Aktuelle Neurologie 2010; 37(8): 369-371
DOI: 10.1055/s-0030-1265951
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zur Neudefinition der pharmakoresistenten Epilepsie

Comment on the New Definition of Drug Resistant EpilepsyG.  Krämer1
  • 1Schweizerisches Epilepsie-Zentrum Zürich
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Publication Date:
22 November 2010 (online)

Dr. med. Günter Krämer

Seit Einführung der ersten wirksamen Antiepileptika stellt die Pharmakotherapie die Grundlage der Epilepsiebehandlung dar. Die Chance einer Anfallsfreiheit wird in erster Linie durch das Epilepsiesyndrom und dessen Ätiologie sowie durch die Compliance der Patienten bestimmt. Während bei genetischen („idiopathischen”) generalisierten Epilepsien wie z. B. einer juvenilen myoklonischen Epilepsie eine Anfallsfreiheit regelhaft möglich ist, stellt dies bei einer Temporallappenepilepsie – dem häufigsten Epilepsiesyndrom von Erwachsenen – die Ausnahme dar. Bei strukturellen („symptomatischen”) Temporallappenepilepsien (z. B. aufgrund einer Hippokampussklerose) sollte daher die Option einer epilepsiechirurgischen Behandlung mit dem Patienten früh besprochen und in den Therapieplan einbezogen werden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es auch nach Einführung von 14 neuen Antiepileptika in den letzten 2 Jahrzehnten ([Tab. 1]) bislang nicht zu einer erkennbaren Abnahme der Häufigkeit pharmakoresistenter Epilepsien gekommen ist. Vor 130 Jahren gab Gowers in seinem klassischen Epilepsielehrbuch „Epilepsy and other chronic convulsive diseases. Their causes, symptoms and treatment” [1] mit Kaliumbromid als einzigem zur Verfügung stehenden Wirkstoff einen Anteil von 30 % an, und Studien aus den letzten Jahren kommen trotz inzwischen mehr als 20 Alternativen mit 36 % [2], 35,4 % [3] oder sogar 40,8 % [4] zu höheren Werten!

Tab. 1 Jahr der Einführung „älterer” und „neuerer” Antiepileptika in Deutschland. Ältere (8) Neuere (14) 1857 Bromid (BR)1912 Phenobarbital (PB)1938 Phenytoin (PHT)1951 Ethosuximid (ESM)1952 Primidon (PRM)1960 Clobazam (CLB)1962 Carbamazepin (CBZ)1963 Valproinsäure (VPA) 1991 Vigabatrin (VGB)1993 Lamotrigin (LTG)1995 Gabapentin (GBP)1995 Felbamat (FBM)1997 Tiagabin (TGB)1998 Topiramat (TPM)2000 Oxcarbazepin (OXC)2000 Levetiracetam (LEV)2004 Pregabalin (PGB)2005 Zonisamid (ZNS)2007 Rufinamid (RFN)2008 Stiripentol (STP)2008 Lacosamid (LCM)2009 Eslicarbazepin (ESL)

Führt eine antiepileptische Pharmakotherapie nicht zum gewünschten Behandlungserfolg, ist in einem ersten Schritt eine Überprüfung der Diagnose und Klassifikation der Epilepsie bzw. Anfallsform und ihrer Ätiologie erforderlich. Den vielfältigen möglichen Ursachen einer Pharmakoresistenz wie Noncompliance, falsche Klassifikation der Anfälle oder des Epilepsiesyndroms, falsche Auswahl oder Unterdosierung des Antiepileptikums, ungünstige Kombinationstherapien, Anfallsauslöser oder fehlende Erkennung epilepsiechirurgisch behandelbarer symptomatischer Epilepsien muss nachgegangen werden. Auch die nach wie vor weit verbreitete inadäquate Durchführung und Befundung von MRT-Untersuchungen des Gehirns [5] ist zu beachten.

