Gesundheitswesen 2011; 73(12): 878-879
DOI: 10.1055/s-0031-1287844
Editorial – Directed Acyclic Graphs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Directed Acyclic Graphs (DAGs) – Grundlagen und Anwendung einer Kausalitätstheorie in der Epidemiologie

Directed Acyclic Graphs (DAGs) – Basic Concepts and Application of an Approach for Causal Analyses in Epidemiology
J. Hardt
1   Institut für Sozialmedizin, Universität zu Lübeck
2   Institut für Sicherheitstechnik (Bereich Empirische Arbeitsforschung), Bergische Universität Wuppertal
,
C. Brendler
3   Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin
,
K. H. Greiser
4   Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg
,
A. Timmer
5   Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS), Universität Bremen
,
A. Seidler
6   Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin (IPAS), Technische Universität Dresden
,
C. Weikert
7   Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE)
,
U. Latza
3   Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin
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Publication History

Publication Date:
22 December 2011 (online)

“Interdisciplinarity exists when disciplines mix with and encounter each other, and when different perspectives, methods and academic areas intersect with each other.” [1]

Im hochspezialisierten Bereich der Wissenschaft kann es vorkommen, dass verschiedene Fachdisziplinen unabhängig voneinander methodische Probleme bearbeiten, ohne sich bewusst zu sein, dass andere Disziplinen bereits Lösungsansätze für diese entwickelt haben. Oft erschweren dabei unterschiedliche Traditionen in der Terminologie sowie in den methodischen Denkweisen die Wahrnehmung der anderen Disziplin(en) sowie eine Verständigung und den methodischen Austausch zwischen ihnen. So scheint es sich auch mit Ansätzen zur Analyse vermuteter Kausalbeziehungen zu verhalten, die in verschiedenen Disziplinen nacheinander oder parallel entwickelt wurden.

Kausalitätstheorien und methodische Ansätze wurden und werden u.a. in Naturwissenschaften, Philosophie, Psychologie und Soziologie, und in den letzten Jahrzehnten auch stärker in der Medizin und der Epidemiologie angewendet. Mathematiker[1], Statistiker und Informatiker entwickeln Lösungen für methodische Probleme dieser Disziplinen, die nicht immer gleichermaßen in allen Bereichen wahrgenommen werden. Interdisziplinäre Begegnungen können helfen, einen gemeinsamen methodischen Austausch zu erreichen und die Ansätze und Arbeitsweisen anderer Disziplinen kennenzulernen, diese Anregungen für die eigene Disziplin zu diskutieren und in die eigenen Arbeitsweisen zu integrieren.

In den USA wird der Ansatz der kausalen Diagramme (auch unter der Bezeichnung Directed Acyclic Graphs, DAGs bekannt) in der Soziologie wie der Epidemiologie schon länger im Vergleich mit alternativen methodischen Ansätzen diskutiert. Der DAG-Ansatz bietet v. a. die Möglichkeit, Fragen und Probleme der richtigen Adjustierung in multivariaten Analysen zu visualisieren, noch bevor in einer Studie Daten erhoben werden. Dadurch können Confounding (inklusive sogenannter Collider, siehe Beiträge von Schipf et al., Knüppel sowie Pigeot & Fortaita), Selektionsbias, Surrogate und indirekte Effekte besser erkannt und verstanden werden. In Deutschland wurde der Ansatz im Bereich der Epidemiologie in den letzten 10 Jahren vor allem durch Kurse und Vorträge von Charles Poole und Andreas Stang aufgegriffen, ist aber insgesamt noch wenig bekannt. In vielen Disziplinen ist der übergeordnete und weitergehende Ansatz der Bayes’schen Netzwerke bekannter. Bereits im März 2010 fand zum Thema DAGs ein einführender Workshop der „Nachwuchsgruppe Epidemiologie“ der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) an der Berlin School of Public Health (BSPH) statt, der großes Interesse fand.

