Der Nuklearmediziner 2010; 33(4): 201-202
DOI: 10.1055/s-0030-1267236
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die individualisierte Therapie des Schilddrüsenkarzinoms

Individualized Treatment of Thyroid CarcinomaM. Luster
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Publication Date:
16 December 2010 (online)

Das differenzierte Schilddrüsenkarzinom zeigt weltweit eine steigende Inzidenz, insbesondere aktuelle Daten aus den USA belegen diese Entwicklung. Auch für Deutschland hat das Robert-Koch-Institut in Berlin eine Zunahme dieser Tumorform über die letzten Jahre und Jahrzehnte beobachtet. Der Anstieg ist in erster Linie auf ein vermehrtes Auftreten von prognostisch günstigen, papillären Schilddrüsenkarzinomen in frühen Stadien zurückzuführen, ebenso deutlich ist ein Überwiegen des weiblichen Geschlechts zu verzeichnen. In den USA stellt das differenzierte Schilddrüsenkarzinom bei Frauen unter 40 Jahren die zweithäufigste Tumorentität dar, in Deutschland liegt das Schilddrüsenkarzinom in dieser Altersgruppe auf dem dritten Platz der häufigsten Tumorentitäten. Die vorbeschriebene Konstellation zeigt die Notwendigkeit einer risikoadaptierten, individualisierten Vorgehensweise bei sog. „Niedrig-Risiko-Patienten” und bedingt die kritische Hinterfragung tradierter Behandlungsalgorithmen.

Durchaus erfreuliche Entwicklungen sind auch bei Patienten mit aggressiven, fortgeschrittenen Tumoren zu beobachten; hier ist auf die Fortentwicklung dosimetrischer Konzepte sowie die Einführung von sog. „targeted therapies” hinzuweisen.

Weitere Neuerungen auf diagnostischem Gebiet, in erster Linie ist die Einführung und Etablierung der Hybridbildgebung (z. B. mit 124Iod) zu nennen, erleichtern zudem eine risikoorientierte und bezüglich potenzieller Nebenwirkungen optimierte Therapie.

Die Neufassung von Leitlinien, in jüngerer Vergangenheit sind hier zahlreiche Publikationen erfolgt, trägt zu einer Standardisierung des Patientenmanagements bei. Allerdings wird beim Vergleich der verschiedenen Empfehlungen deutlich, dass eine weltweite Harmonisierung, nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen lokalen Bedingungen bei Prävalenz, Inzidenz und Verfügbarkeit diagnostischer und therapeutischer Verfahren, noch nicht gelingen kann.

Weiterhin fehlen randomisierte, prospektive Studien zur Langzeitprognose des Schilddrüsenkarzinoms; retrospektive Erhebungen an großen Patientenkollektiven haben jedoch in vielerlei Hinsicht zu interessanten neuen Erkenntnissen geführt. Bei diesen Betrachtungen ist eine Auswertung nach dem Endpunkt „Überleben” aufgrund der exzellenten Prognose des Tumors meist nicht sinnvoll, zudem treten bei prognostisch günstigen Verläufen Aspekte der Lebensqualität sowie gesundheitsökonomische Fragen mehr und mehr in den Vordergrund.

Die initiale Diagnostik stellt im Struma-Endemiegebiet Deutschland weiterhin eine Herausforderung dar; aufgrund der hohen Prävalenz von gutartigen knotigen Veränderungen kommt die Detektion maligner Tumoren der sprichwörtlichen „Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen” nahe. Die Kölner Arbeitsgruppe stellt diesbezüglich ein Verfahren vor, dass mittels 99 mTc-MIBI-Szintigrafie zur Unterscheidung von benignen versus malignen Läsionen beitragen kann. Goldstandard bleibt jedoch die Feinnadelpunktion suspekter Läsionen, die in Deutschland im internationalen Vergleich eher selten eingesetzt wird.

Nach initialer Thyreoidektomie erfolgt eine weitgehend standardisierte Ablation mit 131Iod, eine entscheidende Verbesserung dieser Modalität ist durch die Einführung der exogenen TSH-Stimulation mit rekombinantem humanem TSH erfolgt. Die europäische Zulassungsbehörde EMA hat kürzlich einer Indikationserweiterung in Bezug auf lokal fortgeschrittene Tumoren (pT3/4), auch mit regionaler Lymphknotenbeteiligung (N1), zugestimmt. Einzig ausgeschlossen von dieser für den Patienten besser verträglichen Vorgehensweise bleiben Schilddrüsenkarzinome mit bekannter distanter Metastasierung; auch hier sind in naher Zukunft jedoch weitere Ergebnisse hinsichtlich der Verträglichkeit, Sicherheit und der erzielbaren Herddosis zu erwarten. Die zur Ablation eingesetzte Aktivitätsmenge steht ebenfalls in der Diskussion, erste Ergebnisse aus Frankreich und Großbritannien zeigen, dass die Verwendung geringerer Aktivitäten von 131Iod mittelfristig möglich sein wird. Diese Beschränkung spielt auch eine Rolle im Hinblick auf eine potenzielle Schädigung der Speicheldrüsen unter Radioiodgabe; das tradierte Vorgehen mit exogener Speicheldrüsenstimulation (z. B. durch Zitronensaftgabe) wird von der Essener Arbeitsgruppe hinterfragt. Die Bestimmung der organbezogenen Radioiodkinetik und der hieraus resultierenden Dosen für das zu schützende Gewebe (z. B. Knochenmark, Speicheldrüsen) ist durch die Einführung der Bildfusion in SPECT-CT und PET/CT-Technik deutlich erleichtert worden, die entsprechenden Ergebnisse sollten zügig in die Praxis umgesetzt werden.

