manuelletherapie 2011; 15(5): 192-194
DOI: 10.1055/s-0031-1281921
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserbrief zu: Van Minnen J. H. Editorial: Gedanken über die Akademisierung in der Physiotherapie, van den Berg F. Leserbrief sowie von Piekartz H. Leserbrief

J. Langendoen
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Publication History

Publication Date:
19 December 2011 (online)

manuelletherapie 2011; 15: 49
manuelletherapie 2011; 15: 94
manuelletherapie 2011; 15: 143 – 144

Ein Wendepunkt für die Weiterbildungen in Manueller Therapie: Die Ausbildungsrichtlinien der IFOMPT treten in Kraft

Einführung

Während der IFOMPT-Konferenz des Weltverbands für Manuelle Therapie 2008 in Rotterdam wurde das überarbeitete Standards Document (SD) verabschiedet, das nun in Kraft tritt. Das SD beschreibt die Richtlinien zur Weiterbildung in Manueller Therapie (englisch: orthopädisch manipulative Physiotherapie) für ihre Mitgliedsorganisationen (MO). Diese Richtlinien werden unter Federführung der zuständigen IFOMPT-Arbeitsgruppe, dem Standards Committee (SC) in enger Zusammenarbeit mit allen MO in einem Zyklus von 6 Jahren überarbeitet. Deutschsprachige MO sind Deutschland mit der DFAMT, die Schweiz mit der SVOMP und Österreich mit der OEVOMT.

Definition Orthopädische Manuelle Therapie (OMT)

Die Manuelle Therapie ist ein Spezialgebiet der Physiotherapie für das Management neuromuskuloskelettaler Bewegungsdysfunktionen. Basierend auf dem Clinical Reasoning werden hoch spezialisierte Behandlungsstrategien einschließlich manueller Techniken und therapeutischer Übungen verwendet.

Orthopädische Manuelle Therapie beinhaltet und wird gelenkt durch die Kenntnisse aus der Wissenschaft, klinischer Evidenz und dem biopsychosozialen Zustand des individuellen Patienten.

Neue Weiterbildungsrichtlinien des Standards Document 2008

Das SD 2008 steht für einen klaren Paradigmenwechsel (www.ifompt.com/About+IFOMPT/Standards+Document.html). Bildungsstrukturen haben sich global studienrichtungsübergreifend von lehrstoff-/inhaltszentriert zu lernzielorientiert gewandelt: Lernen statt Lehren, Output ist wichtiger als Input. Einfacher gesagt: Nicht nur das Dabeisein, sondern auch das Ergebnis zählt. Beim SD 2008 steht das Erwerben von Kompetenzen im Mittelpunkt. Die angestrebten Kompetenzen sind in 10 Dimensionen (Domänen) eingeteilt, wobei jeweils zwischen Wissen (Sachverstand), Fertigkeiten (Sachkunde) sowie professionellen als auch persönlichen Einstellungen unterschieden wird ([Tab. 1]). Zusätzlich werden Manualtherapeuten folgende 7 Rollen zugeschrieben [23]:

  • Klinischer Experte/klinischer Entscheider;

  • Kommunikator;

  • Mitarbeiter;

  • Manager;

  • Gesundheitsförderer;

  • Lernender;

  • Fachmann.

