Der 28. April bis 1. Mai 2011 bescherte Baden-Baden einmal mehr ausgebuchte Hotels.
Rund 3000 Interessenten kamen zur 59. diesjährigen Jahrestagung der Vereinigung Süddeutscher
Orthopäden und Unfallchirurgen (VSOU).
Gleiches Datum, gleicher Ort, und durchaus andere Akzente als im Vorjahr. Vier Schwerpunkte
hatte der diesjährige Kongresspräsident Prof. Klaus M. Peters verordnet: Innovationen
in O & U, Rehabilitation, Osteologie und Schmerztherapie.
Peters Handschrift zeigte sich v. a. am breiten Raum für sein "Herzblutthema" Osteologie.
Der Bedarf an mehr öffentlicher Wahrnehmung für dieses Fach sei riesig. Und es seien
eben nicht nur jene an die 8 Mio. Patienten mit Osteoporose in Deutschland, sondern
auch jene mit der viel selteren Knochenerkrankung, die Zugang zur richtigen Versorgung
bräuchten, wie Peters, Chefarzt in der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik Nümbrecht darlegte.
Glasknochenkrankheit, Vanishing-Bone, Fibrodysplasia ossificans progressiva – Baden-Baden
bot in diesem Jahr reichlich Gelegenheit, sich zu solch Orphan Diseases fortzubilden.
Einen Weg, das Wissen um Seltene Krankheiten zu erhalten, sieht Peters darin, dass
sich auch Krankenhäuser mehr spezialisieren: "Nicht jede Klinik muss alles vorrätig
halten." Positiv stimmte ihn, dass mittlerweile an die 1600 Ärzte die vor 5 Jahren
aufgelegte Zusatzqualifikation Osteologin, Osteologe DVO erworben haben. Große Schwierigkeiten
mache hingegen die Compliance. Peters: "Wir haben wirksame Medikamente gegen Osteoporose,
zugleich aber Abbrecherquoten von 60 – 70 % bei der Einnahme – da müssen wir Betroffene
besser aktivieren." Immerhin 150 Interessenten kamen dieses Jahr zum Patiententag
mit dem Thema Osteoporose.
Prof. Hans-Raimund Casser aus Mainz warb derweil dafür, die konservativen Inhalte
im Facharzt O & U wieder mehr zur Geltung zu bringen. Besonders bei der Schmerztherapie.
14 Mio. Patienten mit chronischen Schmerzen seien in Deutschland oft nicht adäquat
versorgt.
Und Schmerztherapie, das machte die Tagung in etlichen Symposium deutlich, braucht
mehr als nur die Pharmakotherapie. Die Behandlung der chronischen Patienten muss besser
als bislang versuchen, das ganze Areal an therapeutischen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Etwa die der Akupunktur, der in diesem Jahr ein Schwerpunktvortrag galt, gehalten
von Radha Tambirajah. Doch ach, das werte Publikum kann ungerecht sein. Wo ein Jahr
zuvor das große Auditorium im Kongresshaus Baden-Baden aus allen Nähten platzte, als
Lama Gangchen in einem v. a. farbigen Vortrag über tibetische Medizin referierte,
fanden sich diesmal gerade Mal einige Dutzend Zuhörer ein.
Dabei bot Thambirajah – sie erlernte die Techniken bereits in den 1960er Jahren in
China, gründete 1980 die Academy of Chinese Acupuncture in Sri Lanka und leitet heute
Kliniken für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) in Großbritannien (http://www.energyacupuncturecentre.com) – eine durchaus faktenreiche Übersicht mit dem Titel "Energy Balancing and Acu-puncture".
Obendrein ist die Referentin auch international durchaus keine Unbekannte: Als Diplomatin
im Dienste der Akupunktur führte Prof. Albrecht Molsberger sie ein. Molsberger ist
einer der Leiter der hiesigen Forschungsgruppe Akupunktur und chinesische Medizin
(FACS).
