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DOI: 10.1055/s-0030-1270776
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Buchbesprechung. Geschlechtersensible Hospiz- und Palliativkultur in der Altenhilfe
Publication History
Publication Date:
27 January 2011 (online)
Elisabeth Reitlinger, Sigrid Beyer (Hrsg.)
2010, 331 Seiten, 29,90 €, Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main ISBN 978-3-940-52968-8
Wir in der Altenpflege und in der sozialen Seniorenarbeit Tätigen wissen es schon längst: DIE Altenpflege ist weiblich – aber nicht besonders (Wir Männer treten als berufliche Akteure und betreuende Angehörige immer stärker in den Vordergrund). Insofern (Scherz!) ist es begrüßenswert, dass der Mabuse-Verlag, die Herausgeber und die profilierten Autoren Geschlechterfragen in den Betreuungs- und Pflegebeziehungen am Lebensende thematisieren. Mehr noch: Verlag und Herausgeber versprechen neue Sichtweisen. Bei der Vielzahl an Publikationen zu dieser Problematik ein großer Anspruch. Wurde dieser eingelöst? Die Publikation beruht auf der Tagung „Gender Care“ der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Universität Klagenfurt. Die ab und an auftretende akademische Kopflastigkeit in den Beiträgen ist diesem Anlass wohl geschuldet – und verzeihlich. Die meisten theoretischen Positionen und besonders die Erfahrungsberichte sind informativ, sind je nach wissenschaftlichem Standort und / oder beruflicher Verortung für die Leserschaft mehr oder weniger leicht zugänglich. Daraus durchgängig neue Erkenntnisse zu suggerieren, wie es die Herausgeber ankündigen, werden Kenner der Materie nach dieser Lektüre sicher bestreiten. Einige Beiträge haben eher vertiefenden, teils orientierenden und in das jeweilige Arbeitsfeld oder in die jeweilige Lebenswelt einführenden Charakter. Es stellt sich die Frage, ob da nicht weniger mehr gewesen wäre. Die Struktur der Publikation ist nach Kapiteln wie folgt gegliedert:
Ethische Grundlagen, Care, Körper, Spiritualität, Berührung; Professionelle Blicke aus und auf unterschiedliche Versorgungskontexte (n); Forscherperspektiven in der Verschränkung aus Betroffenheit und Strukturen sowie Diversity und Organisation.
So wie die Fachinhalte konturiert sind, ist es nicht verwunderlich, dass Beiträge aus diskursanalytischer, anthropologischer, professions- und organisationssoziologischer Perspektive dominieren. Die Herausgeber sprechen in ihrem Bemühen, eine Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen zu wollen, alle nur möglichen Adressaten, Rahmenbedingungen und Facetten der Hospiz- und Palliativpflege an. Mitarbeiter in den Leitungsetagen und in der Projektarbeit dürften sie so erreichen, theoretisch Interessierte ohnehin, Pflegende und Freiwillige an der Basis kaum. Merklich unterbelichtet bleibt – und das ist mein Kritikpunkt – die Darstellung des konkreten bürgerschaftlichen Engagements in der Hospizarbeit (das andernorts eher überstrapaziert wird). Gerade in der Hospizarbeit erleben wir jedoch Freiwillige in verschiedenen Lebensphasen und unterschiedlichen Geschlechts, die ihre ganz eigene Expertise entwickelt haben, zum Teil über Handlungskompetenzen verfügen, die für einen Teil der Pflegenden eher schwer zu erwerben sind. Und: Welche Handlungsmotive bewegen Hospizhelfer, welche mitunter ambivalenten Wirkungen hat deren Fürsorgehandeln für die Entwicklung der Institution? In diesem Kontext bleiben viele Fragen offen (auch, wenn mehrfach auf Forschungsdefizite verwiesen wird).
Von Gewinn dürften für den Leser die aus der Praxis bzw. an der Praxis orientierten Beiträge sein. Gertrud M. Backes und Martina Wolfinger diskutieren aus kritisch-gerontologischer Sicht den Stellenwert und die Perspektiven einer gender-körpersensiblen Altenpflege, wobei sie die tradierten und reproduzierten gesellschaftlichen Hierarchien, Macht- und Ungleichheitsstrukturen als Hindernis für eine ganzheitliche Altenpflege bewerten. Konzis und im anregenden Stil erfahren wir von Erich Lehner aus psychoanalytischen Blickwinkel mehr über die unterschiedliche Intensität im Erleben von Schmerz und Depression bei Frauen und Männern. Unter: „Gib mir den Mantel, den ganzen!“ beschreibt die Hausärztin Ingrid Windisch palliativmedizinische Aspekte und die häuslich-ambulante Problemlage. Die Spannung zwischen ethischen Normativen und ökonomischem Druck, die Pflegende in der Kommunikation mit vorwiegend alten Menschen zu reflektieren und auszubalancieren haben, steht dabei im Fokus ihrer Betrachtung. Zu den ganz „starken Seiten“ gehören des weiteren die Beiträge von Rebekka Hofmann („Der berührte Mensch“) über Körperwahrnehmung und zu erschließende Berührungspotenziale in der Pflege alter und sterbender Menschen und von Manfred Langehennig die Würdigung des geschlechtsspezifischen Betreuungsbeitrags pflegender Männer. In diesem Zusammenhang wird das weitläufige Vorurteil von der angeblichen Verweigerung des männlichen Geschlechts, sich in „nichtmännliche Domänen“ zu begeben, ad absurdum geführt.
Alles in allem erfüllt sich die Absicht der Herausgeber, einen grundlegenden Zugang zu einer geschlechtersensiblen Hospiz- und Palliativkultur zu öffnen. Auch, wenn mir der Bogen der Arbeit zu weit gespannt scheint und an einigen Stellen als bekannt vorausgesetzt werden darf, wünsche ich der Publikation aufmerksame und sensible Leserinnen und Leser – und einigen Autoren eine leichtere Hand beim Abfassen ihrer für unsere Praxis so wichtigen und ermutigenden Texte.
Literatur
- 1 Reitlinger Elisabeth, Beyer Sigrid (Hrsg.). Geschlechtersensible Hospiz- und Palliativkultur in der Altenhilfe.. 2010. 331 Seiten, 29,90 € Mabuse-Verlag; Frankfurt am Main; ISBN: 978-3-940-52968-8
Dr. phil. Thomas Weinhart, Fachreferent Sozialarbeit
Volkssolidariät Dresden e. V.
Dresden