Deutsche Heilpraktiker-Zeitschrift 2012; 7(1): 58-60
DOI: 10.1055/s-0032-1306455
magazin
© Sonntag Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Im Gespräch – Zeit ist eine Zutat


Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
20 March 2012 (online)

 

Summary

Christina Casagrande feiert als Heilpraktikerin dieses Jahr ihr 25-jähriges Praxisjubiläum, insgesamt arbeitet sie schon über 40 Jahre in mediznischen Berufen. Diese Jahre haben sie viel über das Heil-Sein und das Ganz-Sein gelehrt, aber auch ihr Verständnis für Gesundheit und Heilung, und nicht zuletzt für die Vergänglichkei,t verändert. Als sie mit ihrer Arbeit begann, musste sie aber zunächst erst einmal für sich klären, welche Rolle ihr dabei zukommt. Davon und von der „Lücke dazwischen“ erzählt sie im Interview.


#

Christina Casagrande feiert als Heilpraktikerin dieses Jahr ihr 25-jähriges Praxisjubiläum, insgesamt arbeitet sie schon über 40 Jahre in mediznischen Berufen. Diese Jahre haben sie viel über das Heil-Sein und das Ganz-Sein gelehrt, aber auch ihr Verständnis für Gesundheit und Heilung und nicht zuletzt für die Vergänglichkeit verändert. Als sie mit ihrer Arbeit begann, musste sie aber zunächst erst einmal für sich klären, welche Rolle ihr dabei zukommt. Davon und von der „Lücke dazwischen“ erzählt sie im Interview.

Frau Casagrande, Sie schreiben auf Ihrer Homepage, dass immer nur ein Heilberuf für Sie infrage kam. Was bedeutet Heilen für Sie?

Heilung ist der Weg, der den Menschen von der Krankheit zur Gesundheit führt. Was die Sache nicht ganz so einfach macht ist, dass jeder Mensch unter Krankheit und Gesundheit etwas anderes versteht. Zudem haben alle Menschen eine persönliche Vorstellung davon, was sie zu tun bereit sind, um von der Krankheit zur Gesundheit zu gelangen.

Heilen bedeutet für mich also, den Menschen, die zu mir kommen, dabei zu helfen, einen Weg in das Gleichgewicht zu finden, das sie als Gesundheit wahrnehmen. Das ist mir ein Bedürfnis, von dem ich aber nicht sagen kann, wo es herkommt. Aber ich lebe danach.

Wie definieren Sie für sich persönlich Gesundheit bzw. Heil-Sein?

Heil-Sein bedeutet für mich, neben dem Gefühl, auf allen Ebenen in Balance zu sein, in der Lage zu sein, voll und ganz für alles, was ich bin, und für alles, was ich tue, die Verantwortung zu übernehmen. Das setzt persönliches Wachstum und Reife voraus.

Und Gesundheit.

Gesundheit ist ein subjektiver Zustand, ein persönliches Empfinden. Wenn Körper und Seele im Einklang sind, wenn es für einen Menschen dadurch möglich wird, mit sich und der Welt in Frieden zu sein, das bedeutet für mich Gesundheit. Gesundheit als reines Intaktsein des Körpers, als ein bloßes Funktionieren zu sehen, greift meiner Meinung nach zu kurz. Viele Menschen mit chronischen Leiden wären sonst krank. Würde man sie aber fragen, würden sie antworten „Ich fühle mich gesund“, weil das Empfinden stimmig ist.

Sie sind seit 1985 Heilpraktikerin, davor waren Sie 18 Jahre als Arzthelferin tätig, dieses Jahr haben Sie Ihr 25jähriges Praxisjubiläum. Was haben diese Berufsjahre Sie über das Heilen gelehrt?

Dass wahre Heilung auf allen Ebenen stattfindet. Daher betrachte ich auch immer alle Ebenen eines Menschen. Leicht überprüfbar ist, ob Heilung auf der körperlichen Ebene gelingt. Heilung auf der seelischen und geistigen (spirituellen) Ebene ist aber genauso wichtig. Wenn die Heilung auf allen Ebenen stattfinden darf, ist es eine Gnade. Was ich dabei gelernt und verinnerlicht habe ist, dass große Veränderungen nur in kleinen Schritten geschehen - ohne Geduld geht es nicht.

