechts. Auf der linken Gegenseite ähnliche Fraktur, die auswärts operativ mit winkelstabiler Platte stabilisiert wurde. Mitte: Frakturen im Verlauf. Ausheilungsbilder des rechten Humerus. Verlaufsbild der opertierten linken Seite mit Gilchristverband. Unten: beidseits schmerzfreie gute Funktion, auf der rechten, konservativ behandelten Seite sogar besser beweglich (Constant Score 78) als links (Constant Score 75).

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Obwohl die proximale Humerusfraktur eine der häufigsten Frakturen überhaupt ist, ist die Evidenzlage schlecht. Sie hat sich aber in den letzten Jahren insbesondere durch die 3 prospektiv randomisierten Studien aus Skandinavien verbessert.

Die winkelstabile Plattenosteosynthese und intramedulläre Stabilisierung haben die Erwartungen bislang nicht erfüllen können. Bei hohen Komplikations- und Revisionsraten konnte keine Verbesserung gegenüber der konservativen Therapie erreicht werden.

Basierend auf der aktuellen Literatur ergibt sich heute ein ernüchterndes Bild. Trotz massiven Bemühungen der Industrie und trotz des Einsatzes „moderner“ Implantate mit immer noch mehr Verriegelungsmöglichkeiten liegt für die dislozierten proximalen Humerusfrakturen des älteren Patienten über 60 Jahre kein Nachweis von Vorteilen der operativen Therapie vor, der die hohen Komplikations- und Revisionsraten rechtfertigen würde.

Operative und konservative Verfahren sind im funktionellen Ergebnis auch bei dislozierten Frakturen des Patienten über 60 Jahre ähnlich gut oder schlecht. Dieses nicht unterschiedliche Ergebnis ist aber im Fall der winkelstabilen Plattenosteosynthesen mit einer statistisch signifikant höheren Komplikationsrate behaftet, die in den meisten Studien um 30 % (20–50 %) liegt [8]. Die aktuell vorliegenden Daten rechtfertigen die zurzeit äußerst großzügig gestellten OP-Indikationen beim älteren Patienten nicht. Der Satz „… If it looks normal, it works normal …” bestätigt sich aus unserer Sicht am proximalen Humerus nicht.

Zwingende OP-Indikationen in allen Alterstufen sind Luxations- und Headsplit-Frakturen, offene Frakturen, manche Frakturen mit neurovaskulärem Schaden, die meisten pathologischen Frakturen und die nicht reponierbare Schaftdislokation > 50 % Schaftbreite.

Beim Patienten unter 60 Jahren sollten dislozierte Frakturen operiert werden. Undislozierte Frakturen werden konservativ behandelt. Die Schwierigkeit stellen die wenig dislozierten Frakturen dar, wo die OP-Indikation individuell gestellt und die Problematik mit dem Patienten besonders intensiv diskutiert werden sollte. Die Stabilitätsuntersuchung mithilfe des Röntgenbildverstärkers bringt keine Hilfestellung bei der Entscheidung für oder gegen operatives Vorgehen. Gerade für den unter 60-jährigen Patienten brauchen wir mehr und bessere Daten. Hier muss verstärkt daran gearbeitet werden, gute Evidenz in Form von sorgfältig geplanten (Fallzahl, Nachuntersuchungszeitraum) prospektiv randomisierten Studien zu generieren.

Konventionelle oder inverse Prothesen sind komplexen, nicht rekonstruierbaren Frakturformen vorbehalten. Auch für die dislozierte 4-Teile-Fraktur des über 60-jährigen Patienten ist der statistisch haltbare Nachweis der Überlegenheit der Frakturprothese in der prospektiv randomisierten Analyse noch nicht gelungen.


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* Die Publikation enthält Auszüge aus Krettek C, Wiebking U. Proximale Humerusfraktur: Ist die winkelstabile Plattenosteosynthese der konservativen Behandlung überlegen? Unfallchirurg 2011; 114: 1059–1067 (mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags, Heidelberg).


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  • 16 Wall B, Walch G. Reverse shoulder arthroplasty for the treatment of proximal humeral fractures. Hand Clin 2007; 23: 425-430

Prof. Dr. med. Christian Krettek, FRACS, FRCSEd, Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie, Direktor
Dr. med. Nael Hawi, Assistenzarzt
Dr. med. Ulrich Wiebking, Assistenzarzt
Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover

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  • 16 Wall B, Walch G. Reverse shoulder arthroplasty for the treatment of proximal humeral fractures. Hand Clin 2007; 23: 425-430

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Abb. 1 AO-Klassifikation.
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Abb. 2 Oben: operativ behandelte OTA Type 11-C2-Fraktur (intrakapsulär). (a) Konventionelle präoperative a.–p. Aufnahme. (b) Coputertomogramm mit 2-D sagittaler Rekonstruktion. (c) Nach 12 Monaten. Kein Nachweis einer avaskulären Kopfnekrose. Unten: konservativ behandelte OTA Type 11-B2-Fraktur (extrakapsulär). (a) Konventionelle Aufnahme vor Reposition. (b) Nach geschlossener Reposition. (c) Nach 12 Monaten Nachweis einer Varusfehlstellung, erstmals festgestellt nach 8 Wochen (aus [3]).
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Abb. 3 MHH-Behandlungsalgorithmus. Fraktur- und Patientenfaktoren beeinflussen die Therapieentscheidung (aus [8]).
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Abb. 4 MHH-Algorithmus für die konservative Behandlung proximaler Humerusfrakturen. Bei Schaftdislokation > 50 % erfolgt eine geschlossene Reposition in Narkose. Bei Varusabkippung kann eine Abduktionsschiebe angelegt werden. Bei den übrigen Frakturen Gilchrist-Verband/Schultertasche für 3 Wochen (aus [8]).
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Abb. 5 Beispiel für das Potenzial zur schwerkraftinduzierten Schafttranslationskorrektur nach Repositionsmanöver unter Analgesie und proximale Rolle (aus [8]).
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Abb. 6 Biomechanisches Prinzip der proximalen Rolle bei Schafttranslation. Durch die Schwerkraft des Armes kommt es über das Hypomochlion der Rolle (z. B. elastische Bindenrolle) zu einer Translation des proximalen Endes des distalen Hauptfragments nach lateral (aus [8]).
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Abb. 7 84-jähriger Patient, B2-Fraktur. Trotz dislozierter Fraktur mit hochstehendem Tuberculum majus schmerzfreie gute Funktion (Constant Score 83).
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Abb. 8 64-jährige Patientin mit rheumatoider Arthritis und C2-Fraktur in 2005. Konservative Behandlung. Unten rechts die Funktion bei der 2-Jahres-Nachuntersuchung. Schmerzfrei bis 1/2012 (7 Jahre) (Constant Score 74), dann Auftreten von progredientem Schmerz. Im Sommer 2012 problemlose Implantation einer Schulterprothese mit guter postoperativer Funktion.
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Abb. 9 Oben: 76-jährige Patientin, frische B1-Fraktur rechts. Auf der linken Gegenseite ähnliche Fraktur, die auswärts operativ mit winkelstabiler Platte stabilisiert wurde. Mitte: Frakturen im Verlauf. Ausheilungsbilder des rechten Humerus. Verlaufsbild der opertierten linken Seite mit Gilchristverband. Unten: beidseits schmerzfreie gute Funktion, auf der rechten, konservativ behandelten Seite sogar besser beweglich (Constant Score 78) als links (Constant Score 75).