Nach Versagen der Ersttherapie wird i. d. R. zum Umsetzen auf ein zweites Antiepileptikum geraten („alternative” Monotherapie), erst nach auch deren Versagen zu Zweifach- oder anderen Kombinationstherapien [6]. Die Erfolgschance eines Antiepileptikums bei Zugabe im Rahmen einer Add-on- oder Kombinationstherapie hängen u. a. vom Zeitpunkt des Einsatzes ab und nimmt mit der Zahl der Fehlversuche exponenziell ab [7]. Wesentliche Kriterien für die Auswahl eines Antiepileptikums sind neben der Wirksamkeit und Verträglichkeit auch die Handhabbarkeit. Obwohl der Begriff einer „rationalen Polytherapie” seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder gebraucht wurde [8] [9], gibt es bislang dafür keine überzeugenden klinischen Daten aus prospektiven randomisierten Studien mit Nachweis einer verbesserten Wirksamkeit oder Verträglichkeit beispielsweise durch Kombination von 2 Antiepileptika mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen. Dennoch macht es zunehmend Sinn, sich an dem Wirkungsmechanismus zu orientieren und Wirkstoffe mit verschiedenen Angriffspunkten zu kombinieren [10] [11].

Vor diesem Hintergrund ist die kürzlich publizierte und in diesem Heft in deutscher Übersetzung vorgelegte Neudefinition der Pharmakoresistenz einer Epilepsie durch eine ad hoc-Task Force der Internationalen Liga gegen Epilepsie [12] von erheblicher Bedeutung. Mehrere neuere Studien sprechen dafür, dass auch bei scheinbar pharmakoresistenten Patienten durch den Einsatz weiterer, neuerer Antiepileptika noch eine 10–20 %ige Chance besteht, Anfallsfreiheit zu erreichen [7] [13] [14]. Es fehlten allerdings bislang allgemein akzeptierte und operationalisierte Definitionen und Empfehlungen dazu, wann von einer pharmakoresistenten Epilepsie zu sprechen ist und insbesondere auch dazu, wie eine mangelnde Wirksamkeit und Verträglichkeit von Wirkstoffen dokumentiert werden soll. Bislang ist es häufig so, dass einerseits erst relativ spät die Diagnose einer pharmakoresistenten Epilepsie mit entsprechender Notwendigkeit der Therapieüberprüfung in einem Epilepsiezentrum gestellt wird und andererseits bei der Erhebung einer Medikamentenanamnese oft nicht nachvollziehbar ist, worauf die Bewertung eines fehlenden Ansprechens gegenüber den eingesetzten Wirkstoffen beruhte.

Die Neudefinition soll sowohl dazu dienen, die Patientenversorgung zu verbessern als auch klinische Studien zu erleichtern. Sie wird von den Autoren nicht als endgültig, sondern als im Rahmen weiterer prospektiver Studien überprüfungsbedürftig und bei Bedarf anzupassen angesehen. Sofern bei einem Patienten die Kriterien der Neudefinition erfüllt sind, sollte dies Anlass zur Überprüfung der Diagnose und Therapie in einer epileptologischen Schwerpunktpraxis, einer spezialisierten Klinik bzw. einem Epilepsie-Zentrum sein. Darüber hinaus sollen Ärzte und auch Patienten dafür sensibilisiert werden, welche Informationen im Rahmen der Betreuung erfasst werden müssen. Ohne einen vollständigen Datensatz sollte der Behandlungserfolg insgesamt als „unbestimmt” eingestuft werden. Die Anfallskontrolle wird lediglich in anfallsfrei oder Therapieversagen unterteilt. Dies vor dem Hintergrund, dass die Lebensqualität der meisten Anfallspatienten erst bei völliger Anfallsfreiheit deutlich erhöht wird. Die Festlegung der erforderlichen Zeit für die Beurteilung des Behandlungserfolgs orientiert sich an der vorbestehenden Anfallsfrequenz. Für die Einstufung als „anfallsfrei” wird mindestens die 3-fache Zeit des längsten vorher bekannten anfallsfreien Intervalls gefordert (also z. B. 15 Monate, wenn ein Patient zuvor höchstens 5 Monate anfallsfrei war), minimal jedoch ein Jahr. Eine kürzere Anfallsfreiheit führt zur Kategorie „unbestimmt”, bei einem Anfallsrezidiv vor Ablauf von einem Jahr zur Kategorie „Therapieversagen”.