Hat sich die Bedeutung des Begriffs „Heilen“ für Sie rückblickend gewandelt? Inwiefern?

Ja, dieser Begriff hat sich für mich über die Jahre gewandelt. Am Anfang meiner Tätigkeit war ich fest davon überzeugt, dass ich möglichst viel für meine Patienten tun muss, alles daransetzen muss, dass sie gesund werden. Ich dachte, dass ich allein für ihre Heilung verantwortlich bin. Ich hatte noch nicht das „richtige Ohr“ entwickelt, noch nicht begriffen, dass Heilung wirklich gewollt sein muss vom Patienten.

Heute höre ich während des Therapiegesprächs genau hin, beobachte mein Gegenüber aufmerksam und fühle mich in den leidenden Menschen ein; schaue hin, welche Formen der Hilfe sie oder er jetzt in diesem Augenblick benötigt - und was sie oder er vor allem auch annehmen kann.

Zoom Image
Abb. 1 Christina Casagrande: „Heilen ist mir ein Bedürfniss, von dem ich aber nicht sagen kann, wo es herkommt.“
Foto: © privat

Was bedeutet „annehmen“ in diesem Zusammenhang? Können Sie uns ein Beispiel geben?

Mich suchen in meiner Praxis viele alleinerziehende Mütter auf, die erschöpft sind. Sie müssen Geld verdienen, den Haushalt versorgen, die Kinder oft ohne Hilfe erziehen, ihnen auch den Vater ersetzen. Diesen Frauen helfe ich, indem ich mit ihnen schaue, wo sich Stressspitzen nehmen lassen. Natürlich wäre für sie ein anderes Lebenskonzept notwendig, damit die Erschöpfung weicht, und das müsste dann auch sofort in die Tat umgesetzt werden. Das ist aber unrealistisch, also nicht annehmbar. Stattdessen schaue ich mit den Frauen, was sich realistisch in ihrer aktuellen Situation verändern lässt. Und wenn es gelingt, schauen wir als nächstes, was sich noch verändern lässt. Stück für Stück schauen wir, was für die Patientin machbar, annehmbar ist. Zeit ist eine Zutat in der Heilung, das musste ich aber auch erst lernen.

Vielen Heilenden gelingt es nicht, sich abzugrenzen. Entweder gehen sie zu sehr auf Distanz und büßen so ihre Empathie ein, oder sie identifizieren sich zu sehr mit ihren Patienten und verlieren Lebenskraft. Wie ich es sehe, trifft beides bei Ihnen definitiv nicht zu. Was ist Ihr Geheimnis?

Dieses „Geheimnis“ teile ich gerne mit allen Kolleginnen und Kollegen. Es war für mich selbst am Anfang meiner Praxistätigkeit die größte Hürde, bei meiner Arbeit in Balance zu bleiben. Ich musste zweimal meine heilpraktische Tätigkeit vorübergehend aufgeben, da ich alle Krankheitssymptome meiner Patienten entwickelte. Den für mich persönlich wichtigsten Hinweis erhielt ich von einer Freundin, die als Shiatsu-Therapeutin mitten in New York lebte und z. T. 10-stündige Praxistage meisterte. Auf meine Frage, wie sie es anstellen könne, Patienten zu behandeln, ohne vollkommen fertig zu sein, sagte sie mir Folgendes:

Am Ende eines Praxistags, wenn du nach Hause kommst, unternimm gar nichts, bevor du nicht unter der Dusche warst. Du brauchst dich nicht abzuseifen, du brauchst nur warmes, klares Wasser über deinen Körper laufen zu lassen. Danke dabei dem Wasser, dass es alles von dir nimmt, was nicht deine persönliche Geschichte ist. Und dann bitte die Erde, zu der das Wasser zurückkehrt, aus all dem, was es von dir mitgenommen hat, Kompost zu machen, Kompost für Samen, aus denen Gutes entsteht. Und wasche zwischen zwei Patienten nicht nur deine Hände, sondern lass' nach der Hygienereinigung Wasser über den ganzen Unterarm laufen und streife dieses bewusst und kraftvoll ab.

