Einleitung
Das Krankheitsbild Lungenkrebs erfordert sowohl in Diagnostik als auch Therapie eine hohe interdisziplinäre Kompetenz. Die morphologische und biologische Heterogenität der Tumoren sowie die besonders hohe Komorbiditätslast erfordern ein optimales Zusammenspiel vor allem zwischen Pneumologen, Thoraxchirurgen und Strahlentherapeuten. Viele, aber nicht alle Lungenkrebspatienten werden in pneumologisch-thoraxchirurgischen Einrichtungen versorgt. Zur Gewährleistung einer möglichst flächendeckenden Behandlungsqualität haben die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, die Deutsche Gesellschaft für Thoraxchirurgie und die Deutsche Krebsgesellschaft zusammen mit weiteren Fachverbänden eine S3-Leitlinie für das Krankheitsbild erstellt [1].
Mehr als ein Jahr nach Veröffentlichung dieser Leitlinie stellt sich die Frage nach deren Umsetzung sowohl in spezialisierten als auch nicht spezialisierten Einrichtungen. Durch die jährlichen Veröffentlichungen zur Häufigkeit der operativen Behandlung des Lungenkrebses in den Berliner Krankenhäusern gibt es zumindest Hinweise für die Verteilung der Patienten auf die Einrichtungen verschiedener Art [2]. Ferner existiert eine Arbeit, die eine Übersicht über Versorgungsstrukturen bei der Behandlung von Lungenkrebspatienten bietet [3]. Darüber hinausgehende Daten zur Behandlungsqualität selbst wurden aber bisher in Deutschland noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Studie berichtet über eine erste Umfrage zur Qualitätsicherung anhand der Qualitätsindikatoren in der Leitlinie im Land Berlin.
Material und Methoden
Die Querschnittstudie widmete sich dem Thema Qualitätssicherung im Bereich der konservativen Lungenkarzinom-Behandlung innerhalb der potenziell an der Versorgung teilnehmenden stationären und ambulanten Versorgungseinrichtungen im Land Berlin. Als Basis für die empirische Erhebung diente ein Fragebogen, der Fragen zu den Bereichen Diagnostik und Therapie des Lungenkarzinoms, basierend auf den in der S3-Leitlinie formulierten Qualitätsindikatoren 2 – 8 [1], sowie zur Erfassung der Lebensqualität enthielt (s. [Abb. 1]). Der Fragebogen wurde am 9.11.2010 postalisch an alle stationären pneumologischen, onkologischen und allgemeininternistischen Einrichtungen, ferner an alle pneumologischen und onkologischen Schwerpunktpraxen im Land Berlin versendet. Die jeweiligen Verteilerlisten wurden im Vorfeld mittels Online-Abfragen von spezifischen Adressdateien der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin [4] bzw. des Berliner Krankenhausverzeichnisses [5] generiert.
Abb. 1 Fragebogen auf der Grundlage der Qualitätsindikatoren 2 – 8 der S3-Leitlinie zur Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms.
Die Befragung wurde Ende Januar 2011 geschlossen. Die statistische Auswertung der Ergebnisse erfolgte im Februar 2011 mit Hilfe des Statistikprogramms SPSS 18.0 (SPSS Inc., Chicago, IL, USA).
Am 4. 4. 2011 erfolgte – nach vorhergehender schriftlicher Einladung aller zuvor angeschriebenen Einrichtungen – ein Audit zur Ergebnispräsentation, bei der alle Teilnehmer die Gelegenheit hatten, die Ergebnisse zu bewerten und zu kommentieren.
Ergebnisse
Eine Übersicht über angeschriebene Versorgungseinrichtungen sowie deren jeweilige Rücklaufquoten finden sich in [Tab. 1]. Die Umfrageergebnisse werden detailliert in den [Tab. 2] und [Tab. 3] wiedergegeben.
Tab. 1
Übersicht über angeschriebene Versorgungseinrichtungen sowie deren jeweilige Rücklaufquoten.
Einrichtungsart
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Angeschrieben
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Rücklauf
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Kliniken für Innere Medizin (Allgemein)
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21
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7 (33,3 %)
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Kliniken für Innere Medizin (Onkologie)
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9
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8 (88,9 %)
|
pneumologische Kliniken
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7
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7 (100,0 %)
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onkologische Schwerpunktpraxen
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30
|
13 (43,3 %)
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Pneumologiepraxen
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46
|
10 (21,7 %)
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Gesamtergebnis
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113
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45 (39,8 %)
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Tab. 2
Umfrageergebnisse zu den Bereichen Diagnostik und Therapie des Lungenkarzinoms, basierend auf den in der S3-Leitlinie formulierten Qualitätsindikatoren 2 – 8.