Einerseits folgt die 2500 Jahre alte TCM-Akupunktur einem Grundkonzept, dem westliche
Medizin fremd ist. Die Energie des Körpers teilt sich nach der TCM auf in Yin und
Yang als 2 grundlegenden Polaritäten, beide müssen im Gleichgewicht sein. Imbalancen
versucht die TCM ins Gleichgewicht zu bringen, nutzt dabei an die 400 entweder tonisierende
oder abschwächende Akupunkturpunkte. Die Therapie umfasst auch Schröpfkuren, Massagen
und Ratschläge für die richtige Ernährung.
Entscheidend sei allerdings gerade bei der Schmerztherapie, so Tambirajah, obendrein
der Blick auf die Persönlichkeit der oder des Betroffenen: So differenzierte sie bei
Nackenschmerzen 2 unterschiedliche Typen: Schlanke, leicht angespannte Leute entwickeln
sie mit Vorliebe gegen Nachmittag, morgens hingegen seien diese Patienten meist
ausgeruht. Ihre Interpretation: "Diese Schmerzen haben nichts mit dem Nacken zu tun,
vielmehr mit falschem Stressumgang." Stress führten wir v. a. über den Thorax ab –
wer dort zu wenig Energie habe, werde im Verlauf des Tages immer verspannter. Akupunktur
müsse dann an Punkten ansetzen, die den Brustkorb kräftigen. Andere Patienten entwickelten
hingegen Nackenschmerzen v. a. in der Nacht, da sie Druck auf die Nackenpartie nicht
vertragen, im Laufe des Tages klingen die Schmerzen bei ihnen ab – die Behandlung
nutzt daher auch ganz andere Meridiane und Punkte. "Treat the pain and treat the person",
fasste Thambirajah zusammen.
(Foto: VSOU)
(Foto: Imagesource)
(Foto: VSOU)
Akupunktur mit ordentlicher Evidenz
Akupunktur mit ordentlicher Evidenz
Die Tagung schaffte diesmal auch den Brückenschlag zwischen Alternativmedizin und
der Suche nach Evidenz in der westlichen Medizin. Hat bei Akupunktur gegen Schmerzen
da allerdings auch ein vergleichsweise gut bestelltes Feld, wie A. Molsberger auf
einem nachgeschalteteten Symposium referierte.
So lieferten die GERAC-Studien (German Acupuncture Trials) zwischen 2002 und 2007,
mitinitiiert von der FACM, bekanntlich Belege, dass Akupunktur bei Schmerzen aufgrund
chronischer Kniegelenksarthrose, wie auch bei chronischem Kreuzschmerz manch Standardbehandlung
überlegen ist. Bei Migräne war sie, wenige Wochen appliziert, wirksamer als die Einnahme
von Betablockern über ein halbes Jahr. Der G-BA machte sie daher 2007 für diese Indikationen
zur Kassenleistung. Komplettiert werden solche Befunde durch die Acupuncture Randomized
Trials (ART): "Vor allem GERAC und ART haben den Vergleich mit der konventionellen
Medizin gewagt", referierte Molsberger. Nebenbei sei Deutschland heute das Land, in
dem vermutlich mehr Akupunktur stattfinde als in China.
Ein Pferdefuß: Viele Studien deuten auf überwiegend Plazeboeffekte. Denn GERAC und
andere Studien fanden eben auch heraus, dass eine in manchen Studienarmen mitgeführte
Scheinakupunktur, bei der Ärzte schlicht neben die Akupunkturpunkte piekten, gleich
gute Ergebnisse lieferte wie eine Verum-Akupunktur. Neue Metaanalysen, die derzeit
eine Arbeitsgruppe an den US-amerikanischen NIH ausarbeite, deuteten aber an, dass
eine Verum-Akupunktur der Plazebo-Variante doch überlegen sei, erklärte Molsberger.
Und kritisierte, dass die neue Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz die Methode
nicht gebührend würdige. Bei akuten "nichtspezifischen" Schmerzen rät die ab, bei
chronischen "nichtspezifischen" nur eingeschränkt zu. Molsberger: "Beides ist falsch,
die Akupunktur gehört in die Leitlinie."
