Der Klinikarzt 2011; 40(11): 487
DOI: 10.1055/s-0031-1297194
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vergiss Churchill!

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. November 2011 (online)

 

Ein bewährter Grundsatz der Kindererziehung lautet: Es macht nichts, wenn Kinder nicht auf ihre Eltern hören. Diese sollten sich lieber Gedanken darüber machen, dass ihre Kinder sie täglich sehen. Will heißen: gebetsmühlenartige Ermahnungen nutzen wenig, das eigene Vorbild aber, ob negativ oder positiv, prägt ungemein.

Zwar haben viele Kollegen sich mittlerweile vom paternalistischen Arztbild weitgehend verabschiedet, doch die "Erziehung" erwachsener Patienten zu einem gesundheitsbewussteren Verhalten liegt ihnen weiterhin am Herzen. Aber haben diese Kollegen Erfolg damit? Sicher, Ärzte haben ehrenwerte Reflexe, wenn erkennbar ein Risikopatient ihren Rat sucht. Dem übergewichtigen Prädiabetiker teilen sie pflichtschuldig mit, er möge doch ein wenig abnehmen. Dem Hypertoniker würde bestimmt Bewegung gut tun, da sind sich Ärztin und Patient einig. Die Krebspatientin mit Fatigue-Syndrom könnte durch regelmäßiges Walken aus der lähmenden Erschöpfung finden – allein, ihr fehlt der Eigenantrieb. Allzu oft bleibt es bei unverbindlichen Ermahnungen des Arztes und guten Vorsätzen auf Seiten der Patienten, die im Alltag schnell auf der Strecke bleiben.

Das alles kann man nicht länger mit einem Achselzucken abtun. Die evidenzbasierte Datenlage, die sich in den letzten Jahren allein zum Thema Sport in der Primär- und Sekundärprävention angesammelt hat, legt nahe, dass das Ignorieren der Effekte von Bewegung dem Unterlassen einer wirksamen Therapie gleichkommt. Einige Beispiele: schon mäßige körperliche Belastung in der Größenordnung von täglich einer halben Stunde schnellem Gehen senkt das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko um 25 bis 30%. Ein Effekt, der bisher kaum mit einer medikamentösen Intervention erzielbar ist. Selbst wer erst im Alter von 50 Jahren Geschmack am Sport findet, kann sein Sterberisiko in den nächsten 10 Jahren halbieren. Schätzungsweise jedes dritte Kolon- und Mammakarzinom könnte durch regelmäßige Bewegung verhindert werden. Abgesehen von solchen präventiven Effekten mehren sich die Hinweise, dass Sport bei Tumorpatienten im Sinne einer adjuvanten Therapie das Rezidivrisiko und die Mortalität senkt. Für Mamma-, Kolon- und seit neuestem auch Prostatakarzinome sind hier Risikoreduktionen um bis zu 40 % mittlerweile auch in ersten prospektiven Studien belegt. Wie kann es sein, dass wir leitliniengerecht und evidenzbasiert zwar eine medikamentöse adjuvante Therapie empfehlen (deren Nutzen-Risiko-Relation gerade bei älteren komorbiden Patienten oft fragwürdig ist), eine praktisch kostenfreie sportliche Betätigung, die keine unerwünschten Wirkungen hat, aber gar nicht oder ohne jeden Nachdruck an unsere Patienten herantragen?

Eat right.
Exercise.
Die anyway.

(T-Shirt Slogan)

Vielleicht liegt es daran, dass auch wir unsere eigenen Gewohnheiten ungern ändern, in Wahrheit genauso bequem sind wie unsere Patienten. Auch Ärzte sind häufig zu dick, bewegen sich kaum, rauchen oder trinken zu viel. Wer persönlich nicht glaubwürdig ist, wird andere nicht überzeugen. Ein Arzt dagegen, der täglich mehrere Kilometer mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Arbeit kommt, wird von seinen Patienten beobachtet – und kann glaubhaft Empfehlungen aussprechen. Vielleicht kann er dann auch eine persönliche Erfahrung vermitteln, die mindestens genauso wichtig ist wie die Gesundheitseffekte von Sport: wer sich bewegt, erlebt positive Auswirkungen auf die Psyche, ist schlichtweg glücklicher. Wer diese Erfahrung erst einmal gemacht hat, bleibt erfahrungsgemäß am Ball. Sport sollte nicht als Verzicht auf Komfort, sondern als Gewinn an Lebensfreude, Stärke und Wohlbefinden vermittelt werden. Ewig leben werden wir dadurch nicht, da hat der T-Shirt Slogan Recht – aber länger und besser.

Prof. Dr. med. Günther Wiedemann, Ravensburg

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Günther Wiedemann