Das war für mich der Schlüssel, zusammen mit dem Bewusstsein, dass mir keiner meiner Patienten „Kraft abziehen“ kann -nicht wirklich, denn in diesem Universum ist genügend Kraft für alle da. Darauf kann auch der Therapeut vertrauen.

Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch über die komplementäre Sterbebegleitung mit herausgegeben (S. 70). Wie lassen sich Sterben und Heilen im Wertekatalog eines Heilpraktikers miteinander vereinbaren?

Sterben und Heilen schließen sich nicht aus, wenn man das Verständnis hat, dass Heilung „Ganz-Sein“ bedeutet. Es gibt in jedem einzelnen Leben den Punkt, an dem „Ganz-Sein“ - im Sinne von Vollendung, Harmonie auf der körperlichen, geistigen und seelischen Ebene - Sterben bedeutet.

Sterben und Tod - wie könnte und sollte Ihrer Meinung nach die Gesellschaft mit diesen Themen umgehen? Welche konkreten Wünsche hätten Sie?

Mein Wunsch ist die Ent-Tabuisierung des Sterbens. Da Sterben zu jedem Leben gehört, finde ich es beschämend, wenn Verstorbene schnell aus Krankenzimmern verschwinden müssen und in Abstellkammern versteckt werden. Ich habe das selbst in der eigenen Familie erlebt. Der Weg der Ent-Tabuisierung des Sterbens wird bereits von vielen Menschen beschritten. Wir haben aber noch nicht das Ziel erreicht, dem Sterben wieder den würdevollen Platz in unser aller Leben einzuräumen, der ihm zusteht.

Wie können Heilpraktiker dazu beitragen?

Meiner Meinung nach v. a. durch die Betreuung der Angehörigen, sei es in der Phase, wenn ein Familienmitglied, Freund oder Kollege sich im Sterbeprozess befindet; sei es in der Zeit der Trauer nach dem Tod.

Wichtig ist, dass wir uns den Fragen, den Ängsten, den Unsicherheiten unserer Patienten jeder Zeit stellen können, dass wir empathisch agieren. Das bedeutet manchmal auch, gemeinsam zu weinen.

Zoom Image
Abb. 2 In der Sterbebegleitung ist Empathie wichtig. Und manchmal auch einfach, gemeinsam dem Sterbenden oder seinen Angehörigen zu weinen.
Foto: ©ccvisison/Ramesh Amruth

Welchen Rat geben Sie Kollegen, die die Sterbebegleitung in ihre Praxisarbeit integrieren möchten?

Sich wirklich und v. a. auf praktischer Ebene mit der eigenen Angst vor dem Sterben auseinanderzusetzen. Hier muss sich jede Kollegin und jeder Kollege folgende Fragen stellen und entsprechend handeln: Habe ich selbst eine Patientenverfügung und eine Betreuungsvollmacht erstellt? Habe ich ein Testament? Habe ich die praktischen Dinge geregelt, z. B wie ich beerdigt werden möchte, wo meine Angehörigen alle wichtigen Daten finden (Bankverbindungen, Versicherungen, etc.), was mit meiner Praxis geschieht, wenn ich plötzlich sterbe, und vieles mehr. Erst, wenn ich diese Dinge geregelt und den dazu notwendigen persönlichen Prozess durchlaufen habe, kann ich Sterbende und ihre Angehörigen wirklich begleiten.

Es gibt auch professionelle Angebote, z. B. eine Ausbildung in Sterbebegleitung. Sehr hilfreich ist zudem der Kontakt zu Palliativkrankenschwestern und/oder Menschen, die in Hospizen arbeiten. Zu Menschen also, die häufig am Sterbebett stehen. Wenn man selbst wenig oder keine praktische Erfahrung mit Sterbenden gemacht hat, ist es wichtig, aus erster Hand Informationen zu erhalten, wie es ist, wenn ein Mensch stirbt. Dabei erfahren wir auch, dass jeder Sterbeprozess, genau wie jede Geburt, einmalig ist.