Am 26. November 2010 führten 3 Arbeitsgruppen der 4 Fachgesellschaften DGEpi, Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS), Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) gemeinsam einen eintägigen Methodenworkshop in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in Berlin durch. Ziel des Workshops war eine Bewertung des DAG-Ansatzes für die Anwendung in der Epidemiologie und in weiteren empirischen Wissenschaften aus interdisziplinärer methodischer Perspektive. Neben den Mitgliedern der 3 beteiligten Arbeitsgruppen „Epidemiologische Methoden“, „Epidemiologie der Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-Erkrankungen“ sowie „Epidemiologie in der Arbeitswelt“ wurden als Experten aus anderen Wissenschaftsbereichen Felix Thoemmes und Rolf Steyer für die Fachgesellschaften European Association of Methodology (EAM) und Society for Multivariate Analyses in the Behavioural Sciences (SMABS) eingeladen. Alle Abstracts und Vorträge sowie weitere Informationen zu der eranstaltung wurden auf der Webseite des Workshops veröffentlicht[2]. Das vorliegende peer-reviewte Themenheft umfasst die intensiv und engagiert diskutierten Beiträge der Veranstaltung, die im Folgenden im Überblick dargestellt werden. Dadurch sollen Wissenschaftler aus dem Bereich Public Health – vor allem der Epidemiologie –, die bisher noch nie von DAGs gehört haben, die Möglichkeit bekommen, die Grundzüge des Konzepts und seine Anwendungsmöglichkeiten zu verstehen. Wissenschaftler, die den Ansatz bereits kennen, können ihr Wissen zu dieser Thematik vertiefen, die hier erstmals in deutscher Sprache vorgestellt wird.

Zunächst stellen 3 Beiträge eine Einordnung, wichtige Definitionen sowie die Grundlagen und Anwendung des DAG-Ansatzes vor. Der Psychologe und Methodiker Felix Thoemmes ordnet den DAG-Ansatz im Vergleich mit 2 weiteren Ansätzen von Kausalitätstheorien ein: zum einen mit dem Potential-Outcomes-Ansatz, der als mathematisch orientierter Ansatz in der Soziologie und der Epidemiologie (hier unter dem Begriff kontrafaktisches Kausalitätsmodell) verbreitet ist, zum anderen mit dem methodischen Ansatz von Campbell, der viele Aspekte der Validität und Kontrolle in quasiexperimentellen Studien (i.S. nicht-randomisierter experimenteller Studien) analysierte und vor allem in der Psychologie sehr verbreitet ist.

Der Epidemiologe und Mediziner Andreas Stang stellt im Überblick Definitionen von Kausalität und Confounding in der Epidemiologie als Hintergrund für die Herangehensweise des DAG-Ansatzes vor. Mitglieder der DAG-Arbeitsgruppe in Deutschland (Sabine Schipf, Sven Knüppel, Juliane Hardt und Andreas Stang) geben dann eine Einführung in die Grundlagen des DAG-Ansatzes und erläutern die Anwendung der Methodik.

Die Weiterentwicklung des DAG-Ansatzes in Deutschland war 2009 und 2010 mit der Entwicklung mehrerer Computerprogramme bzw. Software-Pakete verbunden, die maßgeblich von Johannes Textor unterstützt sowie weiterentwickelt wurde. Die Software-Entwickler hatten auf dem Workshop die Gelegenheit, die Grundlagen und die Anwendung ihrer Tools zur Analyse von kausalen Diagrammen dem interessierten Fachpublikum vorzustellen. Der Mathematiker und Epidemiologe Sven Knüppel erläutert die Darstellung eines kausalen Graphen mithilfe von Adjazenzliste und -matrix und stellt den Backtracking-Algorithmus vor, der das Finden von geeigneten Variablenmengen zur Adjustierung in multivariaten Analysen per Hand ermöglicht und die Grundlage des ersten Computerprogramms zur Analyse von Directed Acyclic Graphs in Deutschland darstellte.

Das Prinzip des „Vorfahren-Moralgraphen“ ist Grundlage der aktuell weltweit schnellsten und umfassendsten Software zur Analyse kausaler Graphen, DAGitty, wie der Informatiker Johannes Textor in seinem Beitrag darstellt. Der Mediziner und Epidemiologe Lutz Breitling entwickelte das Zusatzpaket dagR zur Analyse kausaler Graphen mit der Statistik-Software R, das mit einem Poster auf dem Workshop vertreten war.

