Zeitschrift für Palliativmedizin 2011; 12(3): 102-104
DOI: 10.1055/s-0031-1274669
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Persönliche Nachgedanken zur öffentlichen Podiumsdiskussion im Schauspielhaus zu Dresden am 9. September 2010 – „Autonomie am Lebensende – bis in den Tod?“

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Publication Date:
17 May 2011 (online)

 

Die Podiumsdiskussion zum Thema der „Autonomie am Lebensende – bis in den Tod“ im Schauspielhaus im Rahmen des Kongresses der DGP in Dresden am 9. September 2010 habe ich als Zuhörer mit großem Interesse und innerer Bewegung verfolgt. Sie hat mir geholfen, meinen eigenen Standpunkt zu festigen, und mich noch mehr als bisher für die weitreichende Bedeutung der Debatte um den ärztlich assistierten Suizid sensibilisiert. So drängt es mich, an dieser Stelle einige persönliche Nachgedanken zu dieser Podiumsdiskussion zu Papier zu bringen.

Die Diskussion im Dresdner Schauspielhaus fokussierte sehr rasch auf einen besonderen Aspekt der Autonomie am Lebensende – nämlich die Frage, ob der Respekt vor der Patientenautonomie auch implizieren kann, dem Wunsch des Patienten, sein Leben mit Hilfe des Arztes zu beenden, Folge zu leisten.

Prof. Jan Beckmann (Hagen) nahm zu dieser Frage aus philosophischer Sicht Stellung [1]. Das Fazit seiner Überlegungen: es gibt zwar kein Recht auf Suizidassistenz, aber doch sehr wohl eine ethische Rechtfertigungsmöglichkeit der Suizidbeihilfe durch den Arzt, unter der Voraussetzung zweifelsfreier Freiwilligkeit, Unerträglichkeit bzw. Unbeherrschbarkeit des Leidens, völliger Alternativlosigkeit anderweitiger Hilfe sowie Freiwilligkeit des um Hilfe Gebetenen. Die ärztliche Garantenpflicht stehe dem nur vordergründig entgegen; in Wirklichkeit stelle diese bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen den ethischen Legitimationsgrund zum Beistand bei der freiwilligen Selbsttötung des dem Arzt anvertrauten und ihm vertrauenden Patienten dar. Dr. Michael de Ridder (Berlin) bekräftigte diesen Standpunkt aus ärztlicher Sicht. Eindrücklich wiederholte er seine bereits in einem ZEIT- Artikel (Nr. 30, 22. Juli 2010) formulierte These, dass das Bemühen um bestmögliche palliative Versorgung die Möglichkeit der ärztlichen Beihilfe zum Suizid nicht von vornherein ausschließe. Vielmehr hätten Patienten, deren Leiden auch durch die Palliativmedizin nicht ausreichend zu lindern sei, ein zumindest moralisches Anrecht auf angemessene Hilfe. Als Arzt einen freiwilligen Suizid in aussichtsloser Situation am Ende des Lebens zu ermöglichen sei deshalb nicht unethisch, sondern vielmehr Ausdruck äußerster empathischer Zuwendung zum Patienten. Dammbruchargumente seien demgegenüber auf der Basis der Erfahrungen beispielsweise des amerikanischen Bundesstaates Oregon, in welchem der ärztlich assistierte Suizid seit 1998 zugelassen ist, nicht tragfähig.

In meinen Nachgedanken geht es mir nicht um eine umfassende Darstellung der bekannten Gegenargumente, wie sie bei der Podiumsdiskussion von Prof. Dr. Friedemann Nauck (Göttingen) und dem evangelischen Landesbischof Jochen Bohl (Dresden) bereits treffend dargelegt wurden. Was mich damals erschütterte und noch heute bewegt, ist der Widerspruch zwischen der sehr differenzierten Position von Herrn Prof. Beckmann und Herrn Dr. de Ridder auf der einen Seite und der Position des dritten Befürworters des ärztlich assistierten Suizids auf dem Podium, des Schweizer Schriftstellers Nicola Bardola, auf der anderen Seite. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Tür zum ärztlich assistierten Suizid nicht geöffnet werden darf – hier saß er personifiziert auf dem Podium!

Die Position von Herrn Bardola wurde gleich in seinem Eingangsstatement deutlich, das er mit dem Vortrag eines Briefes von Frau Barbara Scheel, der zweiten Ehefrau des seinerzeitigen Bundespräsidenten, an Bundeskanzlerin Angela Merkel abschloss – besser, so sagte er, könne er es selbst nicht ausdrücken.