Vergänglichkeit bzw. der Übergang von etwas Altem hin zu etwas Neuem: das sind Themen der Wechselzeit, über die Sie ein Buch geschrieben haben, aber auch der Sterbebegleitung. Beide Themen finden sich auch als Prinzip in der spagyrischen Herstellungsmethode wieder, die sehr bedeutend für Sie ist. Welche Bedeutung haben Vergänglichkeit bzw. der Übergang von etwas Altem hin zu etwas Neuem für Sie, was verbindet Sie so stark mit diesen Themen?

„Die Lücke dazwischen“ - ein tibetischer Lama hat bei einem Vortrag darüber gesprochen. Es ist der Raum, in dem alles möglich zu sein scheint; er interessiert und fasziniert mich seither. Wir finden diese Lücke überall in unserem Leben. Es ist dieser kleine Moment zwischen Ein- und Ausatmen, der kurze Übergang zwischen Wachen und Schlafen, dieses flüchtige Gefühl absoluter Bewegungslosigkeit zwischen zwei Vorgängen. Überall finden wir diese magische Lücke, diese Brücke zwischen Hier und Dort, dieses winzige Dritte im Ablauf rhythmischen Geschehens. Und ich bin diesem Rhythmus, diesem dreifachen, noch immer auf der Spur. Sei es im bewussten Durchleben von Übergangszeiten, wie die Wechseljahre sie darstellen. Sei es bei der rhythmischen Herstellung von Heilmitteln in der Spagyrik. Sei es in meiner Auseinandersetzung mit dem Leben, dem Sterbeprozess und dem Tod.

Die Bewusstheit, mit der ich diesen Übergang, diese Lücke, lebe, erlebe und durchlebe, beeinflusst mein Morgen, das Neue, das Unbekannte. Kann es etwas Faszinierenderes geben?

Sie bieten nicht nur für Patienten Beratung an, sondern auch Fachberatung für Therapeuten. Mit welchen Fragen und Problemen wenden sich Heilpraktiker und Ärzte an Sie?

Die Fachberatung bezieht sich auf die Anwendung der Spagyrik nach Alexander von Bernus. Es sind z. B. Fragen zur Behandlung des unerfüllten Kinderwunschs, von Schwangerschaftsbeschwerden, Fragen zur Säuglingsbehandlung und zur Behandlung von Kleinkindern. Es sind Fragen zu Patienten in allen Altersgruppen, mit ihren jeweils typischen und häufigen Erkrankungen. Und es sind eben auch Fragen zur Begleitung Sterbender. Die lange Praxistätigkeit bringt es mit sich, dass ich die meisten Fälle in ähnlicher Form auch in der eigenen Praxis erlebt habe. Gelegentlich entwickelt sich ein jahrelanger Austausch mit Therapeuten, von dem ich auch profitiere. Das kommt dann wiederum anderen Therapeuten und Patienten zugute. Noch so ein rhythmischer Prozess.

Nehmen wir einmal an, Sie könnten unserer Gesellschaft ein Heilmittel verordnen: Welches wäre es und wogegen würden Sie es verordnen?

Es gibt ein solches Heilmittel. Es hilft nicht gegen etwas. Es heilt alles, was uns Menschen betrifft. Es ist wichtig. Es ist mächtig. Es klingt abgedroschen. Es ist die Liebe.

Liebe Frau Casagrande, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Dieser Artikel ist online zu finden unter:

http://dx.doi.org//10.1055/s-0032-1306455


#
Zoom Image
Abb. 1 Christina Casagrande: „Heilen ist mir ein Bedürfniss, von dem ich aber nicht sagen kann, wo es herkommt.“
Foto: © privat
Zoom Image
Abb. 2 In der Sterbebegleitung ist Empathie wichtig. Und manchmal auch einfach, gemeinsam dem Sterbenden oder seinen Angehörigen zu weinen.
Foto: ©ccvisison/Ramesh Amruth