Erschreckend ist, wie viele andere Methoden der konservativen Behandlung bis heute
nicht auf ihren medizinischen Nutzen hin untersucht sind. Er habe sich da wohl recht
forsch vorgewagt, als er spontan erklärte, einen Vortrag über Manuelle Therapie bei
Osteoporose zu übernehmen, bekannte Dr. Uwe Knorr aus Mühlacker. Denn es gebe schlicht
keine einzige valide Studie zur Wertigkeit der Methode. Knorr behalf sich mit Berichten
aus seiner eigenen Berufserfahrung. Seiner Meinung nach stellt Osteoporose an sich
keine Kontraindikation für eine Manuelle Therapie dar. Es gebe sehr wohl Fälle, in
denen es damit gelingen kann, Osteoporosepatienten besser zu mobilisieren.
Aber der behandelnde Arzt müsse auf jeden Fall vorab eine umfassende Diagnostik betreiben
und dürfe auf keinen Fall im Bereich von Frakturen agieren. Das wird oft falsch gemacht.
Knorr legte mehrere Fälle vor, wo Patienten mit Manueller Therapie just in solchen
Bereichen behandelt worden waren, mit z. T. katastrophalen Folgen.
Oder die vielen Injektionstherapien an der Wirbelsäule. Facetteninfiltration, epi-
und peridurale Injektionen und andere: Die Studienlage ist nach wie vor nicht gerade
üppig. Dabei wolle die "gezielte repetitive Injektion mit Kochsalz, Corticosteroiden
oder Lokalanästhetika" eine kausale Therapie, wie Dr. Cordela Schott, Präsidentin
der IGOST (Interdisziplinären Gesellschaft für orthopädische/unfallchirurgische und
allgemeine Schmerztherapie) referierte. Es geht um ein Fortspülen von Entzündungsmediatoren
und darum, die Regelkreise der Schmerzwahrnehmung zu durchbrechen. Schott forderte
ein klares zeitlich befristetes Behandlungskonzept, einschließlich einer Bewertung
nach Therapieabschluss: "Nötig ist eine gute Dokumentation, auch damit wir Argumente
gegenüber den Kostenträgern haben."
Der Einsatz vieler konservativer Therapien bleibt damit ein Spagat. "Es ist wichtig,
die nichtmedikamentösen Maßnahmen weiter zu pflegen. Nur mit Opiaten kommt man bei
Kreuzschmerzen nicht weiter", erklärte Casser. Nötig sei zugleich mehr wissenschaftliche
Evaluation.
(Foto: pixland)
(Foto: PhotoDisc)
(Foto: Stefan Oldenburg/Thieme Verlagsgruppe)
Kein Plantschen auf Mallorca
Kein Plantschen auf Mallorca
Für eine multimodale Sicht auf den chronischen Schmerzpatienten warb einmal mehr Prof.
Walter Zieglgänsberger vom Münchener MPI für Psychiatrie: Ein chronischer Schmerzpatient
ist für ihn v. a. ein Angstpatient. Unter enormem Stress aufgrund der Furcht vor wiederkehrenden
Schmerzen.
Auswege gebe es. Einmal: Wenn Pharma, dann richtig: "Sie müssen einem Patienten unbedingt
zeigen, dass die Schmerzen unter Medikamenteneinnahme nicht zurückkehren", mahnte
Zieglgänsberger, der aus diesem Grund das Stufenschema der WHO ablehnt, da ein womöglich
zu schwacher Einsatz der Mittel zu Beginn der Therapie die Entstehung des Schmerzgedächtnisses
erst möglich mache, den Teufelskreis auf Schmerz und Furcht vor neuem Schmerz erst
richtig in Gang setze. Und zweitens: Wenn Reha, dann aktiv und in der vertrauten Umgebung.
Tango statt Fango. "Plantschen auf Mallorca führt nur dazu, dass der Angstreflex zurückkehrt,
sobald der Patient wieder in seinem Sessel sitzt und den Geruch der gewohnten Umgebung
wahrnimmt." Tango hingegen sei ruhig wörtlich zu nehmen, als Kurs mit Folgen: "Tango
heißt ja auch mehr Sex und weniger Stress, und der Abbau von Stresshormonen ist entscheidend,
um das Schmerzgedächtnis zu überschreiben."
