ergopraxis 2011; 4(9): 22-23
DOI: 10.1055/s-0031-1287755
ergotherapie

Pro und Contra – Haben Reflexe ausgedient?

Daniela Ottinger
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. September 2011 (online)

Inhaltsübersicht

    Sie haben einen schlechten Ruf. Man sagt ihnen nach, dass Sie vielfältige Probleme verursachen können. Die Rede ist von frühkindlichen Reflexen, die bis ins Kindesalter bestehen bleiben und vielfältige Auswirkungen haben können. Gibt es diesen Zusammenhang wirklich? ergopraxis hat nachgehakt.

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    Bärbel Hölscher ist Kinesiologin in eigener Praxis in Münster. Sie bietet Medizinern, Therapeuten und Eltern Fortbildungen zum Thema „Frühkindliche persistierende Reflexe“ an.

    Das Thema persistierende Reflexe wird in der Ergotherapie kontrovers diskutiert. Warum ist das Wissen aus deiner Sicht relevant für Ergo-therapeuten?

    Persistierende Reflexe verschwinden nicht einfach im Laufe des Lebens, sondern haben Einfluss auf jeden Lebensbereich. Sie verhindern die volle Entfaltung des motorischen, intellektuellen und emotionalen Potenzials. Durch unbewusste motorische Reaktionen, die von sensorischen Stimuli ausgelöst werden, kommt es zu Verhaltensweisen, die willentlich auszuführende Bewegungen in ihrer kompletten Ausführung behindern.

    Die Entwicklung der Motorik steht am Anfang des Lebens. Darauf aufbauend entwickeln sich die kognitiven Fähigkeiten, was bereits der amerikanische Psychologe und Pädagoge Carl H. Dela-cato in „The Diagnosis and Treatment of Speech and Reading Problems“ im Jahr 1963 veröffentlicht hat [1]. Wie Dr. Masgutova ausführt, ziehen motorische Defizite nicht nur kognitive, sondern insbesondere Defizite im Sozialverhalten nach sich [2]. Mit den Auswirkungen sind Ergotherapeuten täglich konfrontiert. Für sie ist es also wesentlich, über persistierende Reflexe differenziert Bescheid zu wissen.

    Wie wirken sich persistierende Reflexe auf die Entwicklung aus?

    Muss ein Mensch einen persistierenden Reflex willentlich kontrollieren, geschieht dies lebenslang durch große Kraftanstrengung. Der Körper ist ständig überfordert. Nicht nur, dass er immer unter Spannung steht. Auch die Wahrnehmung leidet darunter, da alle Sinne ebenfalls unter ständiger Spannung stehen. Das heißt: Man verschwendet Energie für die Bewältigung alltäglicher physischer Aufgaben, die sonst für kognitive Leistungen zur Verfügung stünden.

    Nicht nur die Produktivität leidet darunter, sondern das gesamte Leben der Betroffenen ist weitaus anstrengender als das von Menschen, die kaum oder keine Restreaktionen aufweisen. Ihre Belastbarkeit ist geringer, sie reagieren in Stresssituationen unangemessen auf Situationen, und sie erschöpfen schneller. Bei Kindern führt das zu Verweigerung, weil alles zu anstrengend sei, bei Erwachsenen zu vermehrten Krankenständen im Berufsleben bis hin zum Burnout-Syndrom. Persistierende Reflexe bleiben bis zum Lebensende bestehen und verursachen unterschiedlichste Schwierigkeiten - von Beziehungsstress über Lernstörungen bis hin zu gesundheitlichen Problemen.

    Gibt es dazu wissenschaftliche Nachweise und Studien?

    Verschiedene Autoren wie Vojta, Bobath, die Russinnen Akhmatova und Masgutova, Campbell, Pfeiffer-Meisel sowie Sacher und Michaelis haben in den letzten Jahrzehnten die Auswirkungen von persistierenden Reflexen beschrieben [3-9]. Sie haben eines gemeinsam: Sie alle halten eine zeitgerechte motorische Entwicklung für die Voraussetzung der gesunden Gesamtentwicklung des Kindes.

    Was kann Ergotherapie leisten, wenn bei einem Kind, einem Jugendlichen oder Erwachsenen Restreaktionen auftreten?

    Da bei persistierenden Reflexen die Wahrnehmung eingeschränkt bis hin zu verzerrt ist und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen immer auf Wahrnehmung aufbauen, kann die Ergotherapie, wenn sie wirklich an den Ursachen und nicht an den Symptomen arbeitet, einen wertvollen Beitrag zur gesunden Kommunikation leisten. Dazu gehört zum Beispiel, dass Ergotherapeuten störende tonische Muster wie den asymmetrisch tonischen Nackenreflex (ATNR), den symmetrisch tonischen Nackenreflex (STNR) oder den tonischen Labyrinthreflex (TLR) erkennen und durch gezielte Wahrnehmungsübungen abbauen. Damit erreichen sie, dass den Gesprächspartnern klar wird, worüber sie gerade sprechen, mögliche Missverständnisse erkennen und diese dann aus dem Weg räumen.

