ergopraxis 2012; 5(09): 16-17
DOI: 10.1055/s-0032-1327104
wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Qualitative Einzelinterviews – In die Tiefe fragen

Florence Kranz

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Publication Date:
07 September 2012 (online)

 

Wie denken andere Menschen über bestimmte Themen oder wie erleben sie gewisse Sachverhalte? Mit qualitativen Interviews kann man das herausfinden und „Mäuschen spielen“. Eine wissenschaftliche Erhebungsmethode mit Tiefgang.


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Florence Kranz

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Florence Kranz, Ergotherapeutin BcOT und cand M.A. Gesundheitsmanagement, hat mehrere Bachelorstudenten betreut, die sich ihr Thema durch qualitative Interviews erschlossen haben.

Individuelle Standpunkte nachvollziehen, Gefühle nachempfinden und Deutungsmuster verstehen. Qualitative Interviews eröffnen ganz besondere Einblicke. Sie offenbaren, wie Menschen ihre Lebenswirklichkeit erfahren [1]. Diese entfalten sich in einem Gespräch, das zwischen einem Fragesteller und einem Befragten stattfindet und ein bestimmtes Ziel verfolgt [2].

Interviews gelten als die häufigste Erhebungsmethode der qualitativen Forschung [3]. Ihre Geschichte lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, wo sie dem Anthropologen Franz Boas für seine ethnologischen Studien dienten [4]. Heutzutage nutzt die Gesundheitsforschung Interviewstudien, um Erfahrungen oder Sicht- und Erlebensweisen von Klienten und Therapeuten zu ermitteln. Auf diese Weise untersuchten zum Beispiel Patricia Mortensen und Eleanor Wray an der University of British Columbia, wie Ergotherapeuten in der Frühförderung kultursensibel vorgehen [5]. Und ein Forschungsteam um den niederländischen Bewegungswissenschaftler Haitze de Vries ermittelte mithilfe von Interviews, wie Menschen trotz chronischer Schmerzen am Arbeitsleben teilhaben können [6].

Vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten

Ein Blick in die Forschungsliteratur macht schnell deutlich: DAS Interviewverfahren gibt es nicht. Das Spektrum reicht von standardisierten mündlichen Befragungen bis hin zum offenen Gesprächsverlauf [1, 3]. In gesund-heitsbezogenen Forschungsprojekten überwiegen semistrukturierte Interviewverfahren, die auf einem Leitfaden basieren. Der Vorteil dieser Vorgehensweise: Der Leitfaden bietet dem Interviewer eine Orientierung und lässt ihm dennoch genügend Spielraum, um das Gespräch flexibel zu gestalten [7, 8].

Mit Interviews kann man zudem unterschiedliche Absichten verfolgen. Regt man die Befragten zu offenen Stegreif-Erzählungen an, spricht man vom „narrativen Interview“ [9]. Möchte man ergründen, wie Menschen ein gesellschaftliches Problem reflektieren, hat sich der Begriff des „problemzentrierten Interviews“ durchgesetzt [10]. Ein bestimmtes Thema steht auch beim „fokussierten Interview“ im Mittelpunkt. Dieses findet oftmals im Gruppensetting statt. Die Forscher lösen durch einen gezielten Vorab-Input Reflexionsprozesse bei den Befragten aus (ergopaxis 6/12, „Fokusgruppen“, S. 10) [11]. In der Gesundheitsforschung begegnet uns häufig das „diskursive Interview“, in dem die Befragten als Experten in eigener Sache fungieren. Im Interview sollen sie ihr Spezialwissen offenbaren, das sie aufgrund ihrer Lebenssituation oder sozialen Rollen besitzen [12].

Variationsmöglichkeiten bestehen ebenso, wenn es um die konkrete Durchführung geht. So können Interviews ganz klassisch im persönlichen Treffen stattfinden, via Telefon, E-Mail oder MSN Messenger [13].


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Am Leitfaden orientieren

Welche Art der Interviewführung sich am besten eignet, hängt von der gewählten Problemstellung und dem möglichen Teilnehmerkreis ab. Am Anfang steht daher die Frage: „Was will man wie und mit wem untersuchen?“ Entscheidet man sich für ein semistrukturiertes Verfahren, ist es empfehlenswert, mit einem Leitfaden zu arbeiten. Diesen sollte man auf das Forschungsthema beziehen und vorab in einem Pretest überprüfen [8].

