PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(2): 107-112
DOI: 10.1055/s-0030-1266152
Standpunkte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die virtuelle therapeutische Beziehung

Eine Reflexion ihrer Möglichkeiten und GrenzenChristian  Roesler
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Publication Date:
14 June 2011 (online)

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Zusammenfassung

Die Veränderungen, die die therapeutische Beziehung in online-basierter, computervermittelter Kommunikation erfährt, werden auf dem Hintergrund aktueller Kommunikationstheorien sowie von Konzepten der therapeutischen Beziehung diskutiert. Zunächst werden Auswirkungen auf Beziehungen im Allgemeinen dargestellt und der Standpunkt vertreten, dass es sich bei virtuellen Beziehungen um eine neue Beziehungsform mit eigenen Bedingungen handelt, die Phänomene der Identitätsverunsicherung hervorbringt, aber auch Möglichkeitsräume für spielerische Selbsterprobungen und Beziehungsaufnahmen bietet, die bislang jedoch erst wenig untersucht sind. Psychotherapie stellt hohe Anforderungen an die Qualität der Beziehung, denen, wie gezeigt wird, kanalreduzierte Kommunikationsformen wie bspw. E-Mail nur bedingt gerecht werden können. Es wird deshalb dafür plädiert, Online-Psychotherapie nur unter bestimmten Bedingungen, wie z. B. einer vorher bestehenden Face-to-Face-Beziehung, zu propagieren.

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Literatur

1 Die Fähigkeit zu warten hat sich allerdings offensichtlich gerade durch die neuen Medien verändert. Die Gewöhnung an „effiziente Kommunikation” könne auch zur Verweigerung der Auseinandersetzung mit Situationen führen, die sich nicht effizient im Sinne von schnell oder abschließend erledigen lassen, meint Schachtner (2008). Unter dem Schlagwort „Terror des Jetzt” fasst sie die paradoxe Situation, dass gerade ein Medium, das zeitunabhängiges Kommunizieren ermöglicht, ein Diktat der Gegenwart schaffe. Besteht in dem Einsatz neuer Medien in der Psychotherapie die Gefahr, dass Therapeuten unter den Druck dauernder Präsenz und Verfügbarkeit seitens ihrer Klienten geraten, wo doch die meisten Therapierichtungen gerade in dem Warten-Müssen, sich immer wieder ansatzweise selbst behelfen müssen, einen wesentlichen therapeutischen Wirkfaktor für die Entwicklung von Verinnerlichung und damit verbundener zunehmender Autonomie sehen? Wobei durchaus anerkannt wird, dass manche Klienten Brücken und Hilfsmittel für diesen Prozess benötigen, die vielleicht gerade auch in den neuen Telekommunikationsmitteln zu finden sind.

Prof. Dr. Dipl.-Psych. Christian Roesler

Professur für Klinische Psychologie und Arbeit mit Familien
Katholische Hochschule Freiburg
Staatlich anerkannte Hochschule

Karlstraße 63

79104 Freiburg

Email: christian.roesler@kh-freiburg.de