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DOI: 10.1055/s-0030-1270767
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Ethische Fallbesprechung. Therapiebegrenzung bei hypoxischem Hirnschaden
Publication History
Publication Date:
27 January 2011 (online)
Fallbeschreibung
Eine 65-jährige Patientin ohne relevante Vorerkrankungen wurde durch den kassenärztlichen Notdienst aufgrund von Husten und Luftnot bei Verdacht auf obere Atemwegsinfektion antibiotisch behandelt. Zwei Tage später kam es jedoch zu einer maximalen Reduktion des Allgemeinzustandes, zuletzt mit Herz-Kreislauf-Stillstand und notärztlicher Reanimation in der Wohnung der Patientin. Im erstaufnehmenden Krankenhaus musste die Diagnose einer schweren Hypoxie bei Pneumonie und Schocklunge (sog. ARDS) gestellt werden; daraufhin erfolgte die Weiterverlegung in das zuständige Klinikum der Maximalversorgung, wo unter erheblichen Schwierigkeiten und erneuter Reanimationspflichtigkeit eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) durchgeführt wurde. Unter maximalen intensivmedizinischen Bemühungen (ECMO, Katecholamine, Kombinationsantibiose, pernasale Magensonde, Einsetzen des Ehemannes als amtsgerichtlich bestellter Betreuer, Tracheostomie an Tag 11, usw.) kam es zu einer stetigen und zuletzt vollständigen Rekonstitution der Lungenentzündung und zu einer Stabilisierung der Kreislaufsituation; weitere medikamentöse Maßnahmen waren nicht mehr erforderlich. Nach Beendigung der invasiven Beatmungstherapie erlangte die Patientin jedoch nicht ihr Bewusstsein; in der zerebralen Bildgebung und anhand weiterer prognostischer laborchemischer (NSE) und elektrophysiologischer Marker (SEP) und anhand der langfristigen Hypoxiezeit wurde neurologischerseits die Diagnose eines schweren hypoxischen Hirnschadens mit „ungünstiger Prognose“ gestellt.
Die Familie der Patientin, vertreten insbesondere durch den Ehemann als Betreuer, nahm den Vorschlag der betreuenden Intensivärzte, eine PEG-Sondenanlage und neurologische Frührehabilitation anzubahnen und eine definitive, z. B. stationäre pflegerische Versorgung zu organisieren, nicht an, sondern forderte stattdessen die unverzügliche Entfernung des letzten Zugangs, der pernasalen Magensonde, da diese Maßnahme mit dem mutmaßlichen Willen der Patientin nicht vereinbar sei. Aufgrund dieser inhaltlichen Differenzen als auch aufgrund kommunikativer Verwerfungen und des stabilisierten Zustandes der Patientin erfolgte die Verlegung der Patientin auf die Palliativstation an Tag 24 zur Klärung des weiteren Procedere.
Zum Übernahmezeitpunkt war die Patientin atem- und kreislaufstabil, mit minimaler motorischer Reaktion (ungerichtete Bewegungen) auf Ansprache, Berührung und Musik, ohne Kommunikationsmöglichkeit, ohne erforderliche Medikation, lediglich mit einer pernasalen Nasensonde versehen, über die kontinuierlich moderate Mengen Flüssigkeit und kalorische Ernährung appliziert wurden.
Auf der Palliativstation wiederholte die Familie eindrücklich die Forderung des Entfernens der Nasensonde, und begründete dies mit dem mutmaßlichen Willen der (nicht sterbenskranken) Patientin, die den aktuell erreichten Zustand nicht für sich gewollt hätte, unabhängig davon, ob es ein gewisses Rehabilitationspotential gibt oder nicht. Kompromissvorschläge des Palliativstationsteams in Richtung eines zeitlich begrenzten Rehabilitationsversuches wurden zurückgewiesen. Es wurde auf die Erfahrungen der Patientin als Pflegekraft und vor allem auf eine aktuelle, unterschriebene Patientenverfügung hingewiesen. In dieser frei formulierten Vorausverfügung, ergänzt durch eine Vorsorgevollmacht an den Ehemann, war folgender Wortlaut gewählt worden:
„Für den Fall, dass ich mich in einem unaufhaltsamen Sterbeprozess befinde, möchte ich hierüber sofort voll aufgeklärt werden. Sollte ich zu diesem Zeitpunkt außerstande sein, meinen Willen zu äußern, so verfüge ich im Voraus folgendes: Bei schwerer Krankheit, schwerem Unfall, schwerem Gebrechen oder Siechtum ermächtige ich die mich behandelnden Mediziner, keine lebensverlängernden Maßnahmen durchzuführen.“
Kommen Sie dem Wunsch der Familie nach und entfernen Sie die Magensonde?
Die Patientenverfügung wurde seitens des Palliativstationsteams als nicht hinreichend legitimierend für ein sofortiges Beenden jeglicher Therapiemaßnahmen interpretiert. Das Palliativstationsteam konnte trotz intensiver und als konstruktiv empfundener Gespräche keine inhaltliche Annäherung der konträren Standpunkte erzielen (einerseits Versuch einer Frührehabilitation, andererseits die sofortige Beendigung jeglicher Therapiemaßnahmen). Es konnte sich darauf verständigt werden, unter Fortsetzung der aktuellen Versorgung abzuwarten, bis der Hausarzt, der die Einschätzung der Familie stützen sollte, aus dem Urlaub zurück sei. In der Zwischenzeit wurde jedoch auch das Amtsgericht über den stattfindenden Dissens zwischen Behandlerteam und Betreuer informiert.
Zwei Tage später kam es zu einer septischen Infektion und zu einer sehr raschen krisenhaften Reduktion des Allgemeinzustandes. Eine Intensivbehandlung wurde in enger Abstimmung mit der Familie nicht eingeleitet; die Patientin verstarb wenig später auf der Palliativstation an dieser Komplikation. Das Amtsgerichtsverfahren wurde daraufhin vor einer juristischen Entscheidung eingestellt und hatte noch nach dem Tode der Patientin zu erheblichen Verwerfungen zwischen dem Palliativteam und der Familie geführt. Der Hausarzt wurde nach seiner Rückkehr telefonisch informiert; eine Haltung oder Willensbekundung der Patientin in Richtung Therapiebegrenzung konnte seinerseits jedoch nicht bestätigt werden.
Dr. Bernd Alt-Epping,
Abteilung Palliativmedizin,
Universitätsmedizin Göttingen