Bei der Definition einer pharmakoresistenten Epilepsie muss berücksichtigt werden, dass dieser (fehlende) Behandlungserfolg nicht statisch ist, sondern sich ebenso wie eine Anfallsfreiheit im Lauf der Zeit verändern kann. Als minimal zu fordernde Zahl von angemessenen und adäquat eingesetzten Antiepileptika werden 2 vorgeschlagen, entsprechend lautet die vorgeschlagene Definition einer pharmakoresistenten Epilepsie „Versagen der adäquaten Anwendungen von 2 tolerierten und angemessen dosierten Antiepileptika (sei es als Mono- oder Kombinationstherapie) zur Erreichung einer dauerhaften Anfallsfreiheit”. Eine konsequente Anwendung der neuen Definition in der klinischen Praxis könnte neben einer begrüßenswerten Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs und der Erfassung klinisch relevanter Daten dazu führen, dass pharmakoresistente Patienten früher als bisher Spezialisten zur fachepileptologischen Evaluation vorgestellt werden. Dies sowohl zur Überprüfung weiterer medikamentöser Behandlungsoptionen mit neuen Wirkstoffen, deren Einsatz Nichtspezialisten oft schon aufgrund mangelnder Erfahrung scheuen, als auch zur Überprüfung der Möglichkeiten einer epilepsiechirurgischen Intervention.

Um die Anwendung der Neudefinition zu erleichtern, wurde das nachfolgende praxisgerechte, einseitige (bei Bedarf auf der Rückseite ergänzbare) Dokumentationsblatt entwickelt, auf dem der behandelnde Arzt sowohl für sich selbst als auch für Nachbehandler den Behandlungsverlauf unter jedem eingesetzten Antiepileptikum protokollieren und sicherstellen kann, dass Therapieversuche und ggfs. eine Pharmakoresistenz im Sinne der Neudefinition adäquat dokumentiert sind ([Abb. 1]).

Abb. 1 Dokumentationsblatt.

Literatur

  • 1 Gowers W R. Epilepsy and other Convulsive Diseases: Their Causes, Symptoms & Treatment. London; J. & A. Churchill 1881: 244
  • 2 Kwan P, Brodie M J. Early identification of refractory epilepsy.  N Engl J Med. 2000;  342 314-319
  • 3 Mohanraj R, Brodie M J. Diagnosing refractory epilepsy: response to sequential treatment schedules.  Eur J Neurol. 2006;  13 277-282
  • 4 Hitiris N, Mohanraj R, Norrie J. et al . Predictors of pharmacoresistant epilepsy.  Epilepsy Res. 2007;  75 192-196
  • 5 Oertzen J von, Urbach H, Jungbluth S. et al . Standard magnetic resonance imaging is inadequate for patients with refractory focal epilepsy.  J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2002;  73 643-647
  • 6 Elger C E, Beyenburg S, Dennig D. et al .Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter. In: Diener HC, Putzki N, Berlit P, et al (Kommission „Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie”), Hrsg Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 4. Auflage. Stuttgart, New York; Thieme 2008: 2-16 im Internet abrufbar unter http:// http://www.dgn.org/images/stories/dgn/leitlinien/LL2008/ll08kap_001.pdf
  • 7 Schiller Y, Najjar Y. Quantifying the response to antiepileptic drugs: effect of past treatment history.  Neurology. 2008;  70 54-65
  • 8 Ferrendelli J A. Relating pharmacology to clinical practice: the pharmacologic basis of rational polypharmacy.  Neurology. 1995;  45 12-16
  • 9 Homan R W, Leppik I E, Lothman E W. et al, eds .Rational Polypharmacy (Epilepsy Research, Suppl. 11). Amsterdam, Lausanne, New York et al; Elsevier 1996
  • 10 French J A, Faught E. Rational polytherapy.  Epilepsia. 2009;  50 (Suppl. 8) 63-68
  • 11 St Louis E K. Truly „rational” polytherapy: maximizing efficacy and minimizing drug interactions, drug load, and adverse effects.  Curr Neuropharmacol. 2009;  7 96-105
  • 12 Kwan P, Arzimanoglou A, Berg A T. et al . Definition of drug resistant epilepsy: Consensus proposal by the ad hoc Task Force of the ILAE Commission on Therapeutic Strategies.  Epilepsia. 2010;  51 1069-1077 , autorisierte deutsche Übersetzung (Krämer G). Definition der pharmakoresistenten Epilepsie: Konsensusvorschlag der ad hoc-Task Force der ILAE-Kommission für therapeutische Strategien. Akt Neurol 2010; 37: 372–381
  • 13 Luciano A L, Shorvon S D. Results of treatment changes in patients with apparently drug-resistant chronic epilepsy.  Ann Neurol. 2007;  62 375-381
  • 14 Callaghan B C, Anand K, Hesdorffer D. et al . Likelihood of seizure remission in an adult population with refractory epilepsy.  Ann Neurol. 2007;  62 382-389

Dr. med. Günter Krämer

Med. Direktor, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum

Bleulerstr. 60

8008 Zürich, Schweiz

Email: g.kraemer@swissepi.ch

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