Im Anschluss stellen Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen Anwendungsbeispiele für kausale Diagramme vor. Alexa Sehrndt präsentiert eine Studie zum Einfluss des sozioökonomischen Status auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität vor und nach einer aortocoronaren Bypass-Operation. Sabine Schipf analysiert Daten der SHIP-Studie in der Region Greifswald zum Zusammenhang zwischen Testosteron-Spiegel und Diabetes bei Männern. Stefanie Castell wendet die DAG-Methodik für die Fragestellung an, ob Alkohol- und Drogenabhängigkeit Risikofaktoren für den Abbruch einer Tuberkulosebehandlung sind. Anne Lotz (geb. Spickenheuer) stellt die Anwendung der Bayes’schen Netzwerke am Beispiel von Daten aus der Humanstudie Bitumen sowie die statistische Prüfung solcher kausalen Strukturen vor. Janice Hegewald und Andreas Seidler vergleichen im Rahmen einer Studie zur berufsbedingten Gonarthrose Ansätze zur Erstellung von Wirkungsmodellen (DAG-Ansatz versus Change-in-Estimate-Methoden und modell-basierte Verfahren zur Selektion). Falk Liebers zeigt in seinem Beitrag die Anwendung von DAGs in einer Sekundärdatenauswertung zur berufsbezogenen Arbeitsunfähigkeit durch degenerative Muskel-Skelett-Erkrankungen.

Kateryna Fuks stellte im Rahmen des Workshops ein Anwendungsbeispiel zu Luftverschmutzung und Blutdruck aus der Heinz Nixdorf Recall-Kohortenstudie vor (siehe [2]).

Um eine breite Darstellung der DAGs zu gewährleisten, wurde eine weitere Wissenschaftlerin, die nicht am Workshop teilgenommen hatte, um eine Kommentierung gebeten. Iris Pigeot und Ronja Foraita geben eine Einschätzung des DAG-Ansatzes aus der Sicht der Epidemiologie und einen Ausblick auf seine Anwendung.

Der Psychologe Rolf Steyer war als Experte zum Workshop eingeladen, um im Rahmen dieser Veranstaltung weitere Sichtweisen auf die methodische Bewertung des DAG-Ansatzes zu integrieren. Er ist Ausrichter des internationalen Symposium on Causality in Jena und (Mit-)Herausgeber internationaler Fachzeitschriften im Bereich Methoden (Psychometrika, Methodology). Rolf Steyer diskutiert in einem Kommentar Kritikpunkte am Ansatz der kausalen Graphen im Vergleich zu anderen Ansätzen. Wir haben Andreas Stang, Sabine Schipf und Sven Knüppel die Möglichkeit gegeben, auf die von Rolf Steyer geäußerten methodischen Bedenken zu antworten.

Die Beiträge und angeregten Diskussionen des Workshops und nicht zuletzt die Erstellung dieses Themenhefts machten auch viele noch offene methodische Fragen im Zusammenhang mit dem DAG-Ansatz deutlich. Dennoch hoffen wir, mit der ersten deutschen Publikation zu diesem Thema einen interessanten Überblick über den aktuellen Stand der Beschäftigung mit dem DAG-Ansatz in Deutschland zu bieten. Aktuelle Weiterentwicklungen zum DAG-Ansatz wurden in den Literaturangaben der Beiträge bereits berücksichtigt.

Die Veranstaltung wurde von der DGEpi und der GMDS finanziell unterstützt. Die BAuA stellte die Räumlichkeiten zur Verfügung, unterstützte die Veranstaltung wesentlich in der Organisation und ist Herausgeberin dieser Dokumentation. Ute Latza, Juliane Hardt und Claudia Brendler haben die Redaktion und das Lektorat dieser Veröffentlichung übernommen.

Die 3 Arbeitsgruppen möchten der DGEpi, der GMDS sowie in besonderem Maße der BAuA für die Unterstützung danken.