Pädiatrie up2date 2012; 07(02): 99
DOI: 10.1055/s-0032-1309415
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie sich unser medizinisches Denken verändert

Franz-Josef Kretz
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Publication Date:
22 June 2012 (online)

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Mein Kollege und Mitherausgeber Prof. Radke hat im Editorial der letzten Ausgabe von Pädiatrie up2date den Wunsch geäußert, dass es „mit einheitlichen und möglichst eindeutigen Positionen der fachlichen Community gelingen kann, einer weiteren „Verrechtlichung“ unserer Arbeit entgegenzuwirken.“

Dies ist ein berechtigter und verständlicher Wunsch und wird sicher gerne von jeder Kollegin und jedem Kollegen unterschrieben. Auf der anderen Seite sind die zunehmende Inanspruchnahme von Politik, hier im Speziellen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) und die rechtlichen Auseinandersetzungen mit seinen Beschlüssen ein deutliches Zeichen dafür, dass eben diese fachliche Community nicht nur das – zugegebenermaßen schwer zu definierende – Kindeswohl im Blick hat, sondern auch das – durch wen auch immer getriggerte – Eigen- oder Gruppeninteresse.

Beim Thema „Verrechtlichung“ der Medizin denkt man sicher im weiteren Sinne nicht primär an die Pädiatrie. Spektakuläre strafrechtliche Ermittlungen, umfangreiche zivilrechtliche Auseinandersetzungen und arbeitsrechtliche Fragestellungen wird man eher mit anderen Fachgebieten in Verbindung bringen. Zu eng ist im Allgemeinen die Kinderarzt/Patienten-Beziehung, besonders bei der Behandlung chronisch kranker Kinder.

Deshalb sind juristische Auseinandersetzungen in der Pädiatrie noch eher eine Seltenheit, zumal auch viele Probleme am Lebensanfang eher der möglicherweise schwierigen Geburt zugeordnet werden als einem Erstversorgungsproblem durch die Neonatologen und operative Komplikationen dem entsprechenden Operateur oder dem Kinderanästhesisten zur Last gelegt werden.

Im meinem Fachgebiet – der Kinderanästhesie – zeigt es sich, dass wir von einer Klagefreudigkeit amerikanischen Ausmaßes noch weit entfernt sind. Hierzulande geht man mit dem Klagerecht noch sehr sorgfältig und zurückhaltend um und zieht dann auch den außergerichtlichen Weg über die Schlichtungsstelle vor. Und wenn man dann den Einzelfall vor Gericht betrachtet, dann haben die Eltern auch überwiegend guten Grund zur Klage.

Im Falle einer Verurteilung kommt es dann häufig in der zivilrechtlichen Auseinandersetzung zu Zahlungen in Millionenhöhe, denn nicht nur Schmerzensgeldzahlungen stehen dann an, sondern möglicherweise auch ein behindertengerechter Umbau des Hauses, ein behindertengerechtes Auto und und und ...

Natürlich interessieren sich dann auch die Krankenkassen für den Fall und fordern im Falle einer Verurteilung alle Aufwendungen für die Behandlung des Kindes nach dem ärztlichen Behandlungsfehler zurück. Auch das kann in die Millionen gehen.

Um solche schwerwiegenden Behandlungsfehler zu verhindern, haben alle Kliniken ihre ärztlichen Mitarbeiter umfangreich geschult, kein invasiver Eingriff wird ohne Aufklärung und Einwilligung durchgeführt, klinikinterne Standards werden festgelegt, critical incidence reporting Systemes> (CIRS) wurden eingeführt, ferner Simulationszentren eingerichtet, in denen das Verhalten in Notfallsituationen geübt werden kann.

Auch wenn dieses Sicherheitsdenken für das kranke Kind nur von Vorteil sein kann, so hat uns das rechtlich absichernde Denken in der Medizin schon weiter ver„ändert, ohne dass es uns täglich bewusst wird.

Wie häufig stellen wir uns nicht nur die Frage, was ist gut für die Gesundung des Kindes, sondern auch, was würde ein Gutachter im Schadensfall noch für differentialdiagnostische Überlegungen und Untersuchungen für erforderlich gehalten haben. Insofern hat die „Verrechtlichung“ in der Medizin auch im Bereich der Pädiatrie weit größere Ausmaße angenommen als es uns bewusst ist.

Prof. Dr. med. Franz-Josef Kretz
Mitherausgeber Pädiatrie up2date