manuelletherapie 2011; 15(5): 191-192
DOI: 10.1055/s-0031-1281923
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserbrief zu: Van Minnen J. H. Editorial: Gedanken über die Akademisierung in der Physiotherapie, van den Berg F. Leserbrief sowie von Piekartz H. Leserbrief

H. Luomajoki
  • 1ZHAW, Dept. Gesundheit, Institut für Physiotherapie, CH-8401 Winterthur
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Publication Date:
19 December 2011 (online)

manuelletherapie 2011; 15: 49
manuelletherapie 2011; 15: 94
manuelletherapie 2011; 15: 143 – 144

Mit Interesse habe ich die Beiträge der werten Kollegen van Minnen, van den Berg und von Piekartz gelesen. Ich finde diese Diskussion wichtig, da es momentan sehr populär ist, die Meinung zu vertreten, dass die Fachkenntnisse und vor allem die manuellen Fertigkeiten der Physiotherapeuten früher besser waren als heute. Daraus wird dann das Fazit gezogen, die Ausbildungen seien heute schlechter als früher.

Ich bin hier dezidiert anderer Meinung. Aus meiner Sicht gibt es 2 Gründe für diese weitverbreitete Ansicht: (1) Nostalgie und (2) mangelndes Verständnis für evidenzbasierte Praxis. Ich nehme deshalb gerne hier die heutige Ausbildung in Schutz – kann dies aber nur aus der Schweizer Sicht machen.

Nostalgie heißt, man hat eine wehmütige Hinwendung zu vergangenen Zeiten und idealisiert sie ohne zu reflektieren. Manuelle Therapie ist ein Paradebeispiel der Erfahrungsmedizin (wie der größte Teil der Medizin überhaupt). In manuellen Kursen werden Techniken und Methoden weitergegeben, wie sie vor vielen Jahren von irgendwelchen Koryphäen erfunden wurden. Wir waren alle einmal jung, enthusiastisch und fasziniert von diesen Gurus (religiöser Führer). Wir himmelten diese Lehrer an und waren eingeschüchtert, wie schlecht wir selber alles beherrschten. Mit den Jahren haben wir dann die gleichen Manieren wie die früheren Meister übernommen und stellen – wie unsere Gurus damals – fest: Die Jungen können wenig. Wir vergessen aber dabei, dass wir auch wenig konnten.

Mein Fazit: Ich glaube gar nicht, dass die heutigen Physiotherapeuten schlechter sind als wir früher – wir sind nur älter und erfahrener geworden.

Evidenzbasierte Praxis ist in aller Munde. Für viele stellt der Begriff eine Drohung dar, und einige verstehen gar nicht, was er bedeutet. Wenn nicht einmal erfahrene Lehrer für Manuelle Therapie die Zuverlässigkeit in der Testung segmentaler LWS-Beweglichkeit erzielen – wie in dieser Zeitschrift unlängst publiziert wurde [4] –, wer soll dies dann überhaupt schaffen? Auch große Reviews (Zusammenfassungsartikel über wissenschaftliche Studien) belegen diese mangelnde Zuverlässigkeit eindeutig [5]. Wenn nun 2 Therapeuten aus der gleichen Untersuchung völlig andere Befunde erhalten, wie kann man dann erwarten, dass die Behandlung eine ähnliche Linie erreichen könnte? Und wohlgemerkt – in den beiden Studien handelt es sich um erfahrene Therapeuten [4] [5].

Mein Fazit: Die erfahrenen Physiotherapeuten sind nicht besser als die jüngeren Kollegen –, oder als Frage formuliert: In welcher Hinsicht sind sie denn schlechter/noch schlechter als wir?

Man muss wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, dass die Manuelle Therapie auch nicht effektiver ist als therapeutische Übungen, McKenzie oder Patientenedukation [3] – also Why bother? Die Chronifizierung steht sicher mehr in Zusammenhang mit psychosozialen und kognitiven als mit strukturell-anatomischen Faktoren [1]. In dieser Phase ist demzufolge eine genauere Strukturdiagnose kaum nötig. Und in der akuten Phase? Wir wissen, dass sich 90 % der akuten Rückenschmerzen innerhalb von 6 Wochen auch spontan verbessern [6], und niemand konnte bis dato zeigen, dass eine spezielle Art von (Manueller) Therapie besser ist als eine andere oder die Zeit per se – also wieder Why bother? Vielleicht helfen Manualtherapeuten ja sogar mit, den hypervigilanten (zu stark auf seine Beschwerden fokussierenden) Patienten in ein Angst-Vermeidungs-Verhalten [7] oder sogar Katastrophisieren (einer der wichtigste Faktoren zur Chronifizierung; [2]) hineinzusteigern. Das wäre dann wirklich auf allen Ebenen kontraproduktiv.