Breiteren Raum als früher nahmen berufspolitische Themen ein. Etwa der Klassiker Weiterbildung
sei nicht praxisnah genug, betonten mehrere Referenten. Am Ende ist das eher eine
Hausaufgabe für die Zunft, ebenso wie die Frauenförderung. Gerade mal 12,6 % aller
Vorträge und Poster in Baden-Baden, Peters hatte nachgerechnet, hatten einen weiblichen
Erstautor: "Da haben wir Verbesserungsbedarf", so sein Kommentar.
Gut 160 Firmen umfasste die Industrieausstellung. Der Druck zu mehr Evalua-tion hat
auch hier zugenommen. Er befürworte Konzepte, Innovationen erst in einigen Zentren
zu erproben, bevor sie auf den breiten Markt gelangen, meinte Dr. Hadi Saleh vom Endoprothesenhersteller
Biomet. Grundsätzlich, so Saleh, setzten sich die Unternehmen der Medizintechnologie
für eine stärkere Qualitätsorientierung im deutschen Gesundheitswesen ein. Zugleich
gelte es, die Bahn für Innovationen frei zu halten.
(Foto: V. Sutor/Thieme Verlagsgruppe)
(Foto: PhotoDisc)
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Ektope Ossifikation für den Knochenersatz
Ektope Ossifikation für den Knochenersatz
Die brauchen Zeit. Beispiele für Forschung als das Bohren dicker Bretter, bot die
Tagung dutzendfach. Da möchte eine Gruppe um Prof. Wolfgang Rüther von der Orthopädischen
Universitätsklinik Hamburg ektope Ossifikationen als "unerschöpfliche Knochenersatzquelle"
des Patienten nutzen. Die in der Klinik meist gefürchtete Neuentstehung von Knochengewebe
trifft manche Patienten nach Hüftendoprothesenoperationen, aber auch nach Rückenmarksverletzungen.
Der neue "Knochen" entsteht dabei an ganz anderer Stelle im Körper, in Muskeln oder
Bindegewebe. Mitunter nutzen Chirurgen ihn schon heute als autologes Ersatzmaterial.
Rüthers Gruppe will es jetzt im Labor nachzüchten. Auf Trägerstrukturen aus Hydroxylapatit
gelingt das bereits in Ansätzen. Die weitere Erprobung bleibt abzuwarten.
Eine Gruppe um Dr. Marcus Jäger von der Universität Düsseldorf berichtet derweil von
guten Erfolgen mit einem Stammzellkonzentrat, das sich durch Knochenmarkaspiration
gewinnen lässt (BMAC, ein in der Zahnimplantologie bereits kommerziell erhältliches
Verfahren), um damit Trägermaterialien zu beschichten und dem Patienten zu retransplantieren.
Bei über 100 derart behandelten Knochendefekten kam es immer zu signifikanter Knochenregeneration.
Die Menge an nötigem Knochautotransplantat konnte um die Hälfte reduziert werden.
Offenkundig kommen mittlerweile auch mehr Unfallchirurgen zum einst klassischen Orthopädenkongress.
Man komme gerne und könne eine Menge lernen, meinte DGU- (und zugleich turnusmäßig
DGOU-) Präsident Prof. Tim Pohlemann. Und nutzte die Gelegenheit, um für Qualitätssicherung
zu werben: Man brauche entsprechende Qualitätssicherungssysteme, um nach außen zu
zeigen, dass "uns die langfristige Qualität der Behandlung wichtig ist".
Irgendwie so ähnlich sah das auch der eigens engagierte Kabarettist Vince Ebert: Skepsis
ist für ihn Grundlage von Wissenschaft und zugleich der Weg zur Freiheit. Konkretisiert:
"Glaube ich, dass im Kühlschrank ein Bier ist und schaue nach, betreibe ich Wissenschaft.
Schaue ich nicht nach, bin ich Theologe." Bleibt eine dritte, eher seltsame Variante:
Finde sich, so Ebert, bei der Überprüfung kein Bier und behaupte man trotzdem, dass
welches im Kühlschrank ist, dann, ja dann sei man ein Esoteriker.
Der nächste VSOU-Kongress ist vom 28. April bis 1. Mai 2012. Tagungsort Baden-Baden.
Dann in einem, geht alles nach Plan, erweiterten Kongresshaus.
BE
http://www.vsou.de