Ernährung & Medizin 2012; 27(3): 97
DOI: 10.1055/s-0032-1325200
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Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

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Hans-Joachim F. Zunft
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Publication Date:
12 September 2012 (online)

 
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    „Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.“ Nun ja, sie sorgt sich wegen ihres Sohnes Philipp, der sich nicht der elterlichen Vorstellung von Esskultur unterordnen will. Vielmehr gaukelt er und schaukelt, trappelt und zappelt – das schreckliche Ende kennen wir. Gemeinsam mit den entsetzten, zornigen Eltern schauen wir auf einen leergefegten Tisch als Ergebnis der übermütigen Tollerei des hyperaktiven Kindes.

    Aber kann uns Heutige eine leere Tafel wirklich schrecken? In jedem Schnellimbiss begrüßen uns schmucklose Tische, und das notwendige Gedeck erscheint in Sekunden vor uns, sobald wir uns nur gesetzt und unsere Verzehrsabsicht bekundet haben. Natürlich würden wir den dann folgenden Akt der Nahrungsaufnahme nicht – höchstens mit spöttischem Unterton – als „Tafeln“ bezeichnen. Dennoch muss dies keinen Verlust an Essensfreude bedeuten. Die Spannbreite der Bedingungen, unter denen wir etwas zu uns nehmen, ist immens. Genauso weit variieren die Ziele, die uns zu Essen und Trinken motivieren: Trieb uns gestern der Hunger, wünschen wir uns heute die genussvolle Verführung, und morgen verhilft uns das Business Lunch zur Belebung neuer Geschäftsinteressen.

    Die Esskultur ist im Wandel. Und dies nicht nur aus semantischer Sicht, sondern auch im praktischen Leben. Die Beiträge des vorliegenden Heftes beleuchten diese Veränderungen. Gunther Hirschfelder widmet sich beiden Aspekten. Zunächst geht er auf die erweiterte Bedeutung ein, die dem Begriff Esskultur heute beigemessen wird. Sodann beschreibt er, welcher Fülle widerstreitender Einflussgrößen unsere Verzehrsgewohnheiten unterliegen: Religion und Tradition, Mangel und Überfluss, ökologischen und gesundheitsbezogenen Erwägungen.

    Dieser Übersicht schließt sich Gesa Schönberger an und betrachtet, wie sich unsere Mahlzeiten in jüngerer Zeit verändert haben. Wo gibt es noch den „geordneten“ Familienhaushalt der Vor- und Nachkriegszeit – mit klarer Rollenverteilung und pünktlichem Essen mit Anwesenheitspflicht aller Angehörigen? Geänderte ökonomische Grundlagen und Sozialstrukturen, neue Formen der Speisenaufbewahrung und -zubereitung, moderne Entwicklungen der Lebensmittelindustrie erlauben eine zuvor unbekannte Freizügigkeit in Form, Zusammensetzung und Terminwahl unserer Mahlzeiten.

    Warum aber folgen wir in unserer Kostwahl bestimmten Trends und verweigern uns anderen? Thomas Ellrott geht dem komplizierten Wechselspiel zwischen mehr emotionalen und mehr rationalen Verbraucherentscheidungen nach. Sein praxisorientiertes Resümee macht Mut: Aus tiefgreifenden Analysen des Ernährungsverhaltens lassen sich Strategien ableiten, mit denen dem epidemischen Zuwachs an ernährungsbedingten Gesundheitsstörungen zu begegnen sein wird.

    Einer derzeit hervorstechenden Einflussgröße auf unsere Kostwahl widmet sich Sylvia Pfaff. Sie stellt das Für und Wider zum Verzehr ökologischer Lebensmittel zusammen und prognostiziert eine Ausweitung des Biomarktes.

    Heutzutage jedenfalls müsste die Familie des Zappelphilipps keinen Hunger leiden: Sollte der Kühlschrank wirklich leer sein, bliebe ihr immer noch der Gang zum Imbissstand an der Ecke.

    Prof. Dr. Hans-Joachim F. Zunft


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