Aktuelle Ernährungsmedizin 2012; 37(01): 22-27
DOI: 10.1055/s-0031-1298863
Kommentar
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie viel „Ernährung“ braucht der kritisch kranke Patient?

Nutritional Support in Critical Care Patients: How Much is Enough?
J. Ockenga
Medizinische Klinik m. S., Gastroenterologie, Ernährungsmedizin und Endokrinologie, Zentrum für Onkologie und Spezielle Innere Medizin, Klinikum Bremen-Mitte
,
E. Sanson
Medizinische Klinik m. S., Gastroenterologie, Ernährungsmedizin und Endokrinologie, Zentrum für Onkologie und Spezielle Innere Medizin, Klinikum Bremen-Mitte
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. Februar 2012 (online)

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Mit dem pharmakologischen und technischen Fortschritt in der Medizin ergeben sich immer mehr therapeutische Optionen, und die Betreuung des kritisch kranken Patienten auf einer Intensivstation wird zunehmend komplexer. Für den Intensivmediziner bedeutet dieses, dass er ein weites Spektrum an Therapiemöglichkeiten möglichst differenziert und individuell einsetzen muss. Bei den vielfältigen anstehenden Therapieentscheidungen geraten Basismaßnahmen und -prinzipien wie eine metabolische Kontrolle und Ernährungstherapie leicht in den Hintergrund und die Ernährung des Intensivpatienten wird oftmals nur als supportive Maßnahme eingeordnet. Es gibt aber gute Evidenz, dass eine richtige Ernährungstherapie ein signifikantes therapeutisches Potenzial hat und damit eine outcomerelevante Therapiemaßnahme darstellt [1] [2] [3].

Mit der Publikation der EPaNIC-Studie [4] zur Frage, ob eine frühe (Tag 2) oder späte (Tag 8) supplementierende parenterale Ernährung (PE) zu einer bestehenden, nicht den Bedarf deckenden enteralen Ernährung zu bevorzugen ist, ist eine umfassende Diskussion um die „richtige“ Ernährungstherapie bei kritisch Kranken entfacht. Wie an anderer Stelle in dieser und der vorausgegangenen Ausgabe der Aktuellen Ernährungsmedizin [5] ausführlich erörtert, profitierte die untersuchte Studienpopulation von kritisch Kranken unter den Studienbedingungen nicht von einer frühen zusätzlichen PE, sondern – im Gegenteil – es finden sich in der Gruppe mit früher zusätzlicher PE u. a. mehr Infektionen, längere Beatmungszeiten und längere Intensivzeiten.

Zu dieser Studie gibt es eine Vielzahl von kontroversen Stimmen zur Auswahl der Studienpopulation und dem Studiendesign und damit zur Aussagefähigkeit der Studie. Dieses spiegelt sich u. a. in den entsprechenden Leserbriefen im New England Journal of Medicine aber auch in den verschiedenen früheren und aktuellen Beiträgen in der Aktuellen Ernährungsmedizin wider [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11].

Grundsätzlich bemerkenswert an der EPaNIC-Studie ist, dass es den Autoren gelungen ist, eine große, ausreichend gepowerte ernährungsmedizinische Studie bei kritisch kranken Patienten durchzuführen. Das negative Ergebnis bezüglich einer frühen supplementierenden parenteralen Ernährung führt in der Fach-Community zu einer lebhaften Diskussion, die es jetzt gilt konstruktiv zu nutzen, um die weiterhin unbeantworteten Fragen ([Tab. 1]) zur richtigen Ernährungstherapie kritisch Kranker zu beantworten. Bemerkenswert ist, dass ein Großteil dieser Fragen bereits in ähnlicher Weise vor 40 Jahren gestellt wurde [12].

Tab. 1

Offene Fragestellungen in der Ernährung von kritisch Kranken [38].

  • Klinischer Effekt von verschiedener Dauer einer minimalen oder fehlenden Ernährung.

  • Optimaler Zeitpunkt des Beginns und der Dauer einer enteralen Ernährung, einer parenteralen Ernährung oder einer kombinierten enteral/parenteralen Ernährung.

  • Bedeutung der Zufuhr von Mikronährstoffen und Spurenelementen

  • Effektivität von verschiedenen Zufuhrmengen von Energie, aber auch Substraten wie Kohlenhydrate, Fette und Protein.

  • Effekt einer unterschiedlichen Zusammensetzung von parenteralen Aminosäurelösungen (essenzielle, nicht essenzielle Aminosäuren).

  • Effektivität von verschiedenen Zusammensetzungen von Lipidlösungen (z. B. Fischöl, Olivenöl, strukturierte Lipide) in parenteralen oder auch enteralen Ernährungslösungen.

  • Notwendigkeit von krankheitsspezifischen Ernährungskonzepten für bestimmte Erkrankungen.