Geeignete Fragen lassen sich mit der sogenannten SPSS-Methode entwickeln. Hierbei sammelt man zunächst möglichst viele Ideen in einem Brainstorming. Anschließend prüft man die gefundenen Fragen und streicht die ungeeigneten. Die übrigen Fragen lassen sich nach Inhalt und Funktion sortieren und dem Leitfaden zuordnen (subsumieren). So erhält man ein Grundgerüst, das sich aus Leit-, Aufrechterhaltungs- und Nachfragen zusammensetzen kann („Fragen für den Interviewleitfaden“) [14]. Dabei wichtig sind offene und verständliche Formulierungen, die den Interviewten zum Reden animieren. Geschlossene Fragen kann man ergänzend am Ende des Interviews oder in einem Kurzfragebogen stellen, um beispielsweise Hintergrundinformationen zum Alter oder zur Berufserfahrung zu ermitteln.

Interviews finden häufig im gewohnten Umfeld des Befragten statt und dauern idealerweise nicht länger als eineinhalb Stunden, damit sich die Beteiligten bis zum Schluss darauf konzentrieren können [15].

Fragen für den Interviewleitfaden [14]
  • > Leitfragen geben ein bestimmtes Thema vor, sind offen gehalten und fordern zum Erzählen auf. Zum Beispiel: „Beschreiben sie doch bitte einmal, wie sie in der Therapie vorgehen.“

  • > Aufrechterhaltungsfragen unterstützen den Erzählfluss und regen zum Assoziieren an wie: „Was fällt Ihnen sonst noch dazu ein?“

  • > Konkrete Nachfragen beziehen sich auf inhaltliche Aspekte, die eventuell zu kurz kommen. Zum Beispiel: „Inwieweit beeinflusst der kulturelle Hintergrund Ihres Klienten, wie Sie in der Therapie vorgehen?“


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Befragte zum Verbalisieren anregen

Egal, für welche Variante des Interviews man sich entscheidet, die Interaktion zwischen Interviewer und Interviewtem spielt eine entscheidende Rolle. Sie soll den Befragten dazu anregen, einen Sachverhalt aus seiner Perspektive und in seinen Worten darzulegen. Der Interviewer unterstützt diesen Verbalisierungsprozess, indem er sich auf die Sicht- und Erlebensweise seines Gegenübers einlässt. Dabei begleitet er den Interviewten gewissermaßen durch dessen mentale Welt [2].

Eine angenehme Atmosphäre sowie ein lockerer Einstieg helfen dem Befragten, sich zu öffnen. Während des Interviews ist es für den Fragesteller wichtig, genau zuzuhören und sich die bisherigen Inhalte des Gespräches zu vergegenwärtigen. Welche Fragen hat er bereits formuliert, wie hat der Interviewte darauf reagiert und wie lässt sich daran anknüpfen? Die hohe Kunst besteht darin, den Befragten gezielt zum (Weiter-)Reden anzuregen, seinen Redefluss aber nicht durch eigene Äußerungen zu irritieren. Findet das Interview im Face-to-Face-Kontakt statt, kann der Fragesteller auch die nonverbalen Signale und Stimmungen seines Gegenübers berücksichtigen. Eine zuverlässige Aufnahmetechnik (Diktier-/Videogerät) sorgt dafür, dass die Gesprächsinhalte nicht verloren gehen [16]. Um die Interviews auswerten zu können, muss der Fragesteller sie zuvor verschriftlichen (transkribieren). Mit zusätzlichen Notizen zum Setting und den Teilnehmern rundet er das gewonnene Bild ab.


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Hinter das Messbare blicken

Die ausgewerteten Daten eröffnen einen Einblick in das Innenleben sozialer Phänomene, die man für gewöhnlich nicht beobachten kann [17]. Somit trägt die qualitative Gesundheitsforschung dazu bei, die inneren Lebenswelten von Akteuren des Gesundheitswesens besser zu verstehen. Ihre Ergebnisse können neue Impulse liefern, um die Gesundheitsversorgung sowie darauf bezogene Modelle und Ausbildungsprogramme weiterzuentwickeln.

Die eingangs erwähnte Studie von de Vries et al. ermittelte beispielsweise konkrete Motivations- und Erfolgsfaktoren, um trotz chronischer Schmerzen am Arbeitsleben zu partizipieren. Therapeuten können diese Faktoren aufgreifen, wenn sie betroffene Klienten in ihrem Bedürfnis nach Produktivität unterstützen wollen [6].

Um eine höhere Beweis- und Aussagekraft zu erreichen, lassen sich qualitative Interviewverfahren mit anderen Erhebungsmethoden kombinieren (Triangulation). Dieses Vorgehen empfiehlt sich vor allem dann, wenn Assessments oder Interventionen auf dem Prüfstand stehen. Obwohl sich die Ergebnisse qualitativer Studien nicht ohne Weiteres verallgemeinern lassen, bieten sie Ergotherapeuten einen besonderen Nutzen: Indem sie verborgene Sinn- und Bedeutungszusammenhänge aufdecken, können sie zu neuen Denk- und Herangehensweisen inspirieren.


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