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DOI: 10.1055/s-0032-1305141
In dem Moment, in dem jemand das macht, was wir therapieren wollen, ist er nicht mehr da…
Ein Nachtrag zum Suizid-HeftPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
04. September 2012 (online)

PiD: Herr Felber, Sie haben ja viel Erfahrung mit dem Thema Suizid und Suizidalität. Wie sind Sie biografisch dazu gekommen, sich mit dem Thema zu beschäftigen?
Werner Felber: Für philosophische, speziell ethische Fragen habe ich mich von jeher interessiert. So habe ich in Berlin neben dem Medizinstudium ein partielles Theologiestudium absolviert. Suizidalität ist ja nicht eine eng medizinische, auch nicht rein psychotherapeutische, sondern eine sehr umfassende Thematik, bei der juristische, historische, philosophische Fragen hineinspielen, zu der ich gewissermaßen innerlich bereitstand. Den Anstoß hat aber eigentlich, und dafür bin ich nachträglich dankbar, mein damaliger Chef gegeben. Es gab in Dresden schon seit 1967 eine spezielle „Betreuungsstelle für Suizidgefährdete“, sog. Suizidambulanz. Diese Ambulanz hatte Prof. Ehrig Lange gegründet, nachdem er in Wien die ersten diesbezüglichen Aktivitäten kennenlernen konnte. Daraus ist dann die Dresdner Tradition entstanden, die eine Zeit lang sehr bekannt war. Wir sind, auch gemessen an den alten Bundesländern, recht früh mit dem Thema befasst gewesen, eher noch als DIE ARCHE e. V., die 1969 in München gegründet worden ist.
1975 bin ich schließlich beauftragt worden, diese Ambulanz fortzuführen, als der Vorgänger schwer erkrankte. Und das habe ich dann zwölf Jahre praktiziert. Es war nicht einfach eine poliklinische Stelle, sondern eine thematisch ganz spezifisch zugeschnittene Ambulanz mit insgesamt mehreren 1000 Suizidpatienten. Es machte den Sinn der dortigen Tätigkeit aus, dass alle Konsile wegen Suizidversuchs in der Einrichtung, einem Universitätsklinikum mit 3000 Patienten, von einer Person, von mir als Psychiater, gesehen wurden. Anschließend habe ich die wöchentlich ca. fünf neuen Patienten in die ambulante Weiterbetreuung selbst übernommen, was den großen Vorteil der personellen Konstanz hatte, indem die Patienten vom Erstgespräch mit einem Psychiater – also parallel zum Somatiker, der entgiftet oder chirurgisch behandelt – in dessen Weiterbetreuung verblieben. Der große Vorteil war, dass wir mehr als 90 % der Suizidpatienten unmittelbar ambulant weiterbehandeln konnten. So haben wir nie das Problem einer stärkeren Psychiatrisierung von Suizidpatienten gehabt, indem alle auf eine Station kommen, die Psychiatrie von innen kennenlernen und emotional negative Prozesse erleben, die hinlänglich bekannt sind. Ca. 10 % der Patienten allerdings litten an einer psychiatrischen Erkrankung i. e. S., einer Psychose, einer psychosenahen schweren Depression o. Ä., was auch unter anderen Bedingungen zu einer Aufnahme geführt hätte.
Das ist so mein Werdegang, ich habe 1975 damit angefangen und bis 1987 diese Aufgabe übernommen. Unter Langes Nachfolger, Herrn Prof. Bach, bin ich dann als Oberarzt in die Klinik gewechselt.
