Prof. Dr. Manfred Wildner
„Homo oeconomicus“ ist eine vergleichsweise junge Spielform der Spezies Mensch. Ob
er tatsächlich existiert, ist ungewiss. In den Wirtschaftswissenschaften wird damit
ein fiktiver Akteur bezeichnet, welcher vernunftbetont und gleichzeitig eigeninteressiert
handelt und auf Basis vollständiger Information seinen eigenen Nutzen maximiert. Seine
„Konstruktion“ verdankt er der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie.
Sie soll vorhersagen, wie sich Klienten oder auch Akteure unter Marktbedingungen verhalten,
verhalten werden oder zumindest verhalten sollten. Die Erstbeschreibung des „economic
man“ wird dem irischen Dichter und Nationalökonomen John Kells Ingram zugeschrieben
[1]. Ingram wiederum bezieht sich auf den Schotten Adam Smith und sein zentrales Werk
„The Wealth of Nations“ [2].
Adam Smith, von seiner wissenschaftlichen Herkunft Moralphilosoph, entwickelte die
Idee eines im wohlverstandenen Eigeninteresse agierenden, den privaten Nutzen ohne
besondere Rücksicht auf das Allgemeingut oder die Interessen anderer verfolgenden
Menschen im festen Gottvertrauen, dass durch das Wirken einer „unsichtbar ordnenden
Hand“ alle diese Eigeninteressen letztlich mit dem Allgemeinwohl zusammenfallen. Ob
dem tatsächlich so ist? Ungeachtet der Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz
eines Homo oeconomicus in seiner reinen Form hat sich dieses gedankliche Modell in
den letzten 200 Jahren evolutiv erfolgreich durchgesetzt. Es ist zwischenzeitlich
auch in der Management-„Neusprache“ des Gesundheitswesens angekommen, wo es als „Kunde“
oder „Nutzer“ den „Patienten“ zumindest sprachlich in manchen Diskussionen verdrängt
hat.
Sicher scheint, dass beginnend mit dem amerikanischen „consumerism“ und der Stärkung
der Verbraucherperspektive im marktwirtschaftlichen Geschehen auch das Gesundheitswesen
eine sich wandelnde Rolle des Individuums erlebt [3]. Dabei beschränkt sich die Rolle des Individuums innerhalb des „Systems Gesundheitswesen“
nicht nur auf die des Leidenden („Patienten“). Das Individuum ist auch souveräner
Nutzer verschiedener präventiver Angebote bei voller Gesundheit, er ist Beitragszahler
bei von ihm gewählten Versicherungen und er gestaltet als Bürger die gesamtgesellschaftlichen
Rahmenbedingungen verantwortlich mit.
Modernes bürgerschaftliches Engagement betont die Übernahme aktiver, gestaltender
öffentlicher Verantwortlichkeit und geht über den bloßen Besitz von Bürgerrechten
in einem passiven Sinn hinaus. Bürgerliches und öffentliches Interesse fallen in Hinblick
auf die faire Nutzung öffentlicher Güter und Dienstleistungen zusammen. Verantwortliches
Handeln wiederum setzt das Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten (choices) und ebenso
die Möglichkeit zur Artikulation der eigenen Position (voice) voraus. Die Befähigung
von Individuen (empowerment) und die Zuweisung von Rechten innerhalb des Gesundheitswesens
kann sowohl aus der Perspektive des Patienten als Leistungsempfänger betrachtet werden,
als auch aus der Perspektive des Versicherten als Financier der Leistungserbringung.
Damit sind grundsätzlich sowohl inter- als auch intra-individuelle Rollenkonflikte
angelegt: Die Interessen als Nutzer von Gesundheitsleistungen können durchaus andere
sein als die Interessen desjenigen, welcher die Finanzierung über seine Pflichtbeiträge
sicherstellt. So ist es vorstellbar, dass dieselbe Person Dienstleistungen des Gesundheitswesens
in Anspruch nehmen möchte, z. B. komplementärmedizinische Behandlungsmethoden, welcher
sie sich bei voller Gesundheit unter Aspekten der Beitragsbezahlung verschlossen hat.