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stationäre Einrichtungen
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Schwerpunktpraxen
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Qualitätsindikator
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allgemein-internistisch n = 7
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onkologisch n = 8
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pneumologisch n = 7
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onkologisch n = 13
|
pneumologisch n = 10
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FDG-PET bei Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom und auf der CT Thorax-Untersuchung basierender kurativer Therapieintention
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Mediastinoskopie bei Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom und auf der CT Thorax-Untersuchung basierender kurativer Therapieintention
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-
3 (42,9 %)
-
4 (57,1 %)
-
0 (0 %)
|
-
5 (62,5 %)
-
3 (37,5 %)
-
0 (0 %)
|
7 (100,0 %)
0 (0,0 %)
0 (0 %)
|
-
9 (69,2 %)
-
3 (23,1 %)
-
1 (7,7 %)
|
-
7 (70,0 %)
-
2 (20,0 %)
-
1 (10,0 %)
|
EBUS bei Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom und auf der CT Thorax-Untersuchung basierender kurativer Therapieintention
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-
1 (14,3 %)
-
6 (85,7 %)
-
0 (0 %)
|
-
5 (62,5 %)
-
3 (37,5 %)
-
0 (0 %)
|
-
7 (100,0 %)
-
0 (0,0 %)
-
0 (0 %)
|
-
10 (76,9 %)
-
3 (23,1 %)
-
0 (0 %)
|
-
7 (70,0 %)
-
2 (20,0 %)
-
1 (10,0 %)
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Adjuvante Chemotherapie bei Pat. mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom nach R0-Resektion und systematischer Lymphknotendissektion in den Stadien II bis IIIA1/2
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Kombinierte Radiochemotherapie im Stadium IIIA4 /IIIB beim nichtkleinzelligen Lungenkarzinom
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Cisplatin-basierte Kombinationschemotherapie bei Pat. mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom in den Stadien IIIB (Pleuraerguss) und IV
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Zweitlinienchemotherapie bei Pat. mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom und Progress nach primärer Chemotherapie
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Kombinierte Radiochemotherapie bei Pat. mit kleinzelligem Lungenkarzinom in den bestrahlungsfähigen Stadien IIB[T3] – IIIB (TNM: cT1 /2 N2 – 3 M0, cT3 /4 N0 – 3 M0)
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Prophylaktische Radiatio des Hirnschädels bei Pat. mit kleinzelligem Lungenkarzinom und Remission nach Abschluss der Primärtherapie
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Tab. 3
Umfrageergebnisse zu dem Fragekomplex Lebensqualitätmessung.
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stationäre Einrichtungen
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Schwerpunktpraxen
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allgemein-internistisch n = 7
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onkologisch n = 8
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pneumologisch n = 7
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onkologisch n = 13
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pneumologisch n = 10
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Erfassung der Lebensqualität
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-
1 (14,3 %)
-
6 (85,7 %)
-
0 (0 %)
|
-
1 (12,5 %)
-
6 (75,0 %)
-
1 (12,5 %)
|
-
6 (85,7 %)
-
1 (14,3 %)
-
0 (0 %)
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-
3 (23,1 %)
-
10 (76,9 %)
-
0 (0 %)
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-
2 (20,0 %)
-
8 (80,0 %)
-
0 (0 %)
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Instrumente zur Messung der Lebensqualität
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Karnofsky-Index
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eigener Fragebogen
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Zeitpunkte der Lebensqualität-Messung
(Listung aller Antworten)
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-
bei Erstdiagnose
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vor Therapie
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während Therapie
-
nach Therapie
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-
bei Erstdiagnose
-
nach Chemotherapie
-
nach 6 Monaten
-
bei Bedarf
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An dem Audit am 4. 4. 2011 nahmen Vertreter von elf Einrichtungen und eine Vertreterin der Selbsthilfegruppe Lungenkrebs e. V. teil. Nach einer ausführlichen Präsentation und anschließenden Diskussion der Ergebnisse erklärten sich alle Audit-Teilnehmer mit der Publikation der Ergebnisse in der vorliegenden Form einverstanden.
Diskussion
Unsere Umfrageergebnisse zeigten bei gutem Rücklauf eine nahezu vollständige konzeptionelle Leitlinientreue in stationären pneumologischen bzw. pneumologisch-thoraxchirurgischen Einrichtungen. Bei keinem Qualitätsindikator gab es wesentliche Abweichungen.
In stationären Einrichtungen mit onkologischem Schwerpunkt sowie pneumologischen bzw. onkologischen Schwerpunktpraxen ergaben sich Abweichungen bzw. Nichtbeachtungen von mehreren Qualitätsindikatoren der Leitlinie. Die Abweichungen betrafen v. a. multimodale Therapievorgaben mit einem höheren Therapie- und Koordinationsaufwand. Die tendenziell geringste Leitlinientreue wiesen Einrichtungen auf, die keine pneumologische oder onkologische Spezialisierung besaßen.