Das führt zu einer hohen Intensität der Beschäftigung mit dem Thema. Dazu gehört auch ein etwas dickeres Fell, weil man praktisch nur mit Suizidpatienten zu tun hat. Allerdings ist es wie bei anderen Subspezialisierungen auch: einerseits Patienten mit einem – in dem Falle belastenden – spezifischen Merkmal, eben Suizidalität, andererseits Menschen mit „normalen“ Schwächen und Stärken. Sie sind beim Kennenlernen schwer suizidal, nach entsprechendem therapeutischen Prozess dann nicht mehr (aktuell) suizidal, woraus jedoch sehr enge Beziehungen gewachsen sind. Das kann als weiteres therapeutisches Element förderlich sein. Die meisten der Patienten wurden nach dem Konzept der Krisenintervention, also einer zeitlich begrenzten, etwa zwölf Termine umfassenden Psychotherapie behandelt. Bei Beendigung erging regelmäßig der Auftrag, in einer erneut auftretenden Krise wiederzukommen, sie konnten also jederzeit erneut vorsprechen, was auch immer wieder wahrgenommen wurde, wenn auch nicht regelhaft. Etwa 10 % erhielten das Angebot zur niederfrequenten Langzeitbetreuung.
Wenn Sie sagen, Sie haben damals nur einen kleinen Teil von Patienten hospitalisiert, Sie haben eher ambulant weiterbehandelt, würden Sie denken, dass das heute auch ein Konzept wäre, was man so weiterführen sollte? Denn insbesondere psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern mit umfangreicher Konsiltätigkeit bei suizidalen Patienten vorzugsweise auf der Intensivstation sind damit konfrontiert, dass nicht unbedingt jeder dieser Patienten wünscht, in einer psychiatrischen Klinik weiterbehandelt zu werden …
Da steht man zwar in der Gefahr, als Krämer seinen eigenen Laden zu loben. Trotzdem: Ja, auf jeden Fall. Denn das ist, denke ich, ein Konzept, welches für sich schon gewissermaßen Therapie darstellt: die personelle Konstanz, die wir angeboten haben, als Voraussetzung für hohe ambulante Verantwortung.
Dazu gibt es auch Befunde, die die Münchner Klinik (rechts der Isar) in enger Zusammenarbeit mit der ARCHE e. V. erarbeitet hat: dass sie nämlich 40–60 % der Patienten, die sie kurzzeitig auf der psychiatrischen Station und / oder ein bis zwei Mal ambulant gesehen hatten, einfach verlieren, wenn sie diese zur weiteren Psychotherapie in DIE ARCHE überwiesen haben. Letztere hatte sich seit 1969 sehr speziell und mit hohem personellen Aufwand der „Selbstmordverhütung“ – so hieß das damals – verschrieben. Bei uns war es so, dass wir angerufen haben, wenn jemand bei der ersten Wiedervorstellung nicht gekommen ist. Wir haben uns dann ein wenig eingemischt. Das hatten wir von vornherein so vereinbart, indem wir im Erstgespräch gesagt haben: „Können Sie sich vorstellen, fortführende Gespräche zu führen?“, wir haben also eine Brücke gebaut; und „wir würden uns erlauben, wenn Sie einverstanden sind, dass wir uns auch an Sie wenden, wenn wir von Ihnen nichts hören, es kann ja mal etwas dazwischenkommen“. Die Fortführung des Gesprächsangebots ist die halbe Therapie, weil darauf alle Behandlung von Suizidpatienten hin orientiert (wenn man mal absieht von speziellen Medikamenten).
Was die Beziehung betrifft, ist das oberste Prinzip: Es muss eine konstante Beziehung sein, sie muss stabil sein, der Therapeut darf auch aktiv werden; erst danach gilt es, weitere günstige oder ungünstige Faktoren zu berücksichtigen, was dann Fachwissen ist. Die Suizidpatienten, die durch Wegüberweisung verloren gehen, sind höchstwahrscheinlich nicht solche, die am wenigsten gefährdet sind, sondern eher diejenigen, die große Beziehungsprobleme haben und deshalb besonders gefährdet sind. Sie haben große Scheu davor, sich mit ihren Problemen noch einmal an jemanden Neuen, Unbekannten zu wenden.