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    Ute Steding-Albrecht ist Ergotherapeutin mit mehr als 30-jähriger Erfahrung in der Arbeit mit Kindern mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Sie arbeitete unter anderem in der Frühförderung, einer Förderschule für Kinder mit Beeinträchtigungen sowie im mobilen Dienst. Außerdem ist sie Bobath-Lehrergotherapeutin.

    Das Thema persistierende Reflexe wird in der Ergotherapie kontrovers diskutiert. Warum ist das Wissen aus deiner Sicht heute nicht mehr relevant für Ergotherapeuten?

    Ganz einfach: Die Entwicklungsneurologie ist im Sprachgebrauch differenzierter geworden. Sprach man früher vom Greifreflex, verwendet man zum Beispiel im Bobath-Konzept seit langem den Begriff Greifreaktion.

    Reflexe sind unwillkürlich ablaufende Antworten des Organismus auf einen äußeren oder inneren Reiz. Auslösbar sind sie durch Aktionspotenziale in den Nervenzellen, das heißt durch Veränderungen des Schwellenwertes beziehungsweise durch eine Depolarisation der Zellmembran. Laut dem amerikanischen Neuro-wissenschaftler Baer funktionieren sie nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip [9]. Beim Reflex gibt es einen bestimmten auslösenden Impuls, beispielsweise wenn etwas schnell auf das Auge zukommt. Niemand kann dann sein Lid langsam schließen. Entweder schließt das Lid oder eben nicht.

    Ein Reflex ist also eine direkte Nervenreaktion, die nicht über die Großhirnrinde geht. Beim Greifen eines Löffels, einer Puppe oder eines Kleidungsstückes können schon kleine Kinder die Greifmotorik an den Gegenstand adaptieren. Das geschieht durch die Reifung der Pyramidenbahn und die Entwicklung der kindlichen Bewegungs- und Handlungskompetenzen im ersten Lebensjahr. Der Pädiater Thomas Baumann merkt dazu an: „Frühkindliche Reflexe werden besser als Reaktionen bezeichnet. Reflexe bleiben unveränderbar, Reaktionen werden sich verändern“ [11].

    Reaktionen sind hingegen variabel und können auch in der Bewegungsqualität beeinträchtigt sein. Unter dem Begriff „motorische Entwicklungsstörungen“ sind diese Beeinträchtigungen in der Ergotherapie ein wichtiger Behandlungsauftrag für das Kind.

    Wirken sich persistierende Reflexe auf die Entwicklung aus?

    Denkt man zum Beispiel an den Saug-, Such-, Moro-Reflex, den plantaren oder den palmaren Greifreflex, so ist ein (Wieder-)Auf-treten von Reflexen im Erwachsenenalter immer pathologisch [12].

    Ein Fehlen, ein verlängerter oder andauernder Fortbestand oder eine Seitenasymmetrie sind laut dem Neuropädiater Professor Richard Michaelis diagnostische Hinweise für eine zerebrale Störung [12]. Kinder bzw. Klienten mit der Diagnose spastische Zerebralparese und einem sogenannten „persistierenden Greifreflex“ nutzen die spastische Bewegung, um zu greifen.

    Persistierende Reflexe sind immer eine neurologische Diagnose, welche im Alltag das selbstständige Handeln beeinträchtigt. Aber: Nicht jede Einbuße an Bewegungsqualität ist ursächlich ein persistierender Reflex!

    Gibt es dazu wissenschaftliche Nachweise und Studien?

    Die schon zitierten Autoren differenzieren klar Reflex und Reaktion und beschreiben deren Auswirkung auf das Alltagshandeln.

    Was kann Ergotherapie leisten, wenn bei einem Kind, einem Jugendlichen oder einem Erwachsenen Restreaktionen auftreten?

    Man ordnet persistierende Reflexe den zerebralen Störungen zu, also beispielsweise den spastischen Zerebralparesen. Dabei ist eine enge Zusammenarbeit mit Neuropädiatern und Entwicklungsneurologen unabdingbar. In der Ergotherapie nutzen wir unter anderem das neurophysiologische Bobath-Konzept, um den Klienten Betätigung im Alltag zu ermöglichen. Nur Betätigung kann Betätigung verbessern. Handeln und Adaptation erfordern Variation, Wiederholung und eben eine alltägliche Herausforderung.

    Nicht jede beobachtbare Bewegungsvariation ist Ausdruck eines persistierenden Reflexes. Es wäre vermessen, das Bogenschießen den persistierenden Reflexen zuzuschreiben. Michaelis geht sogar so weit zu sagen: „Ein Teil wird lebenslang genutzt, da er Bestandteil der alltäglichen, tonus- und haltungsstabilisierenden Motorik ist“ [13].

    Die Gespräche führte Daniela Ottinger.

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    Bärbel Hölscher ist Kinesiologin in eigener Praxis in Münster. Sie bietet Medizinern, Therapeuten und Eltern Fortbildungen zum Thema „Frühkindliche persistierende Reflexe“ an.

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    Ute Steding-Albrecht ist Ergotherapeutin mit mehr als 30-jähriger Erfahrung in der Arbeit mit Kindern mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Sie arbeitete unter anderem in der Frühförderung, einer Förderschule für Kinder mit Beeinträchtigungen sowie im mobilen Dienst. Außerdem ist sie Bobath-Lehrergotherapeutin.