Unsere Untersuchung zur Implementierung der Leitlinie ergab somit Hinweise auf einen unterschiedlichen Umsetzungsgrad in Einrichtungen unterschiedlicher Spezialisierung. Letztendlich erlauben die erhobenen Daten aber insofern keine Aussage über die Behandlungsqualität der befragten Zentren, als lediglich Kennzahlen der Umsetzung, aber keine therapeutischen Endpunkte abgefragt wurden.
Die Leitlinie wurde insbesondere erstellt, um die Behandlungsqualität von Patienten außerhalb hochspezialisierter Einrichtungen mit trimodalen Versorgungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Dieses Ziel ist ein Jahr nach Erscheinen der Leitlinien bei weitem noch nicht erreicht worden. Die Gründe für eine unzureichende Durchdringung wurden in dieser Untersuchung nicht abgefragt und sind nicht bekannt.
Allerdings ist bislang noch nicht erwiesen, ob beim Lungenkarzinom Leitlinientreue eine prognostische Relevanz besitzt. Beim Mammakarzinom hingegen konnte in einer Beobachtungsstudie für die Region Ulm gezeigt werden, dass sowohl rezidivfreies Überleben als auch Gesamtüberleben negativ mit der Anzahl der Abweichungen von Leitlinienempfehlungen korrelierte [6]. Solange für das Lungenkarzinom keine vergleichbaren Beobachtungstudien vorliegen, empfiehlt sich nichtsdestoweniger ein leitlinientreues Verhalten, denn es muss mindestens mit der Möglichkeit eines positiven prognostischen Einflusses gerechnet werden.
Noch heterogener waren die Ergebnisse im Hinblick auf die Erfassung der Lebensqualität. Methodisch einschränkend muss gesagt werden, dass das Ergebnis eine Mischung von Parametern zur Beschreibung des Allgemeinzustandes der Patienten bzw. ihrer Symptomlast und anerkannten Parametern zur Erfassung der Lebensqualität darstellt. Die Erfassung von Komorbiditäten wurde nicht erfragt. Weder national noch international existieren allerdings einheitliche Vorgaben, wie die Parameter zur Beschreibung von Lebensqualität, Symptomlast und Komorbiditäten bei Lungenkrebspatienten einheitlich und damit vergleichbar zu erfassen sind.
Bei diesem Qualitätsparameter zeigten ausschließlich stationäre pneumologische Einrichtungen eine zufriedenstellende Anwendungsquote.
Als möglicher Bias in dieser Studie ist prinzipiell die gewählte Methode der Selbstauskunft mit nur eingeschränkter Möglichkeit der Ergebnisvalidierung zu nennen [7]. Aus diesem Grunde führten wir ein Audit zur Ergebnispräsentation und Möglichkeit der kritischen Diskussion der Ergebnisse durch, das von rund einem Viertel der an der Studie partizipierenden Einrichtungen besucht wurde. Die Audit-Teilnehmer bestätigten die vorliegenden Ergebnisse.
Die Implementierung einer Leitlinie ist die wesentliche Phase nach deren Erstellungsprozess, entscheidet sie doch über deren späteren Anwendungs- und Umsetzungsgrad durch alle angesprochenen Fachdisziplinen in der alltäglichen Praxis [8]
[9]
[10]. Die deutsche S3-Leitlinie bietet mit den enthaltenen neun Qualitätsindikatoren, der Leitlinien-Kurzfassung sowie einem Patientenfragebogen nach beruflichen Ursachen von Lungentumoren Instrumente zur besseren Implementierung und späteren Umsetzung [1]
[11]
[12].
International finden sich erste Studien, die sich der Frage nach dem Umsetzungsgrad von Behandlungsempfehlungen in Lungenkarzinom-Leitlinien annehmen. In diesen Arbeiten werden mitunter gravierende Abweichungen von Leitlinienempfehlungen in der Routinebehandlung von Lungenkrebspatienten aufgezeigt [13]
[14]
[15]
[16]
[17]
[18]
[19]
[20]
[21]. Derartige Studien sind eine wesentliche Grundlage für das Monitoring von Leitlinien in deren Umsetzungsphase und bieten so die Möglichkeit der späteren Optimierung. In einem durch den Europarat 2001 propagierten Modell wird Evaluation als ein integraler Bestandteil des Lebenszyklus von Leitlinien gesehen [10]. Für Deutschland gibt es jedoch bislang keine vergleichbaren Studien. Die vorliegende Arbeit stellt somit einen ersten Schritt bei der Beantwortung dieser Fragestellung auf einer regionalen Ebene in Deutschland dar.
Als nächste Schritte sollten gleichartige Umfragen flächendeckend über die regionalen Tumorzentren in allen Bundesländern durchgeführt werden. In einer zweiten Runde der Befragung müssen ergänzend die Gründe für Abweichungen von leitliniengerechten Behandlungskonzepten erfragt werden. Sinnvoll wäre eine zeitgleiche, koordinierte Vorgehensweise der deutschen Tumorzentren, um die bestmögliche Vergleichbarkeit zu erzielen.