Was haben Sie von dieser zwölfjährigen Erfahrung in Ihre oberärztliche Tätigkeit in die Psychiatrie mitgenommen?
Suizidalität spielt in unserem Fachgebiet immer eine Rolle, übrigens auch in anderen Fächern; aber als Psychiater haben wir verständlicherweise eine besondere Sicht darauf. Ich glaube, man muss psychiatrische Patienten in einer Klinik bis zu 50 % als mehr oder weniger suizidgefährdet einschätzen. Und der Kliniksuizid als „Krönung“, Spitze und Katastrophe schwebt immer als Gefahr über der stationären Behandlung. Deshalb war die erworbene Kompetenz hinsichtlich Suizidalität für die oberärztliche Führung jüngerer Mitarbeiter zu beiderseitigem Nutzen. Auch die Einarbeitung neuer Mitarbeiter in der Ambulanz für Suizidgefährdete konnte in Form von Supervision übernommen werden.
Denken Sie, Sie haben durch Ihre spezifische Kenntnis letztlich in der Klinik weniger Patienten mit „erfolgreichen“ Suizidversuchen verloren, als Sie das ohne diese Kenntnisse hätten erleben müssen?
Das kann man leider nicht sehr genau sagen. Es war ja diese Suizidambulanz-Stelle auch gegründet worden, um Suizidforschung zu betreiben, das hatte stets einen großen Stellenwert. Wir verwendeten standardisierte Erfassungsbögen, die statistisch ausgewertet wurden und zu zahlreichen Veröffentlichungen und Graduierungsarbeiten führten (12 Diplomarbeiten, 23 Dissertationen, 3 Habilitationen, 9 Monografien, 120 Zeitschriftenartikel und Buchbeiträge). Auch ich habe zum Thema „Typologie des Parasuizids“ habilitiert. Was in der Zeit (1975–1987) nicht einfach war: Man musste Themen wählen, bei denen epidemiologische Daten keine Rolle spielten, denn diese standen zu DDR-Zeiten nicht zur Verfügung. Nach der Wende haben wir eine landesweite Studie zum stationären Suizid in Sachsen 1985–1997 gestartet, die vom BMBF im Rahmen des Förderschwerpunktes „Kompetenznetze in der Medizin“ finanziell übernommen wurde. Dort zeigte sich, dass die Suizidrate in der Universitätsklinik Dresden vor der Wende im unteren Drittel aller sächsischen Kliniken und um mehr als ein Drittel unter der am ehesten vergleichbaren Leipziger Universitätsklinik lag.
Also „Suizid“ gab es in der DDR nicht als Thema?
Das gab es, wurde aber tabuisiert in dem Sinne, dass keine Suizidzahlen erscheinen durften, weil diese bekanntermaßen zu DDR-Zeiten sehr hoch waren. Und das wurde als gesellschaftliche Wunde angesehen. Ob das richtig ist, muss man ernsthaft bezweifeln. Ich habe in meiner Habilitationsarbeit über 2000 Patienten mit unterschiedlicher Dichte der Informationen ausgewertet; diese 2000 sind diejenigen, die ich selber gesehen habe und von denen ein eigener Anfangsbefund vorlag. Mehr als 700 Patienten haben wir dann katamnestisch nachuntersucht, die Daten wurden in etlichen Promotionen bearbeitet. Wir mussten nach einem Jahr 2,2 %, nach sieben Jahren 7,3 % vollendete Suizide feststellen. Nun interpretieren Sie das mal …
Das ist in der Tat schwierig …
Es ist ja eigentlich eine Hochrisiko-Gruppe. Das zeichnete von vornherein immer diese Ambulanz aus, dass wir völlig auswahlfrei alle Patienten dort aufgenommen haben. Bei anderen Untersuchungen handelt es sich meist um Selektionen, und da geht die methodische Schwierigkeit los, wenn man dann eine Katamnese erhebt. Ich führe gern die Extreme an: Es gab eine Arbeit eines Kollegen über alte Männer, die alle psychotisch und stationär behandelt waren, die einen „schweren“ Suizidversuch gemacht hatten; nach einem Jahr hatten sich 69 % suizidiert. Und es gibt eine japanische Untersuchung zehn Jahre nach Suizidversuch, da hatten sich 0,2 % suizidiert; das waren alles junge Frauen, die sämtlich auf einer internistischen Aufnahmestation nach Tablettenintoxikation gesehen worden waren. Darin sehen Sie die großen Unterschiede, Unerfahrene verlieren dabei den Überblick. Es wird schnell über Dinge geredet, die ganz stark selektioniert sind.
