Z Sex Forsch 2011; 24(3): 292-294
DOI: 10.1055/s-0031-128709
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Igor Semjonowitsch Kon

21. Mai 1928–27. April 2011Kurt Starke
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Publication Date:
15 September 2011 (online)

Der russische Soziologiepionier und führende Sexualwissenschaftler der Sowjetunion Igor Semjonowitsch Kon, im Westen nur einigen Fachleuten bekannt, im Osten eine Ikone, starb – bis zuletzt politisch interessiert und wissenschaftlich rege – kurz vor Erreichen seines 84. Lebensjahres in seiner Wahlheimat Moskau. Wir lernten uns in den 70er-Jahren im Kreise von Jugend­forschern kennen, freundeten uns an und besuchten uns gegenseitig. Ich führte ihn auf verschlungenen Pfaden durch die Sächsische Schweiz, was er, der extrem kurzsichtige Flachländer, tapfer genoss. Jedenfalls schreckten ihn – hier wie in seinem Beruf – unbekannte und gefährliche Pfade nicht. Er wiederum erklärte mir kenntnisreich die künstlichen Landschaften in der Umgebung seiner Leningrader Heimat, die Parks von Petrodworez und Puschkin, der alten Zarenresidenz Zarskoje selo. Er liebte sein Land und dessen kulturellen und ethnografischen Reichtum, und er litt zugleich an ihm, an Engstirnigkeit, Intoleranz, Unaufgeklärtheit, nicht ­zuletzt in Bezug auf Sexualität und Sexualwissenschaft und seine Arbeit „v stol’ neblagodarnoj oblasti“ (auf so einem undankbaren Gebiet), wie er am 25.04.2009 in einer E-Mail an mich schrieb. Das blieb bis zu seinem Lebensende so. Seine Bücher nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zeugen davon: „Sex an Russian Society“ (Indiana University Press 1993) oder „Sexual Revolution in Russia“ (Free Press 1995). 

I. S. Kon, Doktor der Philosophie und einiger anderer Disziplinen, Professor an der Leningrader Universität und Gastprofessor verschiedener Universitäten in Europa und Übersee, zu Hause im Institut für Ethnographie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, war ein außerordentlich produktiver Autor. Unzählige wissenschaftliche Artikel und rund 60 Bücher in einer Gesamtauflage im zweistelligen Millionenbereich entstammen seiner Feder. Er widmete sich als einer der ersten in der Sowjetunion theoretischen Fragen der Soziologie und verfasste einen geschichtlichen Abriss über den Posi­tivismus in der Soziologie (Leningrad 1964, Ost-Berlin 1968). Er schrieb eine Soziologie der Persönlichkeit (Moskau 1967, Ost-Berlin 1971). 1978 erschien seine Entdeckung des Ichs „Otkrytie ‚ja’“ (Moskau 1978, Köln 1983) und 1979 in Moskau das Standardwerk „Psychologie des Jugendalters“. Kon hatte sich inzwischen auch psychologischen Fragestellungen zugewandt. Mühelos und weitstirnig überwand er immer wieder Fachgrenzen aller Art. Davon zeugt auch seine „ethisch-psychologische Skizze“ über Freundschaft „Drushba“ (Moskau 1980, Reinbek 1984). Bei allem war er auf der unendlich fleißigen Suche nach den neuesten Befunden der Wissenschaft und nach unerschlossenen Quellen. Er war ein unermüdlicher Erkenntnissammler, immer mit dem Ziel, sie in ein System zu bringen, sie publizistisch aufzubereiten und sie nicht nur der Gelehrtengesellschaft, sondern der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Diese Art von Kommunikation und in gewissem Sinne auch Partnerschaft war sein Lebensinhalt. 