Eine weitere Herausforderung für die Behandlung von Schilddrüsenkarzinompatienten stellt das Auftreten radioiodrefraktärer Metastasen dar. Multimodale Therapiekonzepte unter Einbeziehung der verschiedenen Fachdisziplinen erscheinen zwingend notwendig. Vor einer evtl. erforderlichen Reoperation ist ein Zwischenstaging mittels Glucose-PET indiziert, erste Ergebnisse z. B. aus Ulm und Halle zeigen den positiven Einfluss der 18F-FDG-PET/CT hinsichtlich einer genaueren Operationsplanung sowie zur Einschätzung von Krankheitsaktivität und Prognose.

Eine konventionelle Chemotherapie stellt im Verlauf der Behandlung einer Schilddrüsenkarzinomerkrankung weiterhin eine Rarität dar, die Ergebnisse dieses Vorgehens sind bei nicht unerheblichem Spektrum an Nebenwirkungen wenig überzeugend. Durch die Einführung neuer molekularer Substanzen, namentlich der Tyrosinkinase-Inhibitoren, haben sich in der Behandlung des fortgeschrittenen Schilddrüsenkarzinoms neue Perspektiven eröffnet, bisherige Publikationen umfassen jedoch eher kleinere Fallzahlen. Daher sollten geeignete Patienten in erster Linie im Rahmen von kontrollierten Studien behandelt werden, der sog. „off-label-use” sollte Einzelfällen vorbehalten bleiben. Die Notwendigkeit von prospektiven Untersuchungen beim differenzierten Schilddrüsenkarzinom stellen auch die Münsteraner Kollegen in ihrem Beitrag heraus; funktionierende Netzwerke sowie die Bereitschaft unserer Patienten zur Teilnahme sind entscheidende Voraussetzungen für das Gelingen solcher Studien und Grundlage für die stetige Verbesserung der Therapie- und Nachsorgekonzepte. Durch die ebenfalls verbesserte Infrastruktur von Patientenselbsthilfeorganisationen wird eine zielgerichtete Information und ggf. gesteigerte Rekrutierung von Studienteilnehmern erleichtert.

Schließlich ist auch in der Behandlung des kindlichen Schilddrüsenkarzinoms eine Zunahme der evidenzbasierten Strategien zu verzeichnen. Die langjährige Behandlung und Nachbeobachtung von jungen Patienten mit differenziertem Schilddrüsenkarzinom in der Folge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erlaubt Rückschlüsse auf die Ätiologie und Langzeitprognose der Tumoren.

Der Würzburger Arbeitsgruppe um Christoph Reiners gebührt der Dank für ihr langfristiges und fortbestehendes Engagement in Kooperation mit den Kollegen in den betroffenen Gebieten vor Ort. Eine Nachverfolgung dieses einzigartigen Patientenkollektivs erscheint aus verschiedenen Gründen zwingend geboten.

Das Management von Patienten mit differenziertem Schilddrüsenkarzinom unterliegt einem stetigen Wandel; die Dynamik der gewonnenen Erkenntnisse und deren Umsetzung in die tägliche Praxis ist beeindruckend. Das gesamte Methodenspektrum bei verschiedenen Krankheitsverläufen wird in modernen Behandlungsalgorithmen neu definiert. Die Auswirkungen dieser Veränderungen werden aufgrund der weiterhin exzellenten Prognose erst in Jahren und Jahrzehnten sichtbar werden.

Dr. Mike Tuttle vom Memorial-Sloan-Kettering-Hospital in New York hat in einer kürzlich erfolgten Publikation eine zeitgemäße Behandlung des Schilddrüsenkarzinoms wie folgt zusammengefasst: „Ziel ist eine Balance unserer gutgemeinten Anstrengungen zwischen aggressiver Intervention und Risikoabschätzung potenzieller Nebenwirkungen. Die initiale Risikostratifizierung sollte durch eine aktive Adaption im Verlauf der Erkrankung ergänzt werden und unsere weiteren Entscheidungen hinsichtlich des Nachsorgeregimes dominieren”. In diesem Sinne danke ich den Autoren für Ihre hervorragenden Beiträge und wünsche dem geneigten Leser eine angenehme und interessante Lektüre.

Das vorliegende Themenheft „Schilddrüsenkarzinome – neue Aspekte in Diagnostik und Therapie ” ist Herrn Professor Dr. Christoph Reiners zum 65. Geburtstag gewidmet.

Correspondence

Prof. Dr. Markus Luster

Klinik und Poliklinik für

Nuklearmedizin

Universitätsklinikum Ulm

Email: Markus.Luster@uniklinik-ulm.de

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