Und die man eigentlich nicht vergleichen kann?
Die man nicht vergleichen kann. Das ist eigentlich ein methodisches Fiasko. Und das ist das Schwierige im Umgang mit Suizidalität, diese Vielseitigkeit. Wir haben praktisch alle Suizidversuche behandelt, die im Universitätsklinikum aufgenommen worden sind, das war sozusagen das Eingangskriterium. Das kann man kritisch sehen, ist auch kritisiert worden („Muss ich erst einen Suizidversuch machen, um bei ihnen behandelt zu werden…?“), aber irgendwo muss eine Aufgabe begrenzt werden. Etwa 70 % wurden von Internisten vorgestellt, das sind hauptsächlich Intoxikationen; darunter gibt es aber auch schwere Suizidversuche. Man kann nicht sagen, dass das alles bloß sog. leichte Suizidversuche sind, das weiß jeder Kenner. Aber Chirurgen haben natürlich schon im Durchschnitt schwerere Verläufe, schwerere Suizidalität, wenn man vom „wrist-cutting“, also dem horizontalen Handgelenkschnitt, einmal absieht. Dieser Handgelenkschnitt ist eine Sache für sich. Diese Patienten wurden in der Regel nicht stationär in der Chirurgie behandelt. Ja und dann die Kinderklinik, das war immer ein schwieriges Thema. In Dresden gab es eine Zeit lang einen Mitarbeiter, der diese Kinder und Jugendlichen angesehen und behandelt hat. Wir haben uns jedenfalls auf Erwachsene konzentriert. Außerdem gibt’s ein paar Kliniken, die z. B. Patienten mit Verbrennungen (Hautklinik) oder mit Wirbelsäulenverletzungen nach Sturz (Orthopädie) versorgt haben. Die weitaus meisten Patienten jedoch wurden uns von Internisten und Chirurgen vorgestellt…
Hat sich nach der politischen Wende irgendwas verändert mit dem Thema hier im Haus? Und für Sie als Kollege, der lange mit dem Thema zu tun hatte?
Es hat sich allgemein natürlich sehr vieles verändert. Um aber konkret und direkt zu antworten: Hier im Haus hatte sich vorerst keine wesentliche praktische Änderung ergeben. Die Ambulanz wurde weitergeführt, was Prof. Bach in dem Sinne zu danken war, dass er die Arbeit geduldet und dann auch vertreten hat. Und das war für die Klinik auch ein wissenschaftlicher Bereich, der viel Output einbrachte. Erst mit dem neuen Chef, Prof. Bauer seit 2008, ergaben sich Änderungen in dem Sinne, dass jetzt affektive Störungen im Forschungsfokus stehen, wobei natürlich auch suizidale Patienten gesehen werden, aber vorzugsweise solche mit bipolaren Störungen wissenschaftlich bearbeitet werden. Das ursprüngliche Konzept ist dabei nicht mehr zu halten, man hat jetzt eine Selektion durch ein „Fremdmerkmal“, die Schwerpunkte haben sich verschoben.
Sie haben durch diese langen Jahre Ihrer Tätigkeit das Phänomen wahrscheinlich in einer großen Bandbreite kennengelernt. Haben Sie für sich noch unbeantwortete Fragen?