In diesem Brief (nachzulesen im Exit-Info 3 / 2008) [2] wird freilich deutlich, worum es vielen Befürwortern wie Herrn Bardola oder Frau Scheel im Kern geht: nämlich darum, dass jede staatliche Bevormundung in dieser so persönlich erscheinenden Angelegenheit als unzulässiger Paternalismus abgelehnt wird. Jede Form der Sterbehilfe, so fordert Frau Scheel, müsse erlaubt sein; der Staat dürfe seine Mitbürger nicht zwingen, gegen ihren Willen weiterzuleben, weder nach langem Leiden noch am Ende des Lebens. Dass es tatsächlich nicht nur um das schwerste körperliche Leiden geht, sondern auch um den Freitod des alten „lebenssatten“ Menschen, der nicht auf fremde Hilfe angewiesen sein möchte, brachte Herr Bardola in seinen folgenden Diskussionsbeiträgen offen und freimütig zum Ausdruck [3]. Ich empfand es als bezeichnend, dass er mehrfach betonte, wie unbedeutend die Rolle des Arztes beim ärztlich assistierten Suizid sei – er müsse ja nur das Rezept ausstellen. Das ist offenbar kein Arzt wie ein Dr. de Ridder, der viele Stunden mit der verzweifelten querschnittgelähmten Forscherin zubringt, um herauszufinden, ob denn der ärztliche assistierte Suizid wirklich gerechtfertigt ist, und ob es nicht vielleicht doch einen anderen Weg, eine neue Perspektive geben könnte! [4] Ich habe es leider selbst erlebt, dass eine 82-jährige Dame von einem Schweizer Arzt problemlos das Thiopentalrezept erhielt und in einer Züricher Wohnung in den Suizid begleitet wurde – sie war bis auf altersgemäße degenerative Wirbelsäulenveränderungen bei guter Gesundheit, kein Krebsleiden, keine andere chronische Erkrankung: aber der Gedanke, irgendwann ein Pflegefall zu werden, war für sie unerträglich. Wo ist da der Unterschied zur Praxis von Roger Kusch, die von Dr. de Ridder so scharf kritisiert wurde? Wohin führt es uns, wenn wir die Tür zum ärztlich assistierten Suizid – vielleicht mit den besten Absichten! – öffnen? Was gibt uns die Sicherheit, dass nicht genau dasselbe in Deutschland passieren wird? Wie nachhaltig ist das Plädoyer, durchaus nicht auf eine Grenzziehung zu verzichten, sondern diese Grenze vor die aktive Sterbehilfe zu verschieben, und als Kriterium einzig und allein das schwerste körperliche Leiden zu definieren? Und schließlich: Wie beruhigend können die von Herrn Dr. de Ridder zitierten Erfahrungen im amerikanischen Oregon, wo der ärztlich assistierte Suizid erlaubt ist, tatsächlich sein? Immerhin hat sich die Zahl der gemeldeten ärztlich assistierten Suizidfälle von 1998 bis 2009 vervierfacht; absolute Zahlen von 15 Todesfällen im Jahr 1998 und 59 Todesfällen im Jahr 2009 mögen auf den ersten Blick niedrig erscheinen, übertragen auf die deutsche Bevölkerungszahl entsprächen diese Zahlen jedoch immerhin einer Steigerungsrate von 330 auf 1300 Menschen, die im Jahr 2009 durch ärztliche Hilfe Suizid begangen hätten!

Der katholische Kirchenheilige Thomas Morus hat in seiner im Jahr 1516 erschienenen „Utopia“ in einer idealen Gesellschaft sogar die aktive Sterbehilfe als möglich angesehen – aber ist diese ideale Gesellschaft, in der es nur Ärzte wie Herrn Dr. de Ridder und Philosophen wie Herrn Prof. Beckmann gibt, denn auch nur ansatzweise in Sicht? Das vor einem Jahr erschienene aufrüttelnde Buch von Dr. de Ridder („Wie wollen wir sterben?“) handelt doch von der ersten bis zur letzten Seite genau davon, wie wenig ideal diese Gesellschaft ist! Und beim ärztlich assistierten Suizid soll das nun plötzlich alles anders sein?

Wie viele sind am Ende ihres Lebens wirklich in der Lage, eine solche Entscheidung in der notwendigen Freiwilligkeit zu treffen? Meine Erfahrung als Palliativmediziner: die Allerwenigsten. Fast alle verzweifelten um Sterbehilfe bittenden Menschen, die ich kennengelernt habe, blühten auf unter einer Fürsorge und Liebe, die zugleich respektvoll und wertschätzend war. Aber es war eine unerwartete, eine nicht erhoffte Fürsorge und Liebe, weil es das Wissen und die Vorstellungskraft der meisten Mitbürger übersteigt, dass ambulante oder stationäre Palliativ- und Hospizeinrichtungen etwas anderes als Sterbeeinrichtungen sind, dass physische Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit und Autonomie nebeneinander bestehen können! Und warum übersteigt es die Vorstellungskraft? Weil man es sich eben nicht vorstellen, sondern nur selbst erfahren kann.

Was aber ist mit jenen wenigen, die tatsächlich in Freiwilligkeit bei schwerstem körperlichen Leiden aus dem Leben scheiden möchten, bei denen eine palliative Sedierung entweder nicht indiziert oder nicht gewünscht ist, und bei denen ein Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen nicht zum Tod führen würde?

Sehr deutlich wurde in der Diskussion betont, dass wir einen Patienten, der uns im Vollbesitz seiner Kräfte von unserer Garantenpflicht befreit hat, in seinem Sterben begleiten können, auch wenn dieses Sterben durch eine suizidale Handlung hervorgerufen wird. Daher ist in diesen Fällen der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, wie er seit alters her bekannt ist und jedem Menschen offen steht, aus meiner Sicht (angesichts der Gefahren und Unwägbarkeiten aller anderen Optionen) eine wenn auch nicht einfache, so doch gangbare Option, die wir ärztlich begleiten und auch erleichtern können – ohne dass deswegen die ärztliche Berufsordnung oder gar das Gesetzbuch geändert werden muss [5]!

Arbeiten wir deshalb doch mit ganzer Kraft daran, dass die Missstände, wie sie Herr Dr. de Ridder in seinem Buch so eindrucksvoll geschildert hat, abgestellt werden – und leisten wir nicht unbeabsichtigt denjenigen Vorschub, für die der ärztlich assistierte Suizid bei strengster Indikationsstellung nur der erste Schritt in eine Gesellschaft ist, die wir uns nicht wünschen können.

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