Ich stimme zu, dass MSc-Physiotherapeuten wenige klinische Fertigkeiten lernen. Das ist aber auch nicht das Ziel eines MSc-Studiums. Sie werden – hoffentlich – die Stellung der Physiotherapie in Zukunft in ein besseres Licht rücken können –, etwas, was wir alle bis jetzt mit unseren supermanuellen Fertigkeiten nicht geschafft haben. Dies wäre z. B. durch Forschung möglich, um zu ermitteln, wie wir überhaupt unsere Patienten möglichst zuverlässig, genau und aussagekräftig untersuchen und darauf aufbauend effektiv behandeln sollen.

Die effektive Behandlung muss messbar sein. Was sind gute Messungen? Dazu zählen z. B. Fragebogen. Wer setzt sie regelmäßig bei allen Patienten ein? Welche Fragebogen für welchen Patienten? Validierte Messungen können die Veränderung des Patienten nach der Behandlung zuverlässig nachweisen. Werden die zuverlässigen und genauen Messungen in den Weiterbildungen vermittelt? Ich bin überzeugt, dass auch eine wissenschaftlichere Unterrichtsweise sinnvoll sein kann. Ja, dies ist für die Reputation und den Stellenwert unseres Berufsstands sogar zwingend nötig.

Ich habe keine Angst davor, dass es einmal zu viele MSc-Physiotherapeuten geben wird. In der Schweiz besteht ein Numerus clausus für die MSc-Studienplätze, und pro Jahr werden nur 20 – 40 Studierende ausgebildet. Dazu kommen noch diejenigen, die im Ausland einen (wissenschaftlichen!) MSc erwerben. Bei einer Gesamtzahl von schätzungsweise 11 000 Physiotherapeuten in der Schweiz ist das sicher nicht zu viel.

Man darf auch nicht vergessen, dass die MSc-Absolventen später auch noch klinische Weiterbildungen besuchen werden. Das Bologna-Modell sieht nämlich vor, dass nach der Ausbildung (BSc, MSc, PhD) das lebenslange Lernen in der Weiterbildung fortgesetzt wird. Wenn heute ein junger Mensch die Physiotherapieausbildung (BSc) abschließt, ist er ca. 24 – 26 und nach dem MSc-Abschluss ca. 25 – 27 Jahre alt. Viele unserer MSc-Studierenden möchten in Zukunft Klinik und Forschung kombinieren –, übrigens eine äußerst sinnvolle Kombination. Da liegt es doch auf der Hand, dass einige nach dem MSc-Abschluss mit dem PhD und die anderen mit den klinischen Weiterbildungen fortfahren.

Eine klinische Weiterbildung ist z. B. Beispiel unser Master of Advanced Studies in muskuloskelettaler Physiotherapie (MAS msk PT). Diese Weiterbildung bildet Physiotherapeuten (mit BSc- oder MSc-Abschluss) zu klinischen Spezialisten aus. Von den alten Techniken werden die validen ausgewählt. Die Studierenden sind wach sowie kritisch gegenüber Messungen und können eine umfassende Beurteilung über den einzelnen Patienten abgeben, um darauf aufbauend eine individuelle, effektive Behandlung durchzuführen. Dies steht alles im Einklang mit den Anforderungskriterien der IFOMPT, die unsere Weiterbildung überwacht – und herrlich wenig über die Bedeutung der manuellen Fertigkeiten spricht.

Literatur

  • 1 Airaksinen O, Brox J I, Cedraschi C et al. Chapter 4. European guidelines for the management of chronic nonspecific low back pain.  Eur Spine J. 2006;  15 (Suppl 2) S192-S300
  • 2 Buitenhuis J, Jong P J, Jaspers J PC et al. Catastrophizing and causal beliefs in whiplash.  Spine. 2008;  33 2427-2433 ; discussion: 2434
  • 3 Paatelma de M, Kilpikoski S, Simonen R et al. Orthopaedic manual therapy, McKenzie method or advice only for low back pain in working adults: a randomized controlled trial with one year follow-up.  J Rehabil Med. 2008;  40 858-863
  • 4 Schreiner M. Interrater-Reliabilität passiver physiologischer intervertebraler Bewegungen in der Sagittalebene der LWS.  manuelletherapie. 2008;  12 201-205
  • 5 Van Trijffel E, Anderegg Q, Bossuyt P M et al. Inter-examiner reliability of passive assessment of intervertebral motion in the cervical and lumbar spine: A systematic review.  Manual Therapy. 2005;  10 256-269
  • 6 Van Tulder M, Becker A, Bekkering T et al. Chapter 3. European guidelines for the management of acute nonspecific low back pain in primary care.  Eur Spine J. 2006;  15 (Suppl 2) S169-S191
  • 7 Vlaeyen J W, Linton S J. Fear-avoidance and its consequences in chronic musculoskeletal pain: a state of the art.  Pain. 2000;  85 317-332

Dr. phil. Hannu Luomajoki

PT, OMT, MPhty, Programmleiter MAS muskuloskelletale Physiotherapie, Dept. Gesundheit, Institut für Physiotherapie, ZHAW Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften

Technikumstr. 71

8401 Winterthur

Schweiz

Email: luom@zhaw.ch

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