Diese Konflikte auf der Mikroebene lassen sich auch auf der Mesoebene der Institutionen im Gesundheitswesen wie auch auf der Makroebene der Sozialgesetzbücher fortsetzen. Vielleicht liegt in diesen Konflikten die Notwendigkeit
begründet, vielfältige Regulierungen und Balancen zu treffen bzw. anzustreben. Im
bundesdeutschen korporatistischen Bismarck-System wird für die dafür notwendigen Debatten
bzw. Diskussionen und Konsensfindungsprozesse ein Regelwerk vorgehalten, welches dem
Individuum zumindest grundsätzlich Beteiligungsmöglichkeiten z. B. über Sozialwahlen
oder über die Mitarbeit in Gremien ermöglicht.
Angesichts der bestehenden vielfältigen Regelungen, Restriktionen und Inzentivierungen
ist die mancherorts befürwortete Umwandlung des bestehenden Gesundheitssystems in
ein marktorientiertes Gesundheitswesen und des Patienten in einen aktiven Verbraucher
von Hoffnungen und Befürchtungen begleitet [4]. Aus ethischer Perspektive haben die Grundelemente des Homo oeconomicus durchaus
interessante Aspekte. Das Thema der freien Wahl trägt Bezüge zu dem grundlegenden
bioethischen Prinzip der Patientenautonomie [5]. Elementare Bestandteile einer autonomen Entscheidung sind die Handlungsfreiheit,
die Möglichkeit zur wirksamen Abwägung der Optionen, eine unbeeinflusste Authentizität
und die Reflexion anhand der eigenen moralischen Maßstäbe. Handlungsfreiheit wird
im Gesundheitswesen in jüngster Zeit zunehmend gewährleistet: Realisiert ist die Freiheit
zur freien Arztwahl, die Freiheit zur Wahl des Versicherers, die informationelle Selbstbestimmung
und anderes mehr. Gleichermaßen wird vielfach eine umfassende Information im Krankheitsfall
gesucht, was durch die im Internet verfügbaren vielfältigen Informationsquellen teils
erleichtert wird, bei näherem Hinsehen unter Qualitätsaspekten teilweise auch erschwert
ist. Häufig ist es auch eine rationale und freie Entscheidung, wenn die Informationsbewertung
dann dem Arzt anvertraut wird. Dass die vom Patienten getroffenen Wahlen authentisch
mit seinen persönlichen Präferenzen und Lebensplänen sind, wird durch Initiativen
wie die einer partizipativen Entscheidungsfindung aktiv unterstützt (siehe z. B. http://www.patient-als-partner.de).
Die Reflexion unter moralischen Gesichtspunkten ist hierfür nur ein spezieller Anwendungsfall.
Ökonomen wir Gary Becker haben sich in dieser Tradition dem zwischenmenschlich ebenfalls
zu beobachtenden altruistischen Verhalten zugewendet [6]. Ein evolutionärer Sieg des Homo oeconomicus? Wohl nicht in dieser Einfachheit.
Selbst im engeren Gebiet der Wirtschaft blieb die Erklärung des menschlichen Verhaltens
als reine Nutzenmaximierung nie unkritisiert. Die begrenzte Erklärungskraft dieses
Ansatzes hat z. B. den Vorwurf des „Modellplatonismus“ (Hans Albert) hervorgebracht,
den Vorwurf, eine darauf aufbauende Ökonomie sei gar keine empirische Wissenschaft.
Mit der Etablierung einer experimentellen Okonomik musste das eher simple Homo oeconomicus
Modell erheblich erweitert werden: durch eine neue Institutionenökonomik, die Transaktionskostentheorie,
die Verhaltensökonomik, die Evolutionsökonomik und das weite Feld der Spieltheorie.