Tausende. Die Hauptfrage ist, ob unsere Therapie eigentlich wirksam ist? Oder die Frage: „Was müsste man noch tun, um besser Suizide zu verhüten?“ Auch weil, trotz vieler Bemühungen, innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) und in Interventions- oder Kriseneinrichtungen dies immer wieder partiell vernachlässigt wird: Wer sich mit Patienten beschäftigt, die Suizidgedanken hegen, die mit Suizid drohen, die einen Suizid ankündigen oder einen Suizidversuch durchgeführt haben, bewegt sich wahrscheinlich weit außerhalb der wirklichen Kerngruppe – die durch Suizid Verstorbenen. Heutzutage haben wir immer noch eine große Zahl von Menschen vorher nie gesehen, die sich letztlich suizidieren. Diese sind nie in Behandlung gewesen, sie kennt kein Psychiater, kein Psychologe… Gut, ein Hausarzt vielleicht, sie sind aber mit irgendanderen, teilweise vorgetäuschten Beschwerden irgendwann bei ihm gewesen.
Aber auch der Hausarzt kennt diese Patienten nicht mit Suizidalität?
Nein. Rund 70 % sind es heute, die Suizid begehen, ohne dass irgendetwas vorher bekannt geworden ist. Die übrigen 30 % sind vor allem diejenigen, die schon mal einen Suizidversuch begangen haben. Britische Kollegen haben in den 70er-Jahren eine Typologie des Suizids entworfen: Sie rechnen Menschen zum sogenannten „chaotischen Typus“, bei denen Alkoholismus vorher bekannt war, die mehrfach über Suizidalität gesprochen haben, Versuche gemacht haben, ambivalente Lebenshaltungen hatten, sozial eher beeinträchtigte Menschen. Und die „harte Gruppe“ sind diejenigen, die es aus dem Nichts heraus tun, die erreichen wir vorher gar nicht. Das ist eben das Vertrackte am Suizid, wenn man das mit anderen Krankheiten oder Störungen vergleicht: In dem Moment, in dem jemand das macht, was wir therapieren wollen, ist er nicht mehr da. Das ist eine offene Frage, die ist geblieben.
Glauben Sie, dass unsere Gesellschaft heute offen genug damit umgeht?
Ich denke, es hat sich sicher in den letzten 30 Jahren ein Prozess der Enttabuisierung vollzogen, was allerdings nicht genügend ist – weil es wahrscheinlich so ist, dass sich die Tabuisierung von selbst wieder einstellt, wenn man das Brechen der Tabus nicht immer von neuem betreibt. Es gibt nicht nur eine gesellschaftlich verordnete Tabuisierung, sondern auch eine persönliche „natürliche“ Scheu und Scham davor. Von daher ist das ein laufender Prozess.
Also Aufklärung darüber, dass Schuldgefühle normal sind?
Zum Beispiel, ja. Auf der Herbsttagung der DGS wurde gerade darüber diskutiert, dass der Rückgang der Suizidalität u. a. durch die Enttabuisierung der Gesellschaft zustande gekommen ist. Die Zahlen haben sich seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre halbiert. Der Rückgang der Suizide ist schon bedeutend.
Jetzt gibt es ja möglicherweise auch Leute, die sagen, naja, wenn wir uns jetzt die Hochrisikogruppen angucken, ich sag jetzt mal Ältere, Vereinsamte: Wird es sich in den nächsten Jahren wieder verändern? Denken Sie, wir werden Schweizer Diskussionen erwarten müssen?
