manuelletherapie 2011; 15(2): 49
DOI: 10.1055/s-0031-1273374
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gedanken über die Akademisierung in der Physiotherapie

J. H. van Minnen1
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Publication Date:
20 May 2011 (online)

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

beim Lesen des Inhalts dieser Ausgabe mit ihren sehr interessanten Beiträgen gingen mir wieder Gedanken durch den Kopf, die ich auch schon mit Fachkollegen diskutierte. Es finden sich 2 Fallstudien, 2 Literaturstudien und eine Originalarbeit. Die Artikel wurden von engagierten Physiotherapeuten mit einer Spezialausbildung in Manueller Therapie als Abschluss ihrer Ausbildung verfasst. Hier geht es unter anderem um Abschlüsse des Master of Advanced Studies (MAS), Diploms in Orthopädischer Manueller Therapie (OMT) und Zwischenqualifikation für eine Lehrerausbildung der International Maitland Teachers Association (IMTA).

Alle Arbeiten behandeln vor allem klinische Aspekte mit praktischer Relevanz für die tägliche Arbeit am Patienten. Für unsere Berufsgruppe ist es sehr wichtig zu zeigen, welche Studien auf welchem inhaltlichen Niveau durchgeführt werden und diese dann auch zu publizieren. Dies verleiht uns mehr Anerkennung anderer Berufe wie Ärzte und Bewegungswissenschaftler. Daher sehe ich in der Akademisierung unseres Berufes positive Aspekte. Sie verschafft uns Zugang zu Fachhochschulen und Universitäten und zum Austausch von Wissen und verleiht uns Respekt als selbstständige Berufsgruppe.

Klinische Studien helfen, mehr Evidenz in die Patientenbehandlung einfließen zu lassen. Dies verleiht uns ebenfalls mehr Anerkennung, in diesem Fall sicher auch vonseiten der Kostenträger. Dank der akademischen Bachelor-, MAS- und MSc-Abschlüsse sind wir auf dem richtigen Weg.

Jetzt spricht die andere Seele in meiner Brust. Ich frage mich, wer in Zukunft unsere Patienten fachgerecht, evidenzbasiert und mit ausgezeichneten klinischen Fähigkeiten behandelt. Wer beobachtet die Qualität der aktiven Bewegungen in der HWS, wer ist in der Lage, die in den Studien beschriebene Muskellänge festzustellen, wer palpiert am Patienten den Unterschied zwischen einem hypomobilen, hypermobilen oder instabilen Gelenk? Mit anderen Worten, wie kommen wir zu unseren von den Patienten so geschätzten manuellen Fähigkeiten? Ist dies Schwarzmalerei und Pessimismus meinerseits?

In der Juli-Ausgabe 2009 der holländischen Zeitschrift Fysiopraxis beklagten sich die Weiterbildungsträger über die Verschlechterung der manuellen Fähigkeiten bei den diplomierten Physiotherapeuten während der letzten Jahre. Das Einstiegsniveau entspreche immer weniger den von den Weiterbildungsträgern gestellten Anforderungen. Die Physiotherapeuten könnten nun zwar besser als früher Studien lesen und interpretieren, aber darunter „litten” offensichtlich die manuellen Fähigkeiten. Meine Beobachtungen als Lehrer für Manuelle Therapie ergeben etwa das gleiche Bild. Meines Erachtens ist das Niveau nicht gesunken, aber trotz Bachelor-Abschluss auch nicht gestiegen.

Wie könnte nun die Zukunft aussehen?

Nehmen wir als Beispiel den Physiotherapiestudenten Martin, der seine Physiotherapieausbildung sehr gut beendete und sich nun überlegt, wie es weitergehen soll. Er entscheidet sich, direkt weiter zu studieren, um den Master of Science zu absolvieren. Dieser verleiht ihm Anerkennung und verschiedene Berufsmöglichkeiten, wie z. B. das Unterrichten. Aufgrund seiner speditiven Arbeitsweise, schließt er sein Studium nach 6 Jahren mit dem Master of Science in Physiotherapie ab.

Im Flyer der Berner Fachhochschule und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften lese ich, dass sich der MScPT in folgende Kompetenzbereiche gliedert: medizinisch-physiotherapeutische Grundlagen, klinisch-physiotherapeutische Entwicklung, Forschungsmethoden, wissenschaftliche Praktika und Masterarbeit. Diese sehr guten Inhalte führen zu vielen Kompetenzen, außer vielleicht manuellen Fähigkeiten. Dies ist die logische Konsequenz einer MSc-Ausbildung.

Martin verfügt nun über einen Titel, viel Wissenschaft- und Forschungswissen, hat aber noch keinerlei Berufspraxis und damit fast keine manuellen Fähigkeiten. Wir brauchen selbstverständlich Physiotherapeuten wie Martin, für mich stellt sich nur die Frage, in welchem Ausmaß. Für die Behandlung am Patienten steht doch in vielen Physiotherapiebereichen das manuelle Handling im Vordergrund, und dies darf auch nicht verloren gehen.

Wie erlangt aber ein frisch diplomierter Physiotherapeut diese Fähigkeiten? Hierzu möchte ich 2 „positive” Entwicklungen erwähnen: (1) In der Schweiz bietet Physioswiss eine Ausbildung zum „klinischen Spezialisten” an. Der Titel kann unter anderem auf dem Weiterbildungsweg und mit klinischen Supervisionen sowie nachweisbarer klinischer Praxis erworben werden. (2) In Deutschland ist die Absolventenzahl der sehr klinisch gestalteten OMT-Ausbildung in den letzten Jahren stark angestiegen.

Dies stimmt mich positiv. Die Physiotherapie braucht die Akademisierung. Die Frage ist nur, bis zu welchem Grad, und dies ist sicher nicht das Maß aller Dinge. Ich möchte auf keinen Fall, dass das Handwerkliche der Physiotherapie in Zukunft untergeht.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen der interessanten Artikel!

Jan Herman van Minnen

Email: vanminnen@besonet.ch

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