Tab. 1 Kompetenzen der 10 Dimensionen. Domäne Kompetenzen 1 kritische und evaluative evidenzbasierte Praxis 2 kritische Anwendung von umfassenden Kenntnissen biomedizinischer Wissenschaften im Rahmen der OMT 3 kritische Anwendung umfassender Kenntnisse klinischer Wissenschaften im Rahmen der OMT 4 kritische Anwendung umfassender Kenntnisse der Verhaltenswissenschaften im Rahmen der OMT 5 kritische Anwendung umfassender Kenntnissen der OMT 6 kritische Anwendung fortgeschrittener Clinical-Reasoning-Fähig-/Fertigkeiten, die effektives Befunden und Behandeln von Patienten mit neuromuskuloskelettalen Störungen ermöglichen 7 Fortgeschrittenenniveau kommunikativer Fertigkeiten, die effektives Befunden und Behandeln von Patienten mit neuromuskuloskelettalen Störungen ermöglichen 8 Fortgeschrittenenniveau praktischer Fähig- und Fertigkeiten mit einem hohen Maß an Sensitivität und Spezifität, die effektives Befunden und Behandeln von Patienten mit neuromuskuloskelettalen Störungen ermöglichen 9 kritisches Verständnis und Fähigkeit zur Anwendung des Forschungsprozesses 10 klinische Expertise und kontinuierliche professionelle Hingabe zur Weiterentwicklung der OMT-Praxis

IFOMPT-Richtlinien versus Master-Lehrgang

Die OMT-Weiterbildung kann – wie in vielen Ländern üblich – durch Verbände oder Privatinstitutionen und unabhängig von Fach- oder Hochschulen organisiert und durchgeführt werden. Dennoch haben die IFOMPT-Weiterbildungsrichtlinien des SD 2008 Master-Niveau. Andererseits kann es vorkommen, dass ein Master-Studiengang in OMT bzw. in neuromuskuloskelettaler Physiotherapie nicht alle Richtlinien des SD 2008 erfüllt. Bevor ein Master-Studium-Absolvent in einer MO Mitglied werden kann, könnte es durchaus sein, dass er noch ausstehende Teile des SD nachholen muss. Einem Master-of-Science-Studenten (MSc) könnten Stunden im praktischen Training der klinischen Fertigkeiten bzw. Patientenbehandlungen unter Supervision (Mentored Clinical Practice, MCP) fehlen. Es gehört zur Verantwortung der MO, Studenten darauf hinzuweisen bzw. Zusatzangebote zum Erwerb der Mitgliedschaft zu machen. Bachelor- und Master-Studiengänge stehen seit 2005 wegen fehlender Praxisnähe generell in der Kritik [7].

Zudem ist eine Aufgabe der MO, die Anforderungen der 10. Dimension „kontinuierliche professionelle Weiterentwicklung“ ihrer Mitglieder zu gewährleisten. Kompetenz ist der Beginn der Mitgliedschaft in einer MO, Expertise das Ziel.

Qualitätskontrolle durch unabhängige Evaluation

Bei der vorletzten IFOMPT-Konferenz in Kapstadt 2004 haben die MO entschieden, ihre Weiterbildungsprogramme regelmäßig von externen, unabhängigen Sachkundigen beurteilen zu lassen. Dieses National Monitoring (NM) dient als Grundlage der Berichterstattung des Mitgliedslands zum SC. Letzteres überprüft die Anstrengungen der MO in Bezug auf die Einhaltung der bisherigen Ausbildungsrichtlinien und Initiativen zur Weiterentwicklung der Ausbildung mit einem kompetenzbasierten Curriculum. Dieses International Monitoring durch das SC resultiert in einer Rückmeldung mit präzisen Angaben über das, was gut ist (Lob), was besser werden kann (Empfehlungen) bzw. was besser werden muss (Bedingungen).

Weiterbildungsrichtlinien

Die IFOMPT-Richtlinien gliedern eine OMT-Ausbildung in 3 Teile:

  • Das Curriculum sollte mindestens 200 Zeitstunden Theorie, 150 Zeitstunden klinisches Fähigkeits- und Fertigkeitstraining sowie 150 Zeitstunden Patientenbehandlungen unter Supervision (MCP) beinhalten.

  • Zum Erreichen der angestrebten Kompetenzen können jedoch weitere Zeitstunden erforderlich sein.

  • Demnach sollte das Curriculum transparent Wege aufweisen, wie schwächere Studenten gefördert werden können, um die Kompetenzen zu erwerben.

