ergopraxis 2010; 3(10): 14
DOI: 10.1055/s-0030-1267451
wissenschaft

Wissenschaft erklärt: Leitlinien – Die S-Klasse

Jan Mehrholz
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Publication Date:
01 October 2010 (online)

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Leitlinien sind praktisch. Sie machen Vorschläge, aber keine Vorschriften. Therapeuten bieten sie Orientierung am aktuellen Stand der Forschung und eine Entscheidungshilfe, welche Klienten sie wie behandeln können.

Weltweit gibt es zu verschiedenen medizinischen Diagnosen bestimmte Leitlinien. Gibt man „Leitlinie” beziehungsweise die englische Übersetzung „guideline” mit einem Krankheitsbild gemeinsam in eine Internet-Suchmaschine ein, erzielt man oft mehrere Treffer. Interessierten stehen Leitlinien fast immer kostenfrei zur Verfügung.

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Von Forschern für die Praxis erstellt

Durch Leitlinien können Ärzte, Therapeuten und Klienten herausfinden, welche Maßnahmen in der Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge bestimmter Beschwerdebilder angemessen sind. Das sind von Forschern systematisch entwickelte Darstellungen und Empfehlungen. Je nach Krankheitsbild können Leitlinien zum Beispiel Empfehlungen für Wirkstoffe und Dosierungen enthalten sowie für therapeutische Maßnahmen und Hilfsmittel. In Leitlinien geben Forscher den zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aktuellen Wissensstand wieder. Selbstverständlich kommt es durch den ständigen wissenschaftlichen Fortschritt und die permanent zunehmende Zahl an Publikationen stetig zu neuen Erkenntnissen. Daher ist es wichtig, dass Leitlinien aktualisiert werden, sobald sich das Wissen dazu verändert hat.

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Eine Empfehlung, kein Befehl

Der Sinn von Leitlinien ist nicht, dass sich Therapeuten und Ärzte immer zu 100 Prozent daran halten müssen. Stattdessen sollen sie diesen Berufsgruppen eine Orientierungshilfe geben, einen Behandlungskorridor aufzeigen. Die letzte Entscheidung über die Anwendung einer Maßnahme fällt weiterhin der Behandler – unter Berücksichtigung von Klientenpräferenzen, seiner Erfahrung und nicht zuletzt aufgrund seiner technischen Möglichkeiten.

Im Gegensatz dazu gibt es Richtlinien. Das sind Handlungsregeln, welche gesetzliche, berufsrechtliche Vorgaben beschreiben. Wer sie nicht beachtet, dem drohen Sanktionen – im schlimmsten Fall sogar eine Abmahnung.

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Experten recherchieren und diskutieren

Im Idealfall erstellen Wissenschaftler eine sogenannte evidenzbasierte Konsensus-Leitlinie. Sie beschreibt den nach einem definierten und transparent gemachten Vorgehen erzielten Konsens innerhalb einer multidisziplinären Expertengruppe. Die Grundlage dafür ist eine Literatursuche, bei der Experten die derzeit verfügbare wissenschaftliche Evidenz systematisch recherchieren und zusammenfassen. Wenn es keine oder nur wenige qualitativ hochwertige Studien zum gesuchten Thema gibt, ist zur Erstellung einer Leitlinie ebenfalls ein fachlicher Konsens unter den Experten notwendig.

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Höchste Qualitätsstufe: S3

In Deutschland werden Leitlinien meist von Berufsverbänden und Fachgesellschaften entwickelt und verbreitet. Dazu gehören zum Beispiel der Deutsche Verband der Ergotherapeuten (DVE), die Deutsche Rheuma-Liga und die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) (Kasten „Internet”). Die AWMF, die es seit 1962 gibt, ist ein gemeinnütziger Verein und der Dachverband von mehr als 150 deutschen Fachgesellschaften aus allen Gebieten der Medizin. Seit 1995 unterstützt sie die einzelnen Gesellschaften darin, Leitlinien für die Diagnostik und die Therapie unterschiedlicher Krankheitsbilder zu entwickeln.

Internet

Unter www.leitlinien.net > „Aktuelle Leitlinien” > „Neurologie” finden Sie die S3-Leitlinie „Demenzen”, die auch für Ergotherapeuten relevant ist.

Die AWMF definiert drei Entwicklungsstufen von Leitlinien. Die qualitativ hochwertigste ist die S3-Leitlinie. Sie entspricht der evidenzbasierten Konsensus-Leitlinie (Tab.). Die meisten AWMF-Leitlinien haben jedoch die Entwicklungsstufe S1. Prinzipiell ist zwar das Ziel, aus einer S1-Leitlinie heraus eine S3-Leitlinie zu entwickeln, aber der Aufwand und das benötigte Know-how (zum Beispiel für die Evidenzbewertung der systematischen Literatursuche) sind für dieses umfangreiche Verfahren derart immens, dass eine Weiterentwicklung oft daran scheitert.

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Tab. Die drei Entwicklungsstadien: Je höher die Zahl hinter dem S, desto fundierter die Leitlinie.

Fazit: Ergotherapeuten sollten sich an S3-Leitlinien orientieren – sofern sie vorhanden sind. Doch auch Leitlinien mit niedrigerer Entwicklungsstufe können dabei helfen, die geeignete Therapie für Klienten zu finden.

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Tab. Die drei Entwicklungsstadien: Je höher die Zahl hinter dem S, desto fundierter die Leitlinie.