Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(02): 47
DOI: 10.1055/s-0032-1322335
Nachruf
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zum Gedenken – Prof. Dr. med. Gerhard Kittel

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Publication Date:
04 July 2012 (online)

4. März 1925 – 9. November 2011

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"Meine Zeit läuft ab;
ich denke nach, was ich getan
und was ich unterließ;
was mir die Gegner nahmen,
und Freunde gerne gaben"

Ich erinnere mich an gemeinsame Spaziergänge mit Gerhard Kittel. Mitten im Satz stockte häufig das Gespräch. Er lauschte in sich hinein, zog aus der Jackentasche einen kleinen weißen Block, und ließ in rascher Geschwindigkeit den Stift über das Papier gleiten. Oft wurden dann einige Zeilen hörbar, um Rhythmus, Klang und Lautmalerei zu überprüfen.

Gerhard Kittel, einer der bedeutendsten Phoniater Deutschlands, war ein Dichter im Arztkittel. Diese Doppelbegabung, die ihn mit Gottfried Benn oder Alfred Doblin verbindet, mag auch der Grund dafür sein, dass er den Gedanken und sein Medium, die menschliche Stimme, gleichermaßen in den Fokus seines Handelns stellte.

"Meine Zeit läuft ab;
ich frage ernsthaft mich
ob hilfreich ich genügend tat;
die Nöte dieser Zeit zu lindern,
ob ich als Mensch auch menschlich war."

Gerhard Kittel kam 1960 an die HNO-Klinik der Universität Erlangen, wo er auch habilitiert wurde. 1968 gründete er dort die Staatliche Lehranstalt für Logopädie, die er bis zu seinem Ruhestand leitete.

1969 formte er als Initiator die "Union Europäischer Phoniater“ (UEP). 1980 wählten ihn die deutschsprachigen Phoniater zum Präsidenten ihrer Arbeitsgemeinschaft, aus der 1983 die "Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie“ (DGPP) entstand – mit Gerhard Kittel an der Spitze. 1988 wurde er Präsident der "Union Europäischer Phoniater“. 2003 stiftete er die Kittel-Medaille der DGPP, die seither für herausragende wissenschaftliche Arbeiten der Phoniatrie vergeben wird. Gerhard Kittel erhielt viele Ehrungen und Auszeichnungen, er ist Ehrenmitglied in 7 deutschen und europäischen Fachgesellschaften.

"Meine Zeit läuft ab;
noch sind die Sinne wach,
um fest ins Glück zu schaun,
den Wahn zerstörerischer Lust
als Ungeist zu verdammen.“

Der Wissenschaftler Gerhard Kittel hinterlässt mehr als 200 Publikationen, darunter zahlreiche Buch-, Handbuch- und Zeitschriftenbeiträge, sowie eigene Bücher. Er ist Gründungsmitglied der Zeitschrift "Sprache – Stimme – Gehör“, für die er 20 Jahre lang als Mitherausgeber tätig war. Er war Mitglied des Bundesverbandes der Schriftsteller-Ärzte, auf dessen Einladung er vielerorts aus seiner 8-bändigen Lyrikreihe vortrug.

Für Gerhard Kittel war es ein starkes persönliches Anliegen, trotz starrer Grenzen Kontakte mit den phoniatrischen Kollegen in der DDR, in Polen, Ungarn und der damaligen Sowjetunion aufzunehmen und zu intensivieren. Mit zäher Beharrlichkeit gelang es ihm immer wieder, etliche von ihnen zu Studienzwecken an seine Klinik einzuladen, wo sie dann – und das war für ihn selbstverständlich – als Gäste in seinem Haus lebten. Sie genossen die Herzlichkeit und menschliche Wärme, die ihnen von Gerhard Kittel und seiner Frau Hanne entgegengebracht wurde und die einfühlsame Zuwendung für ihre Probleme. Und doch war da immer wieder die Frage "War ich hilfreich und tat ich genügend?“, wie sie auch in seinem 2001 verfassten Gedicht anklingt.

"Meine Zeit läuft ab;
in mir bleibt nur das Hoffen
kein Leid mehr zu erfahren,
um für mein Glück zu danken,
eh meine Augen brechen.“

Gerhard Kittel liebte die fröhliche Geselligkeit und das Tanzen. Nicht etwa gesittet mit klassischen Schrittfolgen. Nein, es war die Zeit des Rock ’n’ Roll, des Boogie und des Swing. Da war er berauscht vom Rhythmus und Tempo, dem kaum eine Partnerin mithalten konnte.

Eine andere Leidenschaft von Gerhard Kittel war das Sammeln von Bildern im Malstil der Münchner Schule des 19. Jahrhunderts. Wenn er die Galerien und Aktionshäuser Münchens durchforstet hatte, konnte er oft glücklich ein Bild seiner eigenen stattlichen Galerie hinzufügen. Besonders begeisterte er sich für Landschaften, Stillleben und Tierdarstellungen jener Zeit.

Seit dem 9. November 2011 trauern wir um Prof. Dr. med. Gerhard Kittel.

Mit ihm haben wir eine große Persönlichkeit verloren, einen bedeutenden Phoniater, der das Fach der Phoniatrie und Pädaudiologie wissenschaftlich und berufspolitisch wesentlich vorangebracht hat. Viele von uns vermissen darüber hinaus den treuen Frend, dem sie immer dankbar sein werden.

Marianne Spiecker-Henke im Namen der Herausgeber und des Verlags

Die zitierten Strophen entstammen dem Gedicht "Zum Lebensende kein Traum“ aus Kittel G. Glück und Träumereien. 1. Aufl. Erlangen: Specht: 2004; 87 – mit freundlicher Genehmigung des Verlags.