Eine konkrete Prognose traue ich mir nicht zu. Die Suizidzahlen waren ja viele Jahre rückläufig, seit 2008 gehen sie jetzt wieder hoch, geringe Anstiege, die nicht überinterpretiert werden müssen. Dass dabei alte Menschen eine große Rolle spielen, ist in Deutschland ein lange bekannter statistischer Befund, wir haben das sog. ungarische Muster, d. h. einen exponentiellen Anstieg der Suizidhäufigkeit im Alter. Eine Schweizer Diskussion, bei der es um den ärztlich assistierten Suizid geht, wird es in Deutschland – abgesehen von Einzelaktionen mit einem falsch verstandenen Freiheitsbegriff im Zusammenhang mit Patientenautonomie – nicht geben. Die Beteiligung von Ärzten an Patiententötungen wird hier hoffentlich nie ein zweites Mal Wirklichkeit, wiewohl es ein kompliziertes juristisches Feld ist, in dem Wachsamkeit geboten erscheint.
Fotografin: Maria Borcsa
Wie würden Sie sich eine Berichterstattung über Suizidversuche bzw. Suizide von Personen wünschen, die im öffentlichen Rampenlicht stehen?
Angelehnt an die von der DGS kommunizierten Empfehlungen für Medien sind Berichterstattungen über derartige Suizide gut möglich, vielleicht sogar notwendig: Sie sollten keine sehr konkreten suizidalen Handlungsdetails enthalten, es wäre absurd, den Suizid als solchen zu heroisieren, auf den meist vorliegenden Hintergrund eines krankhaften psychischen Geschehens sollte hingewiesen werden und es sollte auf Hilfsangebote hingewiesen werden, was ja meistens nicht schwerfällt. Dieser Medienguide hat Früchte getragen, Nachfolgesuizide sind selten geworden. Es ist jedoch ein mühsames Geschäft, weil bei den Medien regelmäßig nachgelegt werden muss, damit ein ausgehandelter Konsens nicht wieder gebrochen wird. Mit reißerischen Prominenten-Suiziden lassen sich leicht Zeitungsauflagen steigern. Letztmalig geschah dies beim Suizidtod von Robert Enke, dem deutschen Nationaltorwart, bei dem mehrere 100 Eisenbahn-Nachfolgesuizide sehr wahrscheinlich sind.
Ganz anders verhält es sich mit dem öffentlichen Rampenlicht bei Suizidversuchen. Hier handelt es sich um (lebende) Patienten, die durch Pressekampanien schwer beschädigt werden können, deren persönliche Sphäre zu schützen ist, deren behandelnde Ärzte der Schweigepflicht unterliegen.
Was ist Ihnen in letzter Zeit zum Thema besonders aufgefallen?
Was ich beobachte, ist ein nachlassendes Interesse an dieser Thematik, wenn man es mit den 1970er-Jahren vergleicht. Damals gab es heiße Gespräche über den Suizid, sind – zumindest in den Alt-Bundesländern – allerorts Kriseninterventionseinrichtungen entstanden, es war eine richtige Aufbruchstimmung. Das hat nachgelassen, vielleicht als Folge der Professionalisierung und der zunehmenden Enttabuisierung, wodurch das besondere Interesse verloren gegangen ist. Es gibt jetzt auch andeutungsweise Nachwuchsprobleme.
Ja, vielleicht haben sich diese Menschen auch zusammengefunden mit dem Ziel der Enttabuisierung, und wenn dieses Ziel in gewisser Weise erfüllt ist, was hat das dann noch für einen Stellenwert, sich dafür zu engagieren?
Ja, es gibt mehrere Gründe. In der Medizin besteht ein hohes Interesse, in Bereiche vorzustoßen, in denen sehr viel Neues entdeckt werden kann; das sind heute Biochemie und Genetik, wo hohe wissenschaftliche Anerkennung erreicht werden kann in Form von Veröffentlichungen mit hohem Impact-Faktor. Sozialfächer sind nicht so hoch dotiert, sozialmedizinische Themen, die die 1970er- und 80er-Jahre dominierten, haben auch allgemein an Attraktivität verloren, zumal darin ein hoher Wissensstand erreicht und ein neuer qualitativer Sprung derzeit nicht mehr zu erwarten ist. Andererseits wird das Thema wieder mehr medikalisiert oder psychiatrisiert. Umfangreiche psychologische Autopsien haben immer wieder gezeigt, dass weit über 90 % der Personen mit vollendetem Suizid ernsthaft psychisch krank sind, also eine psychiatrische Achse-I-Störung vorliegt, davon 50–70 % affektive, außerdem schizophrene, Sucht- und Persönlichkeitsstörungen.