Die Umstellung zum OMT-Weiterbildungsprogramm nach dem SD 2008 einschließlich des externen Evaluationsprozesses stellt generell global für die MO, für die Lehrgangsorganisatoren und auch für die Lehrgangsteilnehmer eine große Herausforderung dar. Es ist zeitaufwendig, kostenintensiv, erfordert Umdenken und möglicherweise auch das Aufgeben eingebürgerter Gewohnheiten bzw. bequemer Pfade, aber letztendlich dient es der Entwicklung des Berufs und der klinischen Forschung zum Vorteil der Patienten. Der Paradigmenwechsel ist von den MO einstimmig beschlossen.

Deutsches Zertifikat in Manueller Therapie

In Deutschland ist der Beruf des Physiotherapeuten trotz der Bologna-Vereinbarung von 1999 bislang nicht akademisiert, und Deutschland geht auch bei der Anerkennung von Manueller Therapie eigene Wege. Dies stellt die deutschen Weiterbildungsträger, die über das Zertifikat in Manueller Therapie hinaus eine IFOMPT-anerkannte OMT-Ausbildung anbieten vor weitere Herausforderungen.

Das deutsche Zertifikat in Manueller Therapie kann nach über mindestens 2 Jahre Weiterbildungszeit verteilten 260 Unterrichtsstunden und nach bestandener abschließender theoretischer und praktischer Prüfung erworben werden und berechtigt zur Abrechnung von Manueller Therapie mit den Kostenträgern [14].

Beim Abgleich der deutschen Zertifikatsweiterbildung in Manueller Therapie mit den IFOMPT-Richtlinien ist vieles nicht kompatibel bzw. vorgesehen. So fehlen z. B. (fast) vollständig die Dimensionen 1, 9 und 10 (evidenzbasierte Praxis, Forschung, kontinuierliche berufliche Weiterbildung) ebenso wie Patientenbehandlungen unter Supervision. In den Lehrplänen der Berufsfachschulen für Physiotherapie ist die kritische Auseinandersetzung mit oft englischsprachigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht festgelegt. Demnach ist eine kritisch evaluative Fähigkeit und Fertigkeit bei Schulabschluss nicht entwickelt, was eine große Herausforderung sowohl für die Teilnehmer als auch die Referenten in der Weiterbildung in Manueller Therapie darstellt. Zu diesem Aspekt wurden dieses Jahr schon mehrfach Beiträge veröffentlicht [2] [3] [13] [15].

Schlussbemerkungen

Änderungen in globalen Bildungs- und Gesundheitssystemen, z. B. durch knapper werdende Ressourcen, waren die Grundlagen für die komplette Neugestaltung des SD 2008 der IFOMPT. Dessen Inkrafttreten kann nun in Deutschland eine Hilfestellung sein, die Physiotherapie zu akademisieren und die Weiterbildung in Manueller Therapie grundlegend zu überdenken und zu erneuern. Das SD 2008 ist eine direkte Vorlage für die Bundesarbeitsgemeinschaft Heilmittelverbände (BHV), den Verband der Ersatzkassen e. V. (VDEK), die Fachlehrerprüfungskommission Manuelle Therapie, die Weiterbildungsträger in Manueller Therapie und die Deutsche Föderative Arbeitsgemeinschaft Manuelle Therapie (DFAMT), um in einer Konferenz einmütig zukunftsträchtige Beschlüsse zur Weiterentwicklung der neuromuskuloskelettalen Physiotherapie in Deutschland zu fassen.