Dort angesprochene Faktoren wie asymmetrische Informationen und begrenzte Rationalitäten
dürften dem empirisch zu beobachtenden Arzt-Patienten-Verhältnis in einer ganzen Reihe
von typischen Situationen mehr entsprechen. Die Annahme vollständiger Information
und vernunftbasierter rationaler, Nutzen-maximierender Auswahl unter den Optionen
ist sehr schön gefärbt. Sie tritt in der allgemeinen Erfahrung angesichts von das
Bewusstsein prägenden Schmerzen, lebensbedrohlicher oder als lebensbedrohlich empfundener
Perspektiven, organischer Ausfälle und krankheitsbedingter Angstzustände recht schnell
in den Hintergrund. Was zumindest von einem Teil der Patienten gesucht wird, ist manchmal
auch ein wohlwollender Paternalismus des Therapeuten gegenüber „seinem/ihrem“ Patienten.
Doch was, wenn der Arzt ebenfalls dem „Homo oeconomicus“-Modell entspricht und durchgängig
seinen Vorteil sucht, z. B. durch unnötige, angebotsinduzierte Nachfragesteigerung
[7]? Oder wenn eine Gesellschaft die Versorgungsleistungen nach diesem Leitbild rationiert
– wenn das Nutzenkalkül die Grenzen der Humanität bestimmt [8]? Wobei wir wieder beim Homo patiens, dem leidenden Menschen als dem vermutlich schwächsten
und Leid-tragenden gesellschaftlichen Glied angelangt wären.
Stellt sich überhaupt die Frage nach diesen Rollen? Empirisch zu beobachten ist ein
differenziertes Bild von unterschiedlichen Rollen ein und derselben Person oder auch
verschiedener Personen, die abhängig von Kontext und Gesundheitsstatus die einer Patientin,
eines Nutzers oder eines Kunden beinhalten. Letztere Rollen gelten vor allem im sogenannten
„Dritten Gesundheitsmarkt“, dem Wellnessmarkt: hier dürften Nutzer- und Kundenorientierung
klar im Vordergrund stehen. Doch auch im klassischen Feld der Arzt-Patienten-Interaktion
ist unabdingbar die Berücksichtigung der Patientenperspektive angezeigt.
Mit diesen und ähnlichen Themen beschäftigt sich diese Ausgabe unserer Zeitschrift:
mit partizipativer Entscheidungsfindung und Patientenpräferenzen in medizinischen
Versorgungszentren, mit telefonischem Gesundheitscoaching und der Entwicklung von
Gesundheitsinformationen unter Bürgerbeteiligung, mit dem Verschreibeverhalten von
Allgemeinmedizinern in Österreich und Dentaltourismus, mit dem Aut-idem-Verbot, mit
der Analyse von Sekundärdaten und Kodierungsproblemen in der deutschen Todesursachenstatistik.
Welches Menschenbild hat im Gesundheitswesen nun den Vorrang: Homo oeconomicus oder
Homo patiens? Oder sehen wir nicht auch noch mindestens eine dritte Rolle des Patienten
als Ko-Produzenten von Gesundheit? Hier sei an die Unterscheidung von ökonomischen
Sphären Kenneth Bouldings erinnert, der – jenseits der einseitigen Tauschökonomie
des Marktes – pointiert formuliert: „Kein vernünftiger Mensch kann wollen, dass seine
Tochter einen Homo oeconomicus heiratet!“ [9]. Menschliches Dasein ist vielfältig, die von den Menschen geschaffenen gesellschaftlichen
Realitäten sollten im Idealfall in ihrer Differenziertheit dieser Vielfalt Raum geben.
Dies ist sowohl aus ökonomischer Perspektive unter Wettbewerbsaspekten sinnvoll, als
auch unter humanitären und gesellschaftlichen Überlegungen unter dem Aspekt der Autonomie
und der Freiheit wie auch der Bedarfsgerechtigkeit. Vielleicht sollte man bei der
Frage nach dem Primat des Homo oeconomicus oder des Homo patiens weniger die Attribute
ökonomisch bzw. patiens im Auge behalten, sondern vielmehr das Substantiv Homo – der
Mensch.