Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2012; 22(06): 313-315
DOI: 10.1055/s-0032-1327594
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychosomatische Rehabilitation

Psychosomatic Rehabilitation
F. Petermann
1   Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation, Universität Bremen
,
U. C. Smolenski
2   Institut für Physiotherapie, Universitätsklinikum Jena
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Publication Date:
03 December 2012 (online)

Psychische und psychosomatische Krankheiten stellen in unserer Gesellschaft die Hauptursache für langfristige Behinderungen dar. Mittlerweile sind psychische/psychosomatische Erkrankungen der häufigste Grund für den Erhalt einer Rente wegen Erwerbsminderung [1] [2]. Hinzu kommt, dass sich das Verhältnis zwischen Erkrankungen des Bewegungssystems und der Psychosomatik umgedreht hat. Fälle von Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Krankheiten haben sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt [2]. Auch die Tatsache, dass körperliche und psychische Krankheiten sich meist über die Lebensspanne entwickeln [3] und in einem bidirektionalen Zusammenhang stehen, weist der interdisziplinären Orientierung der Rehabilitationsmedizin innerhalb unseres Versorgungssystems eine zukunftsweisende Stellung zu [4].

Die Wirksamkeit der psychosomatischen Rehabilitation gilt auf Grundlage einer Vielzahl von Studien als gesichert [5] [6]. Die Mehrzahl der Studien bezieht sich auf prospektive Verlaufsstudien mit mehreren Messzeitpunkten, die sich sowohl auf Selbst- als auch auf Fremdeinschätzungen stützen. In diesem Zusammenhang führten Steffanowski et al. [7] eine Metaanalyse aller Studien aus den Jahren 1980–2004 durch (MESTA-Studie). In die MESTA-Studie gingen die Daten von 3 680 Patienten ein. Es konnte kurz- und längerfristig eine deutliche Besserung des körperlichen und psychosozialen Befindens als Effekte der Rehabilitation gezeigt werden. In die Katamnesemessung gingen 46 Studien ein, die nach durchschnittlich 12 Monaten eine schwache Gesamteffektstärke (d=0,41) aufwiesen. Dabei konnten sowohl für verhaltenstherapeutisch als auch für tiefenpsychologisch ausgerichtete Behandlungsverfahren langfristige Effekte der psychosoma­tischen Rehabilitation gefunden werden, wobei meist mittlere Effektstärken erreicht wurden [8].

Koch et al. [9] untersuchten 260 beruflich besonders belastete Patienten. Durch die psychosomatische Rehabilitation konnten die psychische und psychosomatische Gesundheit deutlich verbessert werden. Dieser Effekt war auch 6 Monate nach Entlassung nachweisbar. Die zusätzliche berufsbezogene Gruppenintervention „Stressbewältigung am Arbeitsplatz“ erzielte im Vergleich zu Patienten, die an dem Standardprogramm der psychosomatischen Rehabilitation teilnahmen, eine günstigere berufliche Wiedereingliederung und eine höhere berufsbezogene Behandlungszufriedenheit.

Psychotherapeutisch-/psychosomatische Rehabilitation erfolgt häufig nicht in erster Linie diagnoseorientiert, sondern ist Teilhabe bzw. Krankheitsfolgen orientiert angelegt. Insofern macht die weitere Umsetzung des konzeptionellen Ansatzes der ICF in den rehabilitativen Alltag Sinn. In der psychotherapeutisch-/psychosomatischen Rehabilitation ist die Anwendung eines biopsychosozialen Modells zentraler Bestandteil der Fachdisziplin; daher erfordert die praktische Umsetzung der ICF hier keine grundlegende Neuorientierung, wie dies bei anderen Indikationen (z. B. Orthopädie) der Fall zu sein scheint. Dabei stellt der ressourcenorientierte Ansatz der ICF einen qualitativen Fortschritt im Vergleich zu einem in der Vergangenheit teilweise eher defizitorientierten Ansatz dar [6].

Die Entwicklungen der letzten Jahre haben zu einer Fokussierung auf die psychosomatische Rehabilitation geführt und mit ihr eine stärkere Erforschung:

  • spezifischer Patientengruppen und ihren Bedürfnissen (z. B. nach mehr Aufklärung über die Maßnahme [10], Berücksichtigung des Migrationshintergrunds [11]),

  • berufsbezogener Themen (z. B. Arbeitsmotivation, Motivation zur Wiedereingliederung in das Berufsleben) sowie

  • spezifischer Therapiestandards (z. B. für depressive Patienten) [12].

 
  • Literatur

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