Sie haben das Gespräch begonnen mit der Aussage, Sie seien auf diese Position berufen worden, auch mit dem Hintergrund, dass Sie sich mit philosophischen und theologischen Fragen beschäftigten. Haben Sie das fortgeführt im Laufe der Jahre und hat sich diese Beschäftigung verändert?
Ja, ich habe das fortgeführt und die Beschäftigung damit wurde differenzierter und gespeist mit mehr Lebenserfahrung. Grundsätzliche Wandlungen hat es wohl nicht gegeben, in den letzten Jahren konnte ich mich einfach mehr mit psychiatriehistorischen und künstlerischen Fragen beschäftigen. Das sind Themen, die bleiben, auch über den Zeitpunkt der Pensionierung hinaus.
Wenn Sie einem jungen Kollegen oder Kollegin, Psychologen oder Ärztin, aus Ihrer Erfahrung zum Thema Suizide / Suizidalität / Patienten mit Themen des Lebensendes irgendwas mit auf den Weg geben sollten, was wäre Ihnen wichtig?
Als Erstes würde ich mir jemanden suchen, der breiter gebildet ist und damit ein wenig über den medizinischen Tellerrand hinausschauen kann. Ihm oder ihr würde ich dann sagen: Das Thema Suizidalität ist wahrscheinlich das Interessanteste in der Psychiatrie / Psychotherapie, weil es so viele Gesichter hat und sich in allen psychischen Störungen wiederfindet, weil es darüber hinaus die Grenzen der Psychiatrie, selbst die der Medizin überschreitet, denn es ist ein anthropologisches Phänomen. Ich würde das, wenn man so will, geistige Potenzial der Suizidalität benennen, dabei auch die vielen offenen Fragen ansprechen und die Schwierigkeit einer langen Einarbeitungszeit nicht verschweigen. So oder so ähnlich habe ich auch die 30 Promovenden und Habilitanden, die ich bisher zur Graduierung führen konnte, instruiert, von denen die meisten ein Thema zur Suizidalität bearbeitet haben.
Sie sind immer noch fasziniert…
Offensichtlich ja. Darf ich dazu eine kleine Anekdote erzählen? Nach meiner Pensionierung vor drei Jahren hatte ich mir vorgenommen, mich ganz psychiatrie- und kunsthistorischen Themen zuzuwenden. Deshalb habe ich mich entschieden, meine persönliche „Suizidbibliothek“ in die Klinik zu geben, ca. 600 Suizid-Bücher, teilweise auch teure und historische Schriften, inklusive einer vollständigen Sammlung der aus DDR-Zeiten geheimen Suizidliteratur. Wegen Platzmangels hat sie freundlicherweise meine Nachfolgerin, Frau Dr. Lewitzka, in ihr Arbeitszimmer genommen; als sie ein Stipendium für einen längeren Studienaufenthalt in Kanada bekam, wurde die „Bibliothek“ zu ihrem Nachfolger, Herrn Prof. Jabs, ins Zimmer transferiert; als dieser aber bald darauf eine Chefarztstelle in einer anderen Dresdner psychiatrischen Klinik antrat, habe ich entschieden, alles wieder nach Hause zu holen. Ich komme von dem Thema irgendwie nicht mehr los …
Das ist eine berührende Geschichte zum Abschluss. Ihnen alles Gute und besten Dank für das Gespräch.