Literatur

  • 1 Allen T, Brailovsky C, Rainsberry P et al. Defining competency-based evaluation objectives in family medicine. Dimensions of competence and priority topics for assessment.  Can Fam Phys. 2011;  57 e331-e340
  • 2 Van den Berg F. Leserbrief zu: Van Minnen J.H. Editorial: Gedanken über die Akademisierung in der Physiotherapie.  manuelletherapie. 2011;  15 94
  • 3 Beyerlein C. Screening-Fähigkeiten. Können Deutsche Physiotherapeuten Red Flags erkennen?.  pt_Zeitschrift für Physiotherapeuten. 2011;  63 74-76
  • 4 Cuttance P. Monitoring educational quality. In: Preedy M, Glatter R, Levacic R, (eds) Educational Management: Strategy, Quality and Resources.. Buckingham: Open University Press; 1997
  • 5 Doherty G D. Developing Quality Systems in Education. London: Routledge; 1994
  • 6 Dreyfus S E, Dreyfus H. A Five-Stage Model of the Mental Activities Involved in Directed Skill Acquisition. Washington: Storming Media; 1980
  • 7 Focus online .Hochschule – Kritik an Bachelor und Master. http://www.focus.de/wissen/campus/universitaet/hochschule-kritik-an-bachelor-und-master_aid_434576.html
  • 8 Frank J R, Snell L S, Cate O T et al. Competency-based medical education: theory to practice.  Med Teach. 2010;  32 638-645
  • 9 Holmboe E S, Sherbino J, Long D M et al. The role of assessment in competency-based medical education.  Med Teach. 2010;  32 676-682
  • 10 International Federation of Orthopaedic Manipulative Physical Therapists (IFOMPT) .Standards Document. IFOMPT; 2008 http://www.ifompt.com/About+IFOMPT/Standards+Document.html
  • 11 Kittredge D, Baldwin C D, Bar-on M et al. One specialty’s collaborative approach to competency-based curriculum development.  Acad Med. 2009;  84 1262-1268
  • 12 LeFebvre R P, Peterson D H, Haas M et al. Training the Evidence-Based Practitioner. University of Western States Document on Standards and Competencies.  J Chiro Educ. 2011;  25 30-37
  • 13 Van Minnen J H. Editorial: Gedanken über die Akademisierung in der Physiotherapie.  manuellertherapie. 2011;  15 49
  • 14 Physio.de .Zulassungserweiterung für besondere Maßnahmen der physikalischen Therapie: 2. Manuelle Therapie. http://www.physio.de/zulassung/mt.htm
  • 15 Von Piekartz H. Leserbrief zu: Van Minnen J.H. Editorial: Gedanken über die Akademisierung in der Physiotherapie.  manuelletherapie. 2011;  15 143-114
  • 16 Pimlott N. Editorial: Competency-based education.  Can Fam Phys. 2011;  57 981
  • 17 Preedy M, Glatter R, Levacic R. Introduction: Managing quality, resources and strategy. In: Preedy M, Glatter R, Levacic R, (eds) Educational Management: Strategy, Quality and Resources.. Buckingham: Open University Press; 1997
  • 18 Raven J, Stephenson J (eds.). Competency in the Learning Society. New York: Lang; 2001
  • 19 Van Roermund T CM, Tromp F, Scherpbier A JJA et al. Teachers’ ideas versus experts’ descriptions of “the good teacher” in postgraduate medical education: implications for implementation. A qualitive study.  BMC Med Educ. 2011;  11 1-8
  • 20 Ross S, Poth C N, Donoff M et al. Competency-based achievement system using formative feedback to teach and assess family medicine residents’ skills.  Can Fam Phys. 2011;  57 e323-e330
  • 21 Sottas B. Abschlusskompetenzen für alle Gesundheitsberufe: das schweizerische Rahmenwerk und seine Konzeption.  Humanmedizin. 2011;  28 1-12
  • 22 Stuart N. Quality in education. In: Ribbins P, Burridge E, (eds). Improving Education: Promoting Quality in Schools.. London: Cassell; 1995
  • 23 University of Toronto – Medicine .CanMEDS. 2006 http://www.deptmedicine.utoronto.ca/CanMEDS.htm

John Langendoen

MSc, Mitglied IFOMPT Standard Committee

Email: langendoen@t-online.de

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