Nach vielen Anläufen in Form von wissenschaftlichen und populären Artikeln und Vorträgen, verfasste Igor S. Kon eine „Einführung in die Sexuologie“. Sie erschien zunächst in Ungarn. Im eigenen Lande wollte man davon nichts wissen. Igor bat Walter Friedrich, den Direktor des Leipziger Instituts für Jugendforschung, und mich um Unterstützung bei einer deutschen Ausgabe, und tatsächlich konnten wir das materialreiche Buch 1985 im Deutschen Verlag der Wissenschaften herausbringen. Kurz darauf erschien es auch in Moskau, das Eis war gebrochen. Inzwischen hatte Kon auch die bundesdeutsche kritische Sexualwissenschaft näher kennen gelernt. Das Buch erschien mit Unterstützung von Gunter Schmidt – was Kon nie vergaß zu erwähnen – auch bei Pahl-Rugenstein in Köln, mit einer kleinen Veränderung im Titel: Statt „Sexuologie“ hieß es nun „Sexologie“. Die „Einführung in die Sexuologie“ ist Kons Porträt von Sexualität und Sexualwissenschaft und zugleich ein Porträt des Wissenschaftlers Kon selbst. Kon führte ja selbst keine empirischen Forschungen zum Sexualverhalten durch, sondern nahm auf und interpretierte. Er stellte Bezüge zu den verschiedensten Wissenschaften und Lebensbereichen her, er quälte sich mit soziokulturellen und politischen Aspekten, er stellte alte Befunde in neue Zusammenhänge und neue Befunde in alte, und er erschloss Quellen aus fremden Ländern wie aus dem eigenen Kulturkreis. 

Bei allem wohnt dem Konschen Ganzen ein aufklärerischer Impetus inne. Latent und ungewollt einerseits und direkt und bewusst anderseits: Er nimmt kein Blatt vor den Mund. 

Kapitel I „Vom Mythos zur Wissenschaft“ beginnt mit einem Goethe-Wort: „Was man nicht versteht besitzt man nicht“ (S. 10). Um eben dieses Verstehen rang Kon, um das Erkennen, um ein Wissen, das Anspruch und Liberalität in einem fördert. Das Buch, so schreibt er, habe zwei Aufgaben, „eine popularisierende, die darin besteht, über die wichtigsten Erkenntnisse und Fragestellungen der modernen Sexuologie zu berichten, und eine wissenschaftswissenschaftliche, die darin besteht, Gesetzmäßigkeiten der Herausbildung eines neuen Wissenschaftszweiges am Berührungspunkt einer Vielzahl von verschiedenen und mitunter weit voneinander entfernten Wisseeschaften zu verfolgen“ (S. 329). Kon konnte Sexualwissenschaft nur komplex und interdisziplinär und in ihren gesellschaftlichen Bezügen denken. 

Inzwischen hatte Kon auch die bundesdeutsche kritische Sexualwissenschaft näher kennen gelernt. Nach 1990, da war er schon über 60, weilte er länger in Hamburg, „zum Studium“, wie er sagte, immer ausgerüstet mit Aktentasche und Notizblock und auf ein strenges Zeitregime bedacht. Die gegenseitige Wertschätzung fand seinen Ausdruck nicht zuletzt darin, dass Igor S. Kon Mitglied des Beirats dieser Zeitschrift wurde. 

Soviel ihn mit anderen Wissenschaftlern verband und so offen er auch für Erkenntnisse anderer war, Igor Semjonowitsch Kon war ein Einzelkämpfer. Er lebte allein, forschte allein, schrieb allein. Er fühlte sich ein Leben lang ausgegrenzt, als Jude, als kritischer Intellektueller, in seiner Haltung zur Sexualität, im Ausland gelegentlich auch als Sowjetbürger. Und er setzte sich für Ausgegrenzte ein, so in Bezug auf die Homosexuellengesetzgebung in seinem Land, wieder und wieder. 

In der russischen Intelligenzia gibt es seit jeher zwei Strömungen, die Slawophilen und die Westler. Kon gehörte zu den letzteren. Er war Russe, aber er verzehrte sich nach dem hellen Licht des Westens. 

Inwieweit sein Lebenswerk künftigen Generationen wertvoll und interessant sein wird, ist schwer abzuschätzen. Wer ernsthaft über Kons Zeit und Kons Land forschen will, ist mit diesem Werk gut beraten. Auch der, der die Geschichte der Sexualwissenschaft untersucht, sollte Kon nicht beiseite lassen. Überragend ist auf jeden Fall seine Bedeutung für Wissenschaft, Geist und Kultur in seinem Land. 

Kurt Starke

Literatur

  • 1 Kon I S. Einführung in